POLITIK
<onsensuskonferenzen
Die große Menge verfügbaren Wissens versetzt den praktizierenden Arzt heute oft in die schwierige Situa- tion, die Bedeutung von widersprüch- lichen oder vorläufigen Ergebnissen für seine Vorgehensweise abschätzen zu müssen. Traditionell bieten Über- sichtsarbeiten in Fachzeitschriften, Fortbildungsveranstaltungen und wis- senschaftliche Kongresse eine gewich- tete Auswahl und Leitlinien für das praktische Vorgehen. Zunehmend wird jedoch auch auf das Instrument der sogenannten Konsensuskonferen- zen zurückgegriffen, bei denen Fach- leute eines Gebietes versuchen, den Stand der Forschung über ein kontro- verses Thema festzustellen. Ziel ist es dabei meist, allgemeingültige diagno- stische oder therapeutische Richtlini- en festzulegen. Das Bedürfnis nach klaren Regeln entsteht allerdings ge- rade in jenen Teilgebieten, in denen eindeutige oder richtungweisende em- pirische Ergebnisse noch ausstehen;
so zum Beispiel in der Therapie be- stimmter Tumoren, in den prognosti- schen Kriterien bei Intensivpatienten, in der Indikation für laparoskopische Eingriffe oder in den therapeutischen Strategien bei bestimmten psychiatri- schen Erkrankungen.
Politische, nicht
medizinische Tradition
Konsensuskonferenzen entstam- men der politischen, nicht der medizi- nischen Tradition. Auf diesem Wege gewonnene Richtlinien haben Kom- promißcharakter und erwecken oft den Eindruck einer „Regression zur Mitte" sowie des „kleinsten gemein- samen Nenners" aller beteiligten Meinungen. Mit anderen Worten:
Der in allen Bereichen der Medizin oft große Ermessensspielraum für er- fahrungsgeleitete Entscheidungen wird von routinierten Klinikern un-
DER KOMMENTAR
terschiedlich genutzt. Eine Einigung über diesen Bereich wird in aller Re- gel nur über ein niedriges Niveau der Kriterien und über eine hohe Inklusi- vität der Verfahren erreicht. Dies liegt gewiß nicht im Interesse einer effizi- enten Behandlung von Einzelfällen, mit denen wir ja im Klinikalltag zu tun haben. Keinesfalls sollte man sich da- zu verleiten lassen, einen aus Hunder- ten von Patienten herausgemittelten Durchschnittspatienten — der j a be- kanntlich in der Praxis nie anzutreffen ist — zu verallgemeinern.
Gewiß ist der Gedanken- und Er- fahrungsaustausch auch außerhalb der Foren der Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Kongresse nütz- lich und notwendig. Eine Konsensus- findung „um jeden Preis", bei der auf der Basis unsicherer oder aber diffe- renzierungsbedürftiger Ergebnisse einheitliche Regeln erzwungen wer- den, muß in Frage gestellt werden.
Nur vor diesem Hintergrund las- sen sich — um diese allgemeinen Aussa- gen an einem Beispiel zu erläutern — die einem Bericht über eine Konsen- suskonferenz zur Therapie depressiver Erkrankungen in der Allgemeinpra- xis (Müller N., Dt Ärztebl 1995; 92:
A-445-446 [Heft 9]) entnommenen un- differenzierten Feststellungen verste- hen wie: „Grundsätzlich verspricht die Bündelung pharmakotherapeutischer, psychotherapeutischer und psychoso- zialer Interventionsmaßnahmen (...) den größten Erfolg", die dem Gieß- kannenprinzip den Vorzug vor einer fallbezogenen Indikationsstellung zu geben scheinen. Ähnliches gilt für die Aussage, die stimmungsaufhellende Wirkung der Antidepressiva könne
„bis zu drei Wochen" dauern, und nach diesem Zeitraum könne bei „durch- schnittlicher Wirkdosis" bereits von Unwirksamkeit gesprochen werden.
Dies widerspricht der klinischen Er- fahrung und Studien (zum Beispiel Quitkin et al., 1984), nach denen bei 25
Prozent der Patienten, die nach vier Wochen noch keine Besserung zeigten, bei weitergeführter Therapie in der fünften bis achten Woche noch ein Therapieerfolg zu verzeichnen war.
Das heißt, die Konsensusrichtlinie ist zwar „meistens" und „im Gruppenmit- tel" richtig, ein Viertel der Patienten mit scheinbar therapieresistenter De- pression riskiert dadurch jedoch unnötigerweise, aufgrund vorzeitig ab- gebrochener Therapieversuche den Spontanverlauf der depressiven Phase durchstehen zu müssen — mit allen Fol- gen für das soziale Umfeld und dem Risiko eines Suizides. Die Empfehlung müßte daher sicherlich um die Bemer- kung erweitert werden, daß die Wirk- latenz in manchen Fällen sechs bis acht Wochen betragen kann. Eine andere Frage ist, ob diese komplizierteren Verläufe vom Allgemeinarzt über- haupt ambulant zu bewältigen sind.
Voreiliger Rückzug
Es darf daher die grundsätzliche Frage aufgeworfen werden, ob in manchen Fällen ein kompetitives Ne- beneinander differenzierter Hypo- thesen und Vorgehensweisen der Weiterentwicklung der medizinischen Erkenntnis nicht zuträglicher ist als der voreilige Rückzug auf unangreif- bare Minimalvarianten. In jedem Fall regen wir im Interesse einer individu- ell abstimmbaren Therapie und somit im Interesse unserer Patienten an, bei der Erstellung von therapeutischen Richtlinien — auch im Konsensusver- fahren — in ausreichender Weise die Streubreite der Einzelfälle und der Therapiestrategien zu berücksichti- gen. Andernfalls geht unweigerlich ein großer Teil des Erfahrungsschat- zes verloren. Dies hätte fatale Folgen für die vielen nicht-durchschnitt- lichen Patienten, deren Behandlung statt einer konsensusgeleiteten Ein- heitstherapie eine individuell abge- stimmte und erfahrungsgeleitete Vor- gehensweise erfordert.
Anschrift des Verfassers:
Priv.-Doz. Dr. med. Werner Strik Psychiatrische Klinik
der Universität Füchsleinstraße 15 97080 Würzburg
Einigung auf kleinsten gemeinsamen Nenner
Deutsches Ärzteblatt 92 , Heft 36, 8. September 1995 (29) A-2315