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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts: Tendenzen, Defizite, Illusionen

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tonio Hölscher

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts:

Tendenzen, Defizite, Illusionen'

I.

Wenn wirderantizipierten Zeitenwende tatsächlich so viel Gewicht beimessen wollen, sokönnen wir uns fragen: Soll es im 3. Jahrtausend noch Klassische Altertumswissenschaft geben? Wahrscheinlich sind vie­ le, und gerade die Jüngeren,diegut gemeinte, aber doch eher triefäugige Frage nach der‘Relevanz’ leid. Ich selbst würde weniger dramatisch fra­ gen: Wie interessant ist KlassischeAltertumswissenschaftheute noch?

Selbstverständlich will ich die Frage nur für die Archäologie stellen.

Abersiegehtdoch allean,diedie Öffentlichkeit von der Bedeutung des Altertums überzeugen (und damit ihrenUnterhaltbestreiten) wollen.

Wenn es um reine Zahlenginge, brauchte man sich kaum Sorgen zu machen. Archäologie hat einen relativ hohen Unterhaltungswert: Anti­

kenstätten gehen unterdem Massentourismus zugrunde, auch diere­

striktivsten Laufstege wirken kaumabschreckend; Antikenmuseen errei­ chenzumindestmit Sonderausstellungen respektableBesucherzahlen, in Berlin plant man für die Normalausstellung eine Rennstrecke zu den Highlights für eilige Touristen; aufwendige Bildbände zur Antike sind geschätzte Festgeschenke; und selbstan den Universitäten kann man zu

1 Ich bemühe mich in diesem Beitrag, das Fach der Klassischen Archäologie als Dis­

kurs der Forschung und nicht als Feld von einzelnen Arbeitsgebieten und Leistungen darzustellen. Dabei sind Selektionen und Wertungen unvermeidbar. Um daraus resul­

tierende Anstößigkeiten zu vermeiden, ist die Nennung von Namen auf die Geschichte des Faches und wenige alternative Positionen im Ausland beschränkt. - Eine aktuelle Bilanz des Faches wurde kürzlich auch anläßlich des 150jährigen Bestehens der Revue Archöologique gezogen: Revue Archeologique 1994, 2, S. 227-310, besonders die Beiträge von Filippo Coarelli und Paul Zänker.

Originalveröffentlichung in: Ernst-Richard Schwinge (Hrsg.), Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends n. Chr.. 6 Vorträge gehalten auf der Tagung der Mommsen-Gesellschaft 1995 in Marburg, Stuttgart; Leipzig 1995, S. 197-228

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archäologischen Vorträgenein Publikum zusammenbringen, aufdasan­ dere Fächer mit Neid schauen. Allein in Heidelberg sind über 200 Hauptfach- und500 Nebenfachstudenten eingeschrieben - Karteileichen inbegriffen, aberselbst die finden es offenbarchic,sichArchäologenzu nennen. Sicher kann man über Formen und Ziele der Vermittlung an breitere Kreise diskutieren, jedenfallsaber scheint Archäologie populär zu sein.Unddas schlägt sich auchinder politischen Geltung nieder: Das DeutscheArchäologischeInstitut, eingroßer Wissenschaftlicher Betrieb mit Zentrale in Berlin und 12 großenAbteilungenund Stationen im In- und Ausland, ist demAußenministerium unterstellt und erfüllt in den Gastländern, durchaus mit Erfolg, halb-diplomatische Funktionen.

Das istabernur die eineSeite. Zueiner Gegenrechnung gehörtetwa die Tatsache, daßfür eine große internationaleTagung über den Begriff des ‘Stils’,eine traditionelle Domäne des Faches, kein Klassischer Ar­

chäologe (übrigens auch kein Klassischer Philologe und kein Kunsthi­ storiker) zugezogen wurde2. Und daß in den großen Taschenbuchrei­ hen, in denen sich vorgeblich oder tatsächlich das intellektuelle Leben Deutschlands konzentriert, Klassische Archäologieso gut wie nicht ver­

treten ist. Das Fach erscheint als einvornehmerGolfplatzam Rand unse­ rergeistigenVerkehrszentren.

2 Hans U. Gumbrecht (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissen­

schaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986.

Wie interessant kann Archäologie also wirklich sein? Was hat das Fach getan bzw. unterlassen,um dengeistigenVerkehr zu verdichten?

Und was könnte es in Zukunft dafür tun? Meine Antwort wird nicht ganz so zufrieden sein wie die mancherNachbarwissenschaften, was nicht bedeutet,daß ich deren Zustandalsbesseransähe. Es ist aberviel­ leicht interessanter und auch fruchtbarer, offene Fragen und unbefrie­ digte Bedürfnisse zu benennen.

Klassische Archäologie als Disziplin hat einen vielfältigen Gegen­

stand. Sie umfaßt die gesamtekulturelle Lebenswelt, soweit siemateriel­

ler Natur und darum visuell erfahrbar ist: Die historische Umwelt, die

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 199 Siedlungen und Gräber, die Gegenstände des Lebensgebrauchs, die Bildwerke. (Nur das vornehmlicheThema derKlassischenArchäologie gab es in der Antikekaum: eigentliche ‘Kunst’). Die Vielfalt der Objekte undLebensbereichestellt den Reizund die Herausforderung des Faches dar: Sie sperrt sich gegeneinseitige Betrachtungsweisenund führt den Blickauf kulturelle Komplexität. Eine eingleisige Geschichte der archäo­ logischen Befunde und Objekte ist weniger leichtzu konstruieren als eine Geschichte der antiken Literatur.

Hinzu kommtein SpektrumvonZeugnissen, das grundsätzlich weiter ist als in anderen Kulturwissenschaften: Neben den ‘Denkmälern’, vor allem den Bildwerken, stehen die ‘Spuren’, bis hin zu Feldwegen und Essensresten. Die Grenzen zwischenden beiden Bereichen sind nicht streng zuziehen, aber der kategoriale Unterschied ist deutlich: am einen Ende derSkala kulturelle Konstrukte mit explizitenBotschaften an Mit- und Nachwelt, am anderen Ende Herstellungen und Hinterlassungen, die ihrenZweck in sich selbst haben undin denen kulturelle Strukturen zwar implizitenthalten, abernichtexplizit formuliert sind. Hier die re­

flektierten Konzepte der Lebensdeutung, dort die Zeugnisse der kulturel­ lenLebensbewältigung. Die Bildwerke wie auch diegesamte literarische Produktion gehören in den Bereich der ausgeprägten Selbstreflexion; es ist zugleich der Bereich der antiken Kultur, der an die Nachwelt gerichtet ist und darum durch den kulturellen Filter späterer Epochengegangen und nurso überliefert bzw. verloren ist. Die materielleLebenskultur da­ gegen ist weitgehend nur in archäologischen Zeugnissen greifbar, ihre Überlieferung ist weit weniger vonder wertenden Rezeption durch spä­ tere Epochen, sondern von vielerlei Umständenabhängig und kann ent­

sprechend durch zielgerichtete Grabungen vermehrt werden.

Die Archäologieder Bilder entspricht in vieler Hinsicht der Philologie der Texte. Andere große Bereiche der Archäologie haben keine so ge­

nauen Entsprechungen in den Textwissenschaften, die Fragestellungen und Methoden führen z.T.in ganz andere Richtung.Hier liegen Gründe für partielle Schwierigkeitender Verständigungzwischen den Fächern.

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Aber die Brüchegehen auchdurchdie Archäologieselbst. Es gibt vie­ le sehr verschiedene Archäologien,nicht nurdie der einzelnen Kulturen und Sachgebiete, sondern vor allem die der grundsätzlich unterschiedli­

chen Themen und Arbeitsweisen. Angelsächsische und französische Forschungen gehen in Fragestellungenund Methoden z.T. in so andere Richtungen als die Forschung der deutschen Tradition, daß man sich gegenseitig kaum mehr wahrnimmt. Ich gehe hier, notgedrungen, von einer deutschen Perspektive aus, nicht weil sie mir attraktiver scheint, sondern weil mir an ihrer Erweiterung besonders liegt. Ich bemühe mich,über diesen Blickwinkel hinauszuschauen, kann aber nicht leug­ nen, daßmir hiermanches Wichtige unbekannt geblieben seindürfte.

II.

Ein wichtiger Schritt wäre, die Antikenicht nur für sich selbst, son­ dernauch ‘vonaußen’ zu betrachten: einerseits von den nachfolgenden westlichen Kulturen, insbesondere von der eigenen Gegenwart her, an­

dererseits im Kontextder anderen Weltkulturen. Die Klassischen Alter­

tumswissenschaften sind aus ihrer Geschichteundihrem Selbstverständ­ nisnicht gut vorbereitet auf solche weiteren Horizonte, in denen letztlich der Vorrang des europäischenErbes insgesamt und seines Ursprungs, der ‘klassischen’ Antike, zurDispositionsteht.Das Grundproblem liegt schon darin,daß wirdiese Fragen ‘unteruns’, im geschlossenen Kreis der Altertumswissenschaftenstellen. Denn es ist eine Illusion zu meinen, daß mansich zwischen KlassischerPhilologie,Alter Geschichte,Klassi­

scher Archäologie, Epigraphik, Papyrologieusf. über wirkliche Grenzen von Fächernhinweg verständigt: ImKontakt miteinandersind wirnicht interdisziplinär, sondern bestellen einzelne Beete innerhalb desselben Schrebergartens.

Ein einigermaßen sicherer, inneuerer Zeitbreit ausgebauter und viel begangener Weg zur ‘Aktualität’ ist die Verfolgung dessen, was später ausderAntikegewordenist, bis in dieGegenwart. Zunächst dieWeiter­ benutzung und UmfunktionierungantikerArchitekturen und Bildwerke

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 201 in Mittelalter und Neuzeit, insbesondere die Geschichte der Antiken­

sammlungen. Sodann die Zeichnungunddas Studium antikerBau- und Bildwerke und die Rezeption antikerFormen undMotiveinder nachan­

tiken Kunst. Schließlich die Fortsetzung der Rezeption in der For­

schung,mit ihren mehr oder minder bedeutenden Vertretern undMetho­

den.

DieserWeg aus der Antikebiszur Gegenwart undwieder zurück ist als hermeneutische Voraussetzung aller Forschung unerläßlich. Er be­

deutet einerseits einePerspektive ‘von außen’ aufdie Antike; anderer­

seits könnte er das eigene Bewußtseindafür fördern,daß nicht nur die rezipierenden Epochen ihrejeweils eigenen Konzepte und Visionen mit deraktualisierten Antike zum Ausdruck brachten, sondern daß wirauch selbst als Forscher weniger unschuldig sind, als wirwohl oft glauben:

Auch heute noch hat die Option für Griechenland und Rom viel mit Identität zu tun,und sei es als unausgesprochener Rückzug in die ‘Fe­

stung Europa’.

Allerdings wäre es eine unglückliche Verengung dieser Perspektive

‘von außen’, wenn man sie grundsätzlich auf den diachronen Aspekt der Rezeption der Antike reduzierte: Dasbedeutet nicht nurIsolierung, son­ dern impliziert auch hierarchischeÜberordnungder europäisch-westli­ chen Kultur. Nicht nur ‘politicalcorrectness’, sondern dievitalen Fragen der heutigen Welt werden es in Zukunft nötig machen, die europäische Antike im Zusammenhang der Weltkulturen zu sehen,wennKlassische Altertumswissenschaften dasRechtauf einen Platz in der Gegenwart be­

haltenwollen.

Die diachronePerspektive der Rezeptionund Tradition enthältgrund­

sätzlicheinseitige Positionen, denen man sich nicht leicht entzieht. Sie betreffen sowohl das Verständnis der antiken Kultur selbst als auchdie Organisationder Wissenschaftvonder Antike.

DieBetrachtung vonRezeption und Tradition antiker Kultur tendiert naturgemäß dazu, Kontinuitäten und Affinitäten zwischenAntike und späteren Epochen in den Vordergrund zustellen. Damit wird leicht eine Verwandtschaft und Verständlichkeitsuggeriert, die denBlick eher ver­

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stellt. Die Perspektive ‘vonaußen’ wird imGegenteil immer dann am fruchtbarsten, wenn sie die kontrastiven Aspekte hervorhebt: wenn an Michelangelos und Lehmbrucks Körpern die unantiken Formen aufge­ zeigt werden.Dann aberwird man diePerspektive der Gegenwart nicht auf dieRezeption der Antike im engeren Sinn beschränken, sondern den systematischen Kulturvergleich suchen: Über griechische Skulpturen kann man nicht nur aus Kokoschkas Antikenzeichnungen, sondern ebenso viel, wenn nichtmehr, ausder rückhaltlos modernen Kunstvon Jasper Jones und Andy Warhol undvon Bildwerken ganz anderer Kul­

turen lernen.

In diesem Sinn wäre eine weite komparatistische Sicht derantiken Kulturanzustreben. Sie müßte interkulturellin dreifacherRichtung sein:

Zumeinen müßte sie densynchronen kulturellen Austausch derantiken Kulturen untereinander inden Blicknehmen: zumAlten Orient wie zu denumliegenden Kulturen Europas undAfrikas; zum zweiten die dia­

chrone Rezeption bis indie Neuzeit;zum drittendiesystematische,kom­

paratistischeSicht der antiken Kulturen im Rahmen einerimaginären Ge­ schichte der Weltkulturen, die die eurozentrischen Verengungen über­ windet.Esmüßteeine ‘Hermeneutik der Fremdheit’ entwickelt werden, diedie Antikeeinschließt. Erst unter dieser Voraussetzung könnten wir behaupten,einen Beitrag zuder heute dringend benötigteninterkulturel­

len Kompetenz zuleisten.

Fürdie Forschungselbst kanndie diachrone Perspektiveleicht zu pro­ blematischen Konsequenzen führen. Diachrone Ausrichtung ist an den Universitäten vielfach durchdieGliederung der Fakultäten institutionali­ siert, in denen Archäologie mit Kunstgeschichte, alte mitneuen Philolo­

gien, alte mit neuer Geschichte verbunden sind. Diese Verbindungen fin­ den nicht nur durch historische Kulturtraditionen, sondern auch durch methodische Systematik eine Rechtfertigung. Es werden Fächerzusam­ mengestellt, die den Umgangmit Texten, Bildern, archäologischen Be­ fundenoder historischen Kategoriengemeinsam haben. In anderen Län­

dernsindgar an Archäologischen Instituten alleFächer vereinigt, die mit Bodenfunden operieren, vonder Urgeschichte bis zur Industriearchäolo­

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 203 gie; und diese Archäologie kann wieder getrennt sein von der antiken Kunstgeschichte, die den Kunstwissenschaften zugewiesen wird. Hier herrscht allgemein ein Primat der Zeugnisgruppen undder Methoden ih­ rerBewältigung. Das kann zweifelloseinen hohen professionalisieren­ den und methodologisch stimulierenden Effekt haben. Aber esführtei­

nerseits leichtzu einerFraktionierung kultureller Zusammenhänge indie operationalen Sachkompetenzen einzelner Fächer: Vielegrundlegende Themen werden, insbesondere inder deutschen Forschung,kaum mehr wahrgenommen und erforscht, weil sie nicht mit einer Gruppe oder

‘Gattung’ von Zeugnissen zusammenfallen und dahernicht derGliede­

rung der Wissenschaft entsprechen. Dabei vergißtman dann leicht, daß die Themen und Fragentrotzdem existieren. Andererseits bilden die ge­

meinsamen Arbeitsweisen in den historischen Wissenschaften meist eine recht abstrakte Verbindung, die sich leicht in einemgemeinsamen Jargon erschöpft - wenn nicht sehr ernsthafte methodologische Diskurse ge­

führt werden, wasin der deutschen Archäologie zumindest nicht allge­ mein auf der Tagesordnung steht. Beide Entwicklungen tendieren zuei­

ner selbstgenügsamen ‘Forschung für Forscher’, die sich oft weit von den Interessen des breiterenPublikums entfernt. Es wäre viel gewon­

nen, wenn Einigkeit darüber erreicht würde, daß einerseits hohe An­

strengungen nötig sind, um die theoretische Kompetenz unserer For­

schung zu steigern,daßes aber letzten Endes nicht um Zeugnisse, um Texte, Bilder, Bodenfunde und ihre Bewältigung durch die Forscher, sondern um historische Menschen, ihre Lebenswelt und Erfahrungen geht.

Eine Geschichte der archäologischen Forschungen, die die Interdepen­

denz von gegenwärtigen Lebenserfahrungen, theoretischen Konzepten undhistorischerSachforschung zumThemamachte, ist erst in wenigen Ansätzen sichtbar. Die Selbstgenügsamkeit der professionalisierten For­ schung führt vielmehrzunehmendzu einer seltsamen Konzentration der Betrachtung auf einzelne Personen. Gewiß ist es sinnvoll, Energien auf die Bedeutung Winckelmanns zu richten,der nicht nur vonden Archäo­

logenals ihrArcheget gefeiert, sondern auch ineinemallgemeinen gei­

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stesgeschichtlichen Rahmen als ein Bahnbrecher der modernen Ge­

schichtsauffassung gelten kann. IndiesemSinn wird es auch lehrreich sein, wenngegenwärtig eineDatenbank über den Stand der Kenntnis an­ tikerKunstwerke zur Zeit Winckelmanns geplant wird. Aber man sollte auch klar sehen, daß die große Zahlder Fachvertreter, in ihrer Zeit be­ trachtet, uns selbst eingeschlossen, kleine Nummernvon sehr begrenzter Bedeutung sind und daß ihre wissenschaftlichen Grundvorstellungen deutlichabgeleiteten Charakter haben. DieBeschäftigung mit Einstellun­ genund Methoden frühererForscher ist gewißeine notwendigePflicht zur Bestimmungund Relativierung der fremden wie der eigenenStand­ punkte - aber wenn wir schon nicht selbst kreativ tätig sind, sondern uns nur sekundär mit den Kreationen anderer Kulturen beschäftigen, sollten wir nicht noch die tertiäre Untersuchungjener sekundären Be­ schäftigungen allzu stark zum Themamachen.Der Verdacht ist ja nicht ganz von derHand zuweisen, daß das Interesse an früheren Forschem unbewußt vonder Hoffnunggeleitet ist, selbst einmal Gegenstand eines solchen Interesses zu werden undsoin die Geschichte einzugehen. Dies ist ein geschlossener Kreis von Wertschätzungeninnerhalb der Zunft, der außerhalbkaum Gegenliebe findet. Unser Publikum interessiert sich nicht für Forscher und Forschung,sondern für deren Gegenstände.

Um so wichtiger sind neuere Untersuchungen über die allgemeinen leitenden Konzepte der Archäologie seit der frühen Neuzeit und ihre Rolleinder jeweiligen Gegenwart. Wenn wir die Vergangenheitunserer Wissenschaft nicht begreifen, werden wir auch selbst ziellos durch die Gegenwart tappen.Insbesondere ausden angelsächsischenLändern und aus Frankreich, wo eine interkulturelle Sicht ‘von außen’ näher liegt, kommen kritische Untersuchungen und Urteile zurGeschichte derFor­

schung, die z.T. einseitig und sogar verzerrend sein mögen, die aber herausfordernd und stimulierend sindund auch von denen, die es besser zu wissen meinen, nichtüberhört werden sollten3.

3 Martin Bernal, Black Athena. The afroasiatic roots of classical civilization. Vol. I:

The fabrication of ancient Greece 1785-1985, New Brunswick/New Jersey 1987;

Alain Schnapp, La conquete du passe. Aux origines de Tarchdologie, Paris 1993; Ian

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 205 Die Wissenschaft vonder Antike als solcher wird abernur dannüber­

stehen, wenn die Antikeselbst, d.h. ihrgesellschaftlicher undkultureller Lebenszusammenhang ihr hauptsächlicher Gegenstand bleibt. Das be­

deutet allgemein eine Priorität der Synchronie vor der Diachronie, und darüber hinaus die Einbindung in eine komparative Systematik. Der wichtigste Schritt in dieser Richtung, derin voller Konsequenz erst in letzter Zeit getan wurde,ist die Erforschung von historischen Kontexten materieller und ideellerArt. Dieser Schrittist aber inseiner Tragweite, mit Gewinn undVerlust,erst vor dem Hintergrund der Situation davor zu beurteilen.

III.

DieGeschichte der Klassischen Archäologie ist sehrwesentlich eine Geschichte idealistischer Konzepte und Illusionen, scheinbarer Befrei­

ungen aus undunbewußter Selbstbeschränkungen in den selbstgesetzten Normen. Winckelmanns kulturelleHierarchien, der Vorrang der klassi­ schen Antike gegenüber anderenKulturenundder griechischen Klassik gegenüberanderen Epochen, hätten im Historismus des 19. Jahrhun­

derts relativiert werden sollen - und doch blieben die klassischenMaß­

stäbe unterschwellig in Geltung. Ähnliches wiederholte sich mehrfach im 20.Jahrhundert. Angesichts weitreichender gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen drohen solche Positionenheute zu einer Hal­

tung der Abschottung und Defensive auf einem immerkleinerenTerrain gegenüber den weiten anthropologischen Herausforderungen der Ge­ genwart zu werden.

Die Klassische Archäologie hat ihre entscheidende Prägung für den größten Teildes 20.Jahrhunderts ineiner umfassenden Neuorientierung erhalten, die kurz vor 1900 von den Wiener Kunsthistorikern Franz Wickhoff und Alois Riegl ausging und dann stark von HeinrichWölfflin bestimmt wurde.Sie fand seit den 20er Jahren eine radikaleZuspitzung

Morris (Hrsg.), Classical Greece: ancient histories and modern archaeologies, Cam­

bridge 1994, 8-47.

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einerseits in der ‘Strukturforschung’ von Guido Kaschnitz v.Weinberg, Ranuccio Bianchi Bandinelli, Gerhard Krahmer, Friedrich Matz und BernhardSchweitzer, andererseits inder intuitiven, dem Kreis um Ste­

fan George nahestehenden Betrachtungsweise von Emst Buschorund seiner einflußreichen Schule. Es war, nach den z.T. gewaltigen Materi­ alprojekten des Historismus, einebedingungslose Wendung zur antiken Kunst, in Bildwerken und Architektur, die entschieden als eigenwüchsi­ ger Bereich formal-geistiger Schöpferkraft, mit eigenen Gesetzenund Kategorien konzipiertwurde. Die traditionellenWertungen wurdenau­

ßer Kraft gesetzt: Neben der griechischen wurde die römische Kunst, neben den klassischen Epochen die Spätantike, neben der griechischen Klassik die Archaikundder Hellenismus,neben der großenBildkunst das Kunsthandwerk und das Ornament ‘entdeckt’. Grundstrukturen des Formens und zugleich des Denkens vonganzenEpochen und Kulturen wurden ausgelotet: Archaik versusKlassikundHellenismus, Griechen­

land versus Rom, Antike versus Mittelalter und Neuzeit. Große Ent­

wicklungsbögen wurden durch die Jahrhunderte gezogen, die auf kei­

nem anderen Sektor des geschichtlichen Lebens so rein erschienenwie inder Bildenden Kunst. Parallel dazu wurde der Charakter von Kunst­ landschaften als gewissermaßennaturwüchsige Physiognomie vonLand und Menschen beschrieben. Der Stil der Wissenschaft war stark von charismatischenDeutern geprägt, nicht nur an den Universitäten, son­ dern auch in dengroßenGrabungen, die zu Kultstätten für die Heroen dieser Generation wurden: Ernst Buschor in Samos, Emil Kunze in Olympia.

In manchen dieser Ansätze, besonders bei Wickhoff, Riegl und Kaschnitz, hatten Chancen füreinen weltoffenen Kulturvergleich gele­ gen. Letzten Endes aber waren diese Impulse wohl zu exklusiv und theoretisch, reichten jedenfalls nicht für eine allgemeine Öffnung aus, undmitdem DrittenHumanismus behielten dieKräfte der idealistischen Bewahrung wieder die Oberhand.

Eine bedeutende Leistung dieser Epoche war ihre Integrationskraft:

Selbst Teilwissenschaftenwie Epigraphik und Numismatik beteiligten

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 207 sich an der ästhetisch-ethischenVision der Antike. Aufs Ganzegesehen liegt hieraberwohl der entscheidendePunkt, an demdie Klassische Ar­

chäologie, und nicht nur sie, eineernsthafte Wahrnehmungder verän­

derten Gegenwartnach dem 1. Weltkrieg versäumte.

Wie weit diese wirklichkeitsfernen Richtungen in Deutschland implizit dieNazizeitvorbereitet haben,kann hiernicht untersucht werden. Jeden­ falls hatdie politische Katastrophe keinenwesentlichen GrundzumUm­ denken bedeutet, und auch diemeistenFachvertreter überstanden sieei­

nigermaßen unbeschadet. Nur der Schwung der großen Konzepte schwand mehr undmehr.

Nach dem2. Weltkriegwar KlassischeArchäologie hinterblieben als ein Konglomeratvon verschiedenen isolierten Kompetenzen: Stilanaly­ se, Ikonographie, Realienkunde und Feldforschung; und von Kenner­

schaft in einzelnen Gattungen: Plastik, Vasen, Architektur. Ander Spitze der wissenschaftlichen Werteskala stand nachwie vordie künstlerische Form. Aber sie verlor allmählich ihre verbindende Kraft als Klammer zwischen den verschiedenen Teilbereichen.

Dashatte, jedenfalls inDeutschland,zunächst beträchtlicheFolgen für diePräsenz der ArchäologieindenwissenschaftlichenInstitutionen. Die Vertreterder älteren Generation, die mit ihren umfassenden Konzepten vielfach in den verschiedensten Bereichen des Faches eine gewisse Kompetenz besaßen, wurden von Nachfolgern mit engeren Spezial- Kompetenzenabgelöst. Unter diesenaber wurden von den Universitäten mit ihrenKlein-Instituten bevorzugt solche Fachvertreter gewählt, die

‘zentrale’ Bereiche desFaches beherrschten. Eskamzu einer Hierarchie von Arbeitsgebieten und Themen, die einerHierarchie der akademischen Positionen entsprach- und es wäre eine Untersuchung wert, wie weit sie zeitweise mit der Hierarchie vonMännern und Frauen zusammenfiel, die das Fach stark bestimmt.Jedenfalls starben in dieser Situationeine Reihe von Bereichen derForschung in Deutschland weitgehend ab, die international seither in einer eindrucksvollen Entwicklung begriffen sind:

Minoischeund mykenische Archäologie ist heutein Deutschland mitei­

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nereinzigen festen Universitäts-Professursowie einem Akademie-Pro­ jekt eingerichtet,Etruskologie nur mit einer Universitäts-Professur,Nu­

mismatik mit einer Professur undzweiMitarbeiter-Stellen an Universitä­

ten,im übrigen an Münzkabinetten. Das schränkt die Möglichkeiten auf diesenGebietenim internationalen Vergleich stark ein.

Aber auch innerhalb der etabliertenFachgebietehatdieFraktionierung ihre Folgen. Sie werden besonders deutlich an der Bauforschung, die vor allem in Deutschland schon lange zuvor von der allgemeinen Ar­ chäologieweitgehend an die TechnischenUniversitäten und Hochschu­ len entlassen worden war. Dort entwickelte sie eineeigene Dynamik mit hoherKompetenz intechnischen und ästhetischen Fragen, die in virtuo­

sen Einzelleistungen architektonischer Analyse gipfelte: Jeder Bau ein hochkomplexes Individuum, BauaufnahmeeinePorträtierungder Archi­

tektur bis hin zum einzelnen Stein. Der Preis war, daß die Architektur aus dem Zusammenhang derAltertumswissenschaftenherausgelöst und von Archäologen vielfach nur noch am Rand beachtet wurde. Welcher Schaden das für beide Seiten war - immerhin ist die Architektur tra­ ditionell die ‘Königinder Künste’, sind Städte die Grundlage der antiken Kultur und das zentrale Objekt archäologischer Ausgrabungen -, braucht kaum betont zu werden. Gegenpositionen blieben vereinzelt. Ein hoff­ nungsvoller Schritt wurde erst kürzlich inBerlingetan, wo die Baufor­

schungmit einerProfessuran der Universitätetabliert wurde.

Eine Sonderentwicklung innerhalb des Faches hat etwadie Vasenfor­ schung unter dem Einfluß von SirJohn D. Beazley vollzogen. Seine große Leistung, dieKlassifizierung der Keramiknach Malern und Werk­ stätten, beruhtals Konzept und Methode auf Prämissen des 19. Jahrhun­

derts, wodie Erforschung individueller Künstlerim Zentrum desInter­

esses gestanden hatte. BeiBeazleymündete diese Bemühungschließlich in monumentaleListen, die dann nur nochdie Voraussetzungzur weite­ ren Perfektionierung ihrer selbst bildeten - oder als bibliographisches Telephonbuch benutzt wurden. Der Gewinn an Einsichtenin die Struk­

tur der Werkstätten bliebbegrenzt im Verhältniszu dem gigantischen Ausmaß desUnternehmens. Diegrundsätzliche Frageaber, wieweit es

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 209 überhaupt sinnvoll sei, dieVasen unter dem Gesichtspunkt individuellen Künstlertums zu betrachten, wurde kaum gestellt: Bis heute wurde keine Monographie vorgelegt,in der ein Vasenmalerals individuelle Persön­ lichkeitim Sinneeines reflektierten Begriffs vom ‘Künstler’ dargestellt würde. Die Kehrseite dieserEntwicklung besteht aber darin, daß mit der Monopolisierungder Frage nach den ‘Meistern’ die unendlich reichen kulturgeschichtlichen Aspektedergriechischen Vasen und ihrer Bilder für zwei Generationen weitgehend an den Rand der Forschung abge­ drängt wurden.

Inder römischen Archäologie wurden vor allem die Bereiche der deut­ schen Provinzen aus dem Fach ausgegrenzt und derVor- und Frühge­

schichte überantwortet. Darin war Deutschland, mit seiner Präokkupa­

tion durch die hohe Kunst dergriechischen Klassik, besonders radikal:

In anderen Ländern ist die ‘Archäologieder römischen Provinzen’ ein Feldmit weitem,multikulturellem Horizont, und natürlich einfester Be­

standteil der Archäologie des Römischen Reiches.DerSchaden hierzu­ lande ist beiderseitig:Der Klassischen Archäologie geht der nächsteund für die Ausbildungder Studierenden anschaulichste Teildes Faches ver­

loren, und die ‘Provinzialrömische Archäologie’ verliertleicht den Zu­ sammenhang mit der römischenReichskultur aus den Augen. Ein Schritt der Zusammenführung ist kürzlichin Kölngemacht worden.

Das vornehmste Thema des Faches blieb die Skulptur. Hier waren die großen Konzepteder formalen Strukturenund der Stilgeschichte entwic­ kelt worden, die dann das Fach als ganzes bestimmten. Man war be­

müht, einzelne ‘Werke’ zu ‘würdigen’, ‘Künstler’ zu erkennen und

‘Stilentwicklungen’ zu verfolgen. Erst langsam verbreitete sichdie Ein­

sicht, daßallediese Bestrebungen zu Positionen und Ergebnissen führ­ ten, die ineinemluftleeren Kunst-Raum nur noch an ihren eigenen Prä­ missenanstießen.

Als besonders selbstgenügsam erwies sich die Stil-Geschichte. Sie lief aufein großes System von Stilepochen hinaus, dieeinander über Jahr­ hunderte ablösten,in der naturhaften Folge von Anfang, Höhepunkt und Ausklang, im Wechsel von klassischen und barocken Phasen. Eine

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grundsätzliche Kritikdieses Modells, seiner Leistungen und Probleme, hat in der Klassischen Archäologie noch kaum stattgefunden. Zu den problematischen Folgelasten gehörtjedenfalls,daß die kunstgeschichtli­

chen Entwicklungen, zumal wenn sie in Analogie zu biologischenPro­

zessen begriffen wurden, eine Autonomie gewannen, die sie von den übrigen Sektoren der Geschichte nahezu unabhängig erscheinen ließ. Es entstand der Schein einer Geschichte von Grund-Strukturen, neben denen die Lebenswelt, Kriege und soziale Veränderungen, wie flüchtige Arabesken wirkten. Mit den historischen Menschen hatte dasmeistwe­ nigzutun.

Dabei istes auffällig, wieweitgehendim Lauf der Zeit dasBedürfnis nachließ, die eigenen wissenschaftlichen Grundkategorien zu reflektie­

ren. Die Generation der ‘Strukturforscher’ hatte seit den 20er Jahrenri­ gorose theoretische Systeme der Formanalyse entwickelt; doch nachdem Krieg kameine Diskussion überMethoden und Kategorien kaum mehr auf. Bei der ‘Würdigung’ von Werken fragte man nicht, ob die zugrunde gelegte Vorstellung von ‘Werk’ für die Antike galt; undder Begriffder

‘Entwicklung’ mit seinenweitreichendenFolgen ist nach einem einzigen Versuchbis heute kein Gegenstand breiterer Auseinandersetzungen ge­

worden. Bezeichnend ist, daß in der Neubearbeitung des Handbuchs über ‘Grundlagen der Archäologie’ von 1970 einBeitrag von Bernhard Schweitzer über‘DasProblem der Form in der Kunst desAltertums’ aus der 1.Auflage von 1939 wieder abgedruckt werden konnte-tatsächlich hatte seither kein weiterführender Diskurs stattgefunden.

Eine beträchtliche Rolle in dieser Situation spielte wohl Emst Buschor, dessen große formgeschichtlichen Gebäude bewußt auf theore­

tische Fundierungverzichteten. Sobaldbei seinen Nachfolgern die große Schau an Kraftoder Faszination verlor, zerfiel das Panorama in seine Einzelteile. Die alten Begriffe der Stilgeschichte werdenseither vielfach als eine Art gesunkenes Kulturgut weitergetragen. Siedienen noch zu Etikettierungen nach dem Muster ‘ostionisch, um 520 v. Chr.’. Viele Museen bieten demBesuchernochheute kaum mehrals solche Bruch­ stücke vergangenerKonzepte.

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 211 In diesemUmfeld konnten dietraditionellen Unternehmen der archäo­ logischen Grundlagenforschungnachdem 2. Weltkrieg weitgehend un­ angefochtenwieder zum Lebenerwecktundz.T. stark erweitert werden.

Zum großen Teil werdensie von der machtvollenInstitution des Deut­

schenArchäologischen Instituts getragen,vielfach mitstarker Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, daneben auch von Aka­

demien und Universitäten. Das Bild der deutschenArchäologie ist inter­

national stark vondiesen langfristigen Projekten geprägt.

Die großen Grabungen in deutscherHand sind oft stark vonden spe­ zifisch lokalenSachfragenbestimmt, die gewöhnlich ineiner alten Kon­ tinuität stehen. Der Versucheiner übergreifenden neuen Fragestellung wurde in den 70er Jahren unter dem Motto der ‘Stadtforschung’ unter­

nommen; dabei zeigte sich aber auch, wie schwierig es ist, Unterneh­

mungen mit je eigenen Traditionslasten und Sachzwängen aufgemein­ same Perspektiven einzustellen. Unter denneuerenProjekten der Feld­

forschung im Bereich der Klassischen Archäologie sind starke und fruchtbare neue Schwerpunktevorallem in Unteritalien und Sizilien, im punischen,numidischen und römischen Nordafrika sowie im römischen undspätantiken Syriengeschaffenworden. Die Methoden der Ausgra­ bung undFeldforschunghabenzuletzt in Milet einen hohen modernen Standard erreicht.

Die traditionellen,langfristig angelegten Corpora und Lexikasichern der deutschen Forschung- und nicht zuletzt derdeutschen Sprache!4 - z.T. alsreine Grundlagenarbeit ihren Platz im internationalenKontext.

Dabei können hohe Leistungen, positive Nebeneffekte und implizite Probleme dicht beieinander liegen. DasCorpus der minoischenund my- kenischen Siegel und das CorpusVasorumAntiquorum, beide vonan­

erkannt hohem Standard, sindbzw. warenin Deutschland zeitweise Orte des ÜberlebensganzerForschungsfelder; dasebensoerfolgreiche Cor­

pus der antiken Sarkophagreliefs hat Forscher aus vielen Ländern auf ein

4 Vielleicht ist ‘Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft’

heute die beste Garantie dafür, daß Deutsch als Wissenschaftssprache noch einige Zeit überleben kann.

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gemeinsames Ziel vereinigt; und das neueLexicon Iconographicum My- thologiae Classicae hat mit derinstitutionellen Integration von über 40 Nationen zum erstenMal eine effektive internationale Struktur archäolo­ gischer Forschung geschaffen. Auf der anderen Seite können solche Großprojekteeine Selbstläufigkeit und eine Monopolstellungannehmen, durch diealle Kräfte in der Grundlagenarbeitabsorbiertwerden und die Funktionfürsich verändernde Fragestellungenleichtaus dem Blick ge­

rät: Die Projekte finden ihre Rechtfertigung in der antizipierten ‘Nützlich­

keit’ -müssen darum aber immer wiederan ihrem tatsächlichen ‘Nut­

zen’ gemessenund aufdie Erfordernisse der ‘Benutzer’ eingestelltwer­

den. Keine Dokumentation ist ja ‘objektiv’, jede Klassifizierung ent­

springt Optionen für bestimmte Fragen und Betrachtungsweisen und präjudiziert die weitere Forschung: Grundlagen bedürfender Reflexion, welcher Grund gelegt werdensoll.

Die stärkste Wirkungnach außen geht von den Museen aus, die sich erfolgreich,wenn auch in jeweils verschiedener Weise, auf die veränder­

ten Anforderungen an Öffentlichkeitsarbeit eingestellt haben. NeueAuf­

gaben sind ihnen durch die großen Sonderausstellungen zugewachsen, in Berlin etwa ‘KaiserAugustus und die verlorene Republik’, in Mün­ chen ‘Kunstder Schale - Kultur des Trinkens’, in Bonn ‘Das Wrack’

(vonMahdia); wobei jeweils die Erarbeitungeines übergreifenden Kon­ zepts und die Zusammenführung eines meist internationalen Teams einen starken wissenschaftlichen Impulsbedeutete. Darüber solltenfreilichbe­

denkliche Aspekte nicht übersehenwerden: Schon derTransport vieler Stücke impliziertRisiken und führt immer wieder zu Schäden, vordenen die Restauratoren ungehört warnen, aber die öffentlichkeits-bewußten Politiker dieAugen verschließen. Die wissenschaftlichen Vorbereitungen münden gewöhnlich in voluminöse Kataloge, die denVerantwortlichen als Forschergroßes Renommee einbringen, für die Besucheraber vom Gewichtund vom Aufwand desLesens her schwer brauchbar und nur alsAusweis von Bildung dienlich sind. Nicht zuletzt drängen die Son­

derausstellungen imBewußtseinder Bevölkerung die normalen Bestän­

de derMuseen stark in den Hintergrund; dadurch wird bei den Besu-

(17)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 213 ehern die Haltung des Konsumenten eines fertigen Konzepts gefördert, während die Fähigkeiten dereigenständigen Selektion und des kontra­

stierenden Vergleichensunterden vielfältigen Objekten des Museums sowie des Verbindens mit ähnlichen Objekten anderer Museen,d.h. die Bildungeines aktivenBildgedächtnisses, eherverkümmert.

Als neue Institution der archäologischen Wissenschaften inDeutsch­

land wurde 1970 der Deutsche Archäologen-Verband gegründet. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt auf den vielfältigen, sich rasch än­ dernden Fragen der archäologischen Berufe undder Rolle des Faches in der Öffentlichkeit, die im Deutschen ArchäologischenInstitut kein reprä­ sentatives Forum der Diskussion finden. Hier besteht in der Tat ein dringender Bedarf, denn das Fehlen von beruflichen Perspektiven für den wissenschaftlichenNachwuchsliegt als ein Grauschleier über dem ganzen Fach und verhindert die Entstehung einer Atmosphäre von Zu­ versicht und Risikobereitschaft, die für innovative Impulse unerläßlich ist.Die Stärke des Verbandes liegt in derIntegration der jüngeren Wis­

senschaftler undStudenten,einesder Probleme inder nurpartiellen Ak­

tivität der Fachvertreterin leitenden Stellungen. Erst die bedrängende Entwicklungder Rahmenbedingungen für die Ausbildunghat in jüngster Zeiteine breitere Beteiligungauch der Professoren bewirkt, hoffentlich aufeinige Dauer.

Der wohl wichtigsteSchritt der Jahrzehnte nachdem 2. Weltkrieg be­ standzunächst darin, daß die Klassische Archäologie unterder brüchig gewordenen Decke der Stilforschung wieder stärker als Wissenschaft der antiken Kultur insgesamt aufgefaßt und dadurch näher an die be­ nachbarten Altertumswissenschaften herangeführt wurde. Insbesondere ein neues Interesse für die Themen derBildkunst, unabhängigvon der künstlerischenQualität, d.h. für Ikonographie, hat das Fachbelebt und vorallemfür Mythologie,Religion und Sachkulturreiche neue Quellen erschlossen.

Vielfach konnte man dabei an die hermeneutischen Positionen des späten 19. Jahrhunderts anschließen. Allerdings traten diese Ansätze,

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aus einem verständlichen Überdruß und Abscheu gegen ideologische Vereinnahmung, zumeist mit einer unprogrammatischen Askese auf, die denwissenschaftlichen Habitus dieserJahrzehnte vielfach prägte. Das hatte zurFolge,daß Perspektiven von weiterreichendem kulturwissen­ schaftlichem und theoretisch begründetem Anspruch, mit Bezug zu den Erfahrungen und Fragen der Gegenwart, weniggefragt waren. An die­

sem Punkt setzten neue Tendenzenan.

IV.

Diekritische Revue der Ausgangslage kanngewiß nicht denSinn ha­

ben, eine Kulisse für den gloriosen Auftritt einer neuenGenerationab­

zugeben. Die Schwächen der Gegenwart sind zweifellos nicht geringer - nur sind wir ihnen gegenüber wohl noch weitgehend blind. Wirkönnen wohl - wenn wir es denn wollen - wahrnehmen, welche Defizite die neuen Ansätze im Vergleich zu der Situation davor mit sich bringen.

Aber wir werden kaum erkennen,welche impliziten Verkürzungen und Blindheiten wir auf unseren Positionen in Kauf nehmen. Gebunden an den eigenen Standpunkt, werden wir zunächst nur dessen Perspektiven und Intentionen darstellenkönnen. Eigene Kritik wird nur einenTeil der Probleme treffen, den größeren Teil wird die nächste Generation nach­ tragen.

Die Situationder letzten zwei bisdrei Jahrzehnte ist von neuen Frage­ stellungen mitz.T. stark divergierenden Tendenzen geprägt. In Deutsch­ land hat die Entwicklung sich eher harmonisch vollzogen, was für die Atmosphäre sicher angenehm, für die Sache aber nicht nur förderlich war: Eine allgemeine ZurückhaltunginFragen theoretischer und metho­

discher Grundsätze und eine Scheu vorexpliziten Auseinandersetzungen hat dazu geführt, daßneue Ansätze z.T.nicht konsequent genug geklärt wurden, kein scharfes Profil gewannen und darum nichtzur Stellung­ nahme zwangen. Das ist in Italien, Frankreich und den angelsächsischen Ländern, wiewir sehen werden, andersgewesen.

(19)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 215 Wenn man die folgenreichsten Bestrebungender letzten Jahrzehnte auf einen Nenner bringen will, sogeht es darum, aus und mit denarchäolo­ gischen Zeugnissen größere Lebenszusammenhänge zu rekonstruieren.

DerBegriff einer historischen ‘Anthropologie’, der als leitende Vision dienen könnte, steht inzwischenwohl inGefahr,zu einer Leerformel zu verkommen. Aber wenn er wenigstens dazu führte, nicht nur nach Zeugnissen, Texten, Gattungen und ihrer professionellen Bewältigung, sondern letztlich nach Menschen und Gesellschaften zu fragen, dann würde unsere Sachezumindest an Vitalität gewinnen.

Die KlassischeArchäologiehat den Weg zurück in den Raumdesge­

schichtlichen Lebensauf verschiedenen Wegen und in mehreren Etappen zu finden versucht. Die folgende Darstellung geht von der Bildkunst aus, die schon bisher im Zentrum des Interesses gestanden hatte, und führtdann inandere Bereiche,ohne daß darin immereine zeitliche‘Ent­ wicklung’ der Forschungzusehen wäre.

Ein erster Schritt, der geleitet warvon der Aufbruchsstimmung seit der Mitteder60er Jahre, führte indiePolitik. In Italien wurden imKreis von Ranuccio BianchiBandinelli römische Denkmäler kompromißlosin den Kontext derGeschichte gestellt, in den ‘Dialoghi di Archeologia’ wurde prononciertzu den heißen Fragen derKultur- undUniversitäts­

politik Stellung genommen. Aus dieser Sicht wurde etwa die Stadtge­

schichte undBaupolitik desrepublikanischen Rom als ein dramatisches Geschehen politischer Kämpfe und Antagonismen begriffen. In Deutschlandgewann eine ‘Ikonologie’ und eine Interpretation vonAr­

chitektur Bedeutung, die sich in erster Linie nicht mehr mit Stilfragen, auch nicht nur mit ikonographischer Sacherklärung, sondern mit den weiterreichenden konnotiertenBedeutungender Bilder undarchitektoni­

schenAnlagenbeschäftigte, die etwa diePorträts der Herrscher,die gro­ ßenStaatsdenkmäler und Repräsentationsbauten aufihre ideologischen Botschaftenhin untersuchte. Vielfachwurdendabei Bilderund Bauwer­ ke als übergreifendeWirkungskomplexe anschaulich, etwa die Akropo­

lis von Athen, die Burg von Pergamon, die römischen Fora, aber auch

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einzelne Typen repräsentativerBautenwie Tempel des Herrscherkults, Theater undThermen, Vereinslokale und öffentliche Prachtlatrinen. Im Vordergrundstanden zunächstdie Auftraggeber der Monumente und ih­

re politischenZiele. Inweiteren Schritten stellte man allgemeinere Fra­ genüber Grundauffassungen vonPolitik, Geschichte und die Rolle der Staatsmänner und Herrscher im Rahmender Gemeinschaft, wie sie in Bildern undBauwerken zum Ausdruck kommen.Das lenkteschließlich den Blick aufdas angesprochene Publikum, die Denkmälerwurden als Faktoren in einemkommunikativen Prozeß der politischen Machtbe­

gründung begriffen. Die ‘Macht der Bilder’ wurdedamitals einwissen­ schaftliches Potential erschlossen,fürdas keine andereQuellengattung eintreten kann.

Damit war allerdings zunächst nur ein sehr partieller Bereichder ar­

chäologischen Überlieferung erschlossen, der größte Teil der Befunde und Funde führt nicht in denBereich der Politik. Der Gesichtskreis wur­

de daher bald erweitert: auf die Bilder einzelner Gruppen der Gesell­ schaft,etwa dieDarstellung von Sklavenund sozial niederenSchichten wieLandleuten und Fischern inder griechischen Kunst, oder die Reprä­

sentationvon Gruppender römischen Gesellschaft, etwa der städtischen Beamten undWürdenträgeroder der reich gewordenen Freigelassenen.

Ferner auf diekulturelleLebenswelt der gesellschaftlichen Gruppen, vor allem dervermögenderen Schichten, die in markanten Zeugnissen zu fassen sind: auf die Wohnhäuser der griechischen Poleis mit ihren Stan­

dards in klassischer Zeitund ihrer Differenzierung im Hellenismus, auf die römischen Häuser,Villen und Gärten und ihre reiche Ausstattung mit Bildwerken und Luxusobjekten,die den römischen Wohnsitzen eine äs­

thetisch-sakrale und gebildeteAuravermittelten, und aufdie Nekropolen mit ihrer differenzierten sozialen Stratigraphie.

Schließlichkann die AusweitungikonologischerStudien über diebild­ liche Ausstattung der Lebenswelt zu weitreichenden Einsichten in die Mentalitätsgeschichteführen.BildlicheZeugnisse haben gegenüberlite­ rarischen Werken sichereinige Nachteile, vor allem den der weniger ex­

pliziten Semantik,aber jedenfalls zwei große Vorzüge: Sie sindzumeist

(21)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 217 nichthochreflektierteSchöpfungen einzelner Individuen, sondern Zeug­ nisse kollektiver Lebenskultur, also gesellschaftlicher Standards. Und sie sind zumeist nicht in bewußter Selektion durch spätere Epochen auf uns gekommen, sondern werden inweitgehendzufälliger Erhaltungge­

funden. Beidesmacht solche Befunde ergiebig fürdieErforschung brei­ terer gesellschaftlicher Verhältnisse undder dahinter stehenden Mentali­

täten.

Dieneueren Forschungen zum Zeitalter des Augustus haben nicht zu­

letzt aufgrund der Bilderwelt deutlich gemacht, welch tiefgreifender Wandel desgesamten Lebensstils seit dem Beginn des Prinzipats voral­ lem in den westlichen Provinzen des römischenReiches stattgefunden hat. Ein weitgehendungehobener Schatz für solche Fragestellungen sind diegriechischenVasen,mit ihren Zehntausendenvon Bildern. Vor allem französische Forschungen haben Bilder der griechischen Lebenswelt als bedeutende Zeugnisseder Gesellschaft gedeutet: nicht als realistische Spiegel der ‘Wirklichkeit’, sondern als Konstruktionen einer ‘eite des images’. Was hier als lapidares Gesamtbildder griechischen Poliser­

scheint, kann mit Hilfe der Vasenbilder, die relativ präzisedatiert und daher in einen genau bestimmbaren historischen Horizont gestellt wer­

den können, noch sehrviel klarer als Faktor der historischen Prozesse erfaßt werden. Wenn man sich einmal daraufeinläßt, nicht nur einzelne Bilder für sich zu erklären, sondern dasgesamte Repertoireder Themen einer historischen Epoche als Spektrum der aktuellen Bildvorstellungen einer Generation oder einesJahrzehnts zu begreifen, dann tut sich eine Welt von ungeahntem Reichtum und mit höchst aufschlußreichen ge­

schichtlichen Veränderungen auf. Dies alles ist erst in Ansätzen inAn­

griff genommen worden, stellt aber eine vielversprechende Perspektive für dieZukunft dar.

Für alle diese Fragen gewinnt aber ein Aspektvordringliche Bedeu­

tung, der bei rein formgeschichtlichen Fragen nureine untergeordnete Rolle gespielt hatte: dieFunktionder Bauten, Bildwerke und kulturellen Gegenstände. Bei Bauten scheint das selbstverständlich zu sein, aber

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tatsächlich wissen wir bisheute nichtgenau, was sich imInneren eines Tempelseigentlich abgespielt hat. Beianderen Bautypen, etwa Theatern, Bouleuterien oder Thermen, hat die genauereBeachtung der Funktionen in jüngerer Zeit zu neuen Bewertungengeführt. Die Bildwerke,die man lange Zeit alsMuseumsstücke betrachtet und als Belege für künstlerische Stilrichtungen und Entwicklungen gewertet hat, hatten in ersterLinie spezifische Aufgaben an bestimmten Orten, alsKultbilder in Tempeln, WeihgeschenkeinHeiligtümern, Grabfigurenin Nekropolen, Denkmä­

ler auföffentlichen Plätzen,Ausstattungvon Gebäuden. Sie definierten dieOrte, machten deren Bedeutungsichtbar und stelltenden Besuchern Leitmuster für diese Lebenskontexte vor Augen. Dafür hatten sich be­

stimmte Regeln und Muster eingespielt, im politischen und sakralen Raum andere als am Grabund im privaten Wohnhaus. Nicht alles war überall erlaubt, angemessenund üblich. Museale Kunstsammlungen in unserem Sinn gabesin der ganzen Antike kaum.Die RegelnundStan­

dards derAusstattung öffentlicherPlätze und Gebäude, wie Theater und Thermen, aberauch privater VillenundHäusermit Bildwerken sind be­

sonders für die römische Zeit untersuchtworden, vor allem auch unter Berücksichtigungder Basenvon Bildwerken mit Inschriften.

Aber auch andere Objekte derLebenswelt sind nicht abstrakte Zeug­

nisseder Geistesgeschichte, sondern beziehen sich auf OrtundSituation ihres Gebrauchs. So sind etwa die Szenen der Lebenswelt aufgriechi­ schen Vasen nicht Bilder des griechischen Lebens insgesamt, sondern enthalten solche Themen, diefürdie Benutzer beidenspezifischen Ge­

legenheiten aktuell waren. Deutlich wird das etwabei den Bildern der Mythen,die bei weitem nicht das ganze SpektrumgriechischerMytho­

logiebelegen, sondern eine Selektion solcher Mythen geben, die etwa die gesellschaftlichenWerteundGesprächsthemen beim Symposion bil­

deten.Das ist zu bedenken,wenn man abstrakte Entwicklungen griechi­

scher Mythen aus verschiedenartigen Zeugnissen rekonstruiert: Die Ge­

schichte griechischer Mythen ist dieGeschichteihres Gebrauchs.

Die Frage nach den Funktionenund Kontexten hat weite Folgen. Sie umfaßtetwa dieVerwendung von Gefäßen,figürlichen Bildwerken vor

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Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 219 allem in kleinemFormatund anderen Gegenständen in Siedlungen, Hei­

ligtümern und Gräbern; oder den Export von Vasen und ihre Bedeutung am Ort der Benutzung. Damit führt sie schließlich in den allgemeinen Bereich interkultureller Beziehungen.

Dieser ganze Aspekt der Funktionen von Bildwerken und anderen kulturellen Objekten istnoch ein weites Feldfür dieZukunft: Einzelne neuere Arbeiten zeigen, wie stark sich die Perspektive durch Beachtung derKontexte verschiebt. Die Frage, wozu dieGriechen und Römer ihre Kunstbrauchten, ist von einerallgemeinen Antwort noch weit entfernt.

Über all dem wurde die formale Gestaltder Bild- und Bauwerkeviel­ fach vergessen. Die ältere Generationhat darin überwiegendeinen un­

verzeihlichen Abstieggesehen. In Deutschland, demtraditionellen Zen­

trum der Stilforschung, wird Formanalyse heute oft weitgehendin die Anfangsstadien derAusbildung verlegt, vor allem zur Ermittlung von Entstehungsdaten eingesetzt, nur selten aber noch als ein anspruchs­

volles Ziel um ihrer selbst willen betrieben. Und inCambridge, einem Vorposten moderner Methodologie wurde kürzlicheine interdisziplinäre Befragung veranstaltet über das Thema: ‘1stherea placefor aestheticsin archaeology?’5Die Antwortenwaren zwar positiv, aberdeutlich verun­ sichert undin den Kategorienzum Teilüberraschendschlicht- und daß die Frage überhauptgestellt wurde, ist jedenfallssymptomatisch.

5 In: Cambridge Archaeological Journal 4:2, 1994, 249ff.

Dabei wäre es gerade im Sinn einergesellschaftsbezogenen Kultur­ wissenschaft ein immenser Verlust, wenndiekünstlerischenFormenaus demBlickfeldgerieten. Denn Stilformen sindpar excellence kollektive und somit soziale Phänomene: Epochen und Generationen, Nationen und Regionen, gesellschaftliche Gruppenund Individuen geben sich im gemeinsamen eigenen Stil zu erkennen und grenzen sichdurchihn nach außen ab. Und diese Stile sind nicht aufdie Bildkunst beschränkt: Sie greifen aufandere Kulturformen über, und sie hängen zugleich mitFor­ men desWahrnehmensund Denkens zusammen.

(24)

Diese Zusammenhängewerdennicht mehr von dem traditionellen, au­

tonomen Stilbegriff umfaßt. Bei einemNeuansatz muß zunächst der Be­

griff von Bild-‘Kunst’ neu bestimmt werden. Denn ‘Kunst’ inunserem Sinn eines autonomen ästhetischen Raumesgabes in Griechenland und Romkaum. Daher müßten dieVorstellungen vonindividuellemKünst­

lertum, hochreflektierter Innovation undRezeption, von denenfür die Literatur die Rede war, zumindest für die Bildkunst - aber vielleicht doch nichtnur für diese? - grundsätzlich überdachtwerden. Die Formen derKunst sind zunächstvielstärker ein handwerkliches Phänomen, der Stilbegriff hat daherviel stärker kollektive Bedeutung. Zugleich ist er viel stärker in einergesellschaftlichen Erfahrung der Formen der Lebens­

welt verankert.

DieseTragweiteder künstlerischen Formensprache ist in neuererZeit verschiedentlich erkannt worden. Nach Erwin Panofskys berühmtem Aufsatz ‘Die Perspektive als symbolische Form’ hat Bernhard Schweit­ zer 1950in seiner Abhandlung ‘Vom Sinnder Perspektive’ die Zusam­

menhänge zwischen perspektivischer Bildform undder geistesgeschicht­ lichen Wende zu subjektbezogenem Denken im 5. Jahrhundert v. Chr.

dargestellt.In ähnliche geistesgeschichtliche Richtung gehen neuere Ar­

beiten über Formund Aufstellung von Statuen des 5. und4. Jahrhun­ dertsund die Verbindungen zur gleichzeitigen Philosophie. Für die Bild­ sprache derrömischen Kaiserzeit konnte ein ganzes semantisches Sy­ stemvon Stilformen skizziertwerden.

Ein neuerer Ansatz, die Bedeutungformaler Phänomene im Zusam­

menhangderallgemeinen Geschichte zu verstehen, geht dahin, Bildfor­

men undLebensformen, inihrem historischen Wandel, aufeinander zu beziehen. DieKörpersprachen, Bewegungsweisenund Verhaltensideale verschiedener Gesellschaften und Epochen sind visuelle Phänomene der Lebenswelt wie der Kunst. In beiden Bereichen sindsie nach einer Se­

mantik der visuellenFormenverstehbar. Aber auchdie Organisation und Gestaltung von Lebensräumen, von Siedlungen, Heiligtümern und Wohnstätten,ist eine AktivitätdesFormens, mit der zugleich das Leben selbst, das öffentliche wie das private, strukturiert wird. Letzten Endes

(25)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 221 führtdas zu einerAuflösung der radikalen neuzeitlichen Trennung von Lebenswelt und Kunst, die inder Antike auchbegrifflich keine Entspre­ chunghat.Allekulturelle Welt ist geformte Welt, dazu gehören dieBild­ werke ebenso wieanderesinnstiftende Zeichen undStrukturierungen der Lebenswelt. Esist zu hoffen,daß von hier aus ein Anschluß an den Be­

griff des Stils undder visuellen Form gewonnen wird, wie er in neuerer Zeit für dieallgemeine Kulturwissenschaft entwickelt wurde6.

6 Richard Shusterman, KUNST LEBEN, Frankfurt am Main 1994.

Ein Rahmen für alleBeschäftigungmit antikerLebenskultur könnte die Urbanistik sein: Die Stadt ist die Grundlage derantiken Kultur von der frühen archaischenZeitbis indieSpätantike; alle Manifestationen der Kultur habenihren Bezugspunktin der Gesellschaft der Stadt. Hier tut sich die Archäologiejedoch nicht leicht: Sie forscht im wesentlichen in Städten, hat abernur sehr selteneine ganze Stadt erforscht. Diese unbe­ friedigende Situation hatin den 70er Jahren dazu geführt, daß ‘Stadtfor­ schung’ vom DeutschenArchäologischen Institut mit hohen Erwartun­ gen zu einemSchwerpunkt erklärt wurde. Daraus ist eine viel beachtete und diskutierte These über ‘Haus und Stadt im klassischen Griechen­

land’ entstanden,bei der es indesmehrum Grundstrukturen als um die - vielfach beträchtlich abweichenden - Realisierungen des Städtebaues geht. Zu einem konkreten Bild des Funktionierens einzelner Städte ist noch ein beträchtlicher Weg. Erwartungen richten sich heute zum einen aufdie Untersuchungen in den griechischen Städten Unteritaliens und Siziliens,vor allem Metapont und Selinunt, wo Forschungen von italie­

nischer, deutscher undandererSeite mit großem Weitblickganze Poleis mit ihrem Umlanderfassen; zum anderen aufdie Städte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wo Arbeitenzum Erschei­

nungsbildundLeben römischer Städte initiiert undkonzentriertwerden.

In diesem Sinn könnte die Urbanistik tatsächlich eine integrierende Klammer der gesamtenAltertumswissenschaften bilden.

(26)

Mit der Archäologie der Lebensräume erreicht die Forschung heute eine Dimension, dieimmer weiter über die herkömmlichen Methodender Erhebung undAuswertung von Befunden hinausführt. Man kann dabei an die alteTradition der Historischen Landeskunde anknüpfen, die im letztenJahrhundertgroße Erfolge gehabt hat, inDeutschland dann aber unter den Vorgabender Kunstforschung weitgehend vergessen wurde, so daß man heute Mühe hat, wieder an das internationale Niveau anzu­

schließen. Differenzierte Methodeneröffnen hier ganzneue Perspekti­

ven. Es erweist sich vielfach, daßdas traditionelle Mittel der Ausgra­ bung den Blickleicht aufbestimmte Punkteund Aspekte einer Kultur verengt und die Fragenach größeren Kontexten ausblendet.Für großflä­

chigeUntersuchungensteht heute einweites Spektrum von Vorgehens­ weisen im Gelände zur Verfügung, Prospektion, Surveys, Sondagen und punktuelle Grabungen,die zielgerichtetmiteinanderverbunden wer­

den können. Entscheidendsind dabeiNeuerungen technischerund na­

turwissenschaftlicher Art7. Mitelektronischer Datenverarbeitungwerden erstmals quantitative Untersuchungen, etwa zu Demographie, Wirtschaft und Handel denkbar. Naturwissenschaftliche Arbeitsweisenmachen es möglich, Materialienund Herkunft, Produktionsweisen und Altervon Objekten zu bestimmen, die bisher kaum zu beurteilen waren. Archäo- metrie, Paläozoologie und Paläobotanik, Geologie und Hydrographie er­

gebenEinsichten in natürliche Lebensbedingungen, kulturelle Lebens­

verhältnisse und ihre Veränderungen; Photogrammetrie macht großräu­ migeVermessungen in ganz neuem Maßstabmöglich.

7 Übersicht bei Patrick E. McGovern u.a., Science in Archaeology: a review, in:

American Journal of Archaeology 99, 1995, S. 79-142.

Diese Techniken habengewiß ihre eigene Dynamik entwickelt und drohen manchmal zum Selbstzweck zu werden. Man kann Bataillone von jungen und anderweitig hoffnungslosen Archäologenüber Jahre an einem einzigen begrenztenProjektverschleißen. Und für die Nachbar­

disziplinenstellt sich leicht der Eindruck desAbdriftens vonder gemein­

samen Sache ein. Aber grundsätzlich liegt hierein hohes Potential. Es bestehtin einer Ergänzung alljener Zeugnisse, mitdenen man traditio­

(27)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 223 nellerweise zu arbeiten gewohntist, der Bauten undBilder (und Texte), die letzten Endes einzelnekulturelle Manifestationen darstellen und die antike Kultur bereits in einer mehr oderminder reflektiertenSelbstdeu­

tung bezeugen. Die kollektiven Lebensverhältnisse, dieder Antike selbst z.T. nurhalb oder gar nichtbewußt waren und jedenfalls nicht in Schrift und Bild artikuliertwurden,lassensichnur mit denneuen Arbeitsweisen rekonstruieren: Erstjetzt ist neben die Archäologie der Monumente(im weiteren Sinne als reflektierte Selbstzeugnisse) eineeigenständige Ar­ chäologie der Befundegetreten. Damitist aber ein entscheidenderWech­ sel der gesamten historischen Perspektive verbunden: Denn die Ge­

schichte, dieuns in denSchriftquellen und ‘Monumenten’ entgegentritt, ist im wesentlichen eineGeschichteder Sieger, der Herrschenden und der Oberschichten, und zwar in ihrer eigenen Selbstinterpretation. Erst flächendeckende Untersuchungen archäologischerBefunde erlauben es, einbreiteres Spektrum der antiken Gesellschaften, d.h. auch der Schich­

ten, die sich nichtoder nur schwach artikuliert haben, zu erfassen und als Mitglieder, Faktoren oder Opfer, der Geschichte zu begreifen. Je mehr uns daran liegt, nicht nur die historischen Selbstentwürfe und Konstruktionen, diekulturellen Werturteileund Selektionen der Antike einfühlsam nachzuvollziehen, sondern sieim Kontext der gesamten Le­ bensaktivitäten, mit ihren Leistungen undFolgelasten, zuverstehen, de­

sto mehr müssen wirdiese Befundenicht nur als Garnierung der Ge­

schichte heranziehen, sondern als eigenständige Zeugnisse ernst neh­

men. In allen diesen Fragen hat die Forschung in anderen Ländern ge­ genüber Deutschlandz.T. einen beträchtlichen Vorsprung.

Die Ergebnisse sindderart, daß sie nicht innerhalb der Archäologie bleiben sollten. Der politische, soziale und kulturelle Umbruch Grie­ chenlands im8. Jahrhundert v. Chr. solltenichtmehr ohnedie demogra­

phischen Veränderungen gesehen werden, die dieenglische Forschung erkannt hat. Für das klassische Attika haben archäologische Untersu­ chungen einzelnerSiedlungskammern wichtige neue Aufschlüsse über das Verhältnisvon Stadt und Land ergeben. Die Romanisierung Grie­ chenlands konnte in einer Dichte erforscht werden,wie esdieInterpreta­

(28)

tion einzelner Monumente (undTexte) niemals hätte erkennen lassen.

Unddie einheimischen Partner dergriechischenKolonisten in Unterita­

lien und Sizilien sindin wichtigen Aspekten der Gesellschaftsstruktur nur durch die systematischeErforschung der Nekropolen bekannt ge­

worden.

Die GrundlagenfürsolcheForschungen werden freilichzu einem be­

trächtlichen Teil zunichte gemacht durch die systematischen illegalen Plünderungen der Antikenstätten durch Raubgräber, die die Kontexte unwiederbringlich zerstören. Es ist ein hochorganisiertesGeschäft, das die Bedürfnisse nicht nur der gutgläubigen Kunstliebhaber, sondern auch der Finanzwelt deckt. Die Archäologen werden dies wohl nicht stoppen können, aber es gehört doch zu den deprimierenden Erfahrun­

gen unserer Zeit, daßsie nicht zu einem einheitlichen Urteil und zu ge­ meinsamenVerhaltensweisen in dieser Frage finden.

V.

Wenn man nach diesem Überblick über die Forschungsfelder der Klassischen Archäologie,mit Konzentration auf Deutschland,noch ein­

mal auf die Situation insgesamt blickt, so gewinnt man oftdenEindruck einer Mischung vongoodwillund Frustration. Die Frage nach histori­ schen Lebenszusammenhängen müßte ja bedeuten, daß die Zeugnisse nicht nur für sich interpretiert, sondern in dieser Perspektive auf das Ganzegesehen werden: also nicht nur Grabreliefs als Gattung, sondern zugleich derUmgang mit dem Tod; nicht nurNacktheit als ikonographi- sches Phänomen, sondern die kulturelle Bedeutung des Körpers; nicht Szenendes Thiasos in typologischerGliederung, sonderndie Rolle von Rausch und Ekstase, als Wirklichkeitoder Traumwelt, im psychologi­

schen Haushalt der Gesellschaft. Oftaber, wennman allgemeinere Fra­ gen nach den antiken Lebenszusammenhängen stellt, muß man sich eingestehen,daß die Zeugnisse darüber wenig aussagen: Man will über das ‘Wohnen im Altertum’ Näheres wissen, aber dieHäuser bleiben lee­

(29)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 225 re Gehäuse; manwill der Rolle eines Künstlers nachgehen,aber die Auf­

traggeber, Anlässe, Absichtenund Benutzer oder Betrachter seiner Wer­

kebleiben unbekannt; man will soziale Zuordnungen von Grabformen vornehmen, aberdie Bestatteten sindnicht zu bestimmen.Immer wieder gut gemeinte Fragen, aber oft geringe Informationenund daherunbe­

friedigendeoder allzu spekulative Antworten. Die Versuchung ist dann groß, einzelne zufällig erhaltene Kenntnisse für repräsentativzu nehmen und aufdasGanze hochzurechnen- was immer wiederzu starken Ver­

zerrungen führt. Andererseitsist esdefinitivnotwendig, die übergreifen­

den Fragen überhaupt zu stellen,selbstwenn die Erwartung aufLösun­ gen begrenzt ist: Auch ein rein theoretischesModell, sofern man bereit ist,es bei gegenteiligen Befundenzu modifizierenoder aufzugeben, ist nützlicher als isolierte Einzelobjekte.

Hilfe könnte von stärkerer Einbeziehung theoretischerPerspektiven aus anderen Kulturwissenschaften kommen - was natürlichauch den in­ tellektuellenReiz des Faches erhöhen würde. Hier ist in Deutschlanddie Zurückhaltung besonders groß.Einen gewissen Einfluß haben Semiotik und Kommunikationswissenschaft erreicht. Der Gewinn der semioti- schen Kategorien besteht vor allem darin, daß sie sehr viel klarer das Konstruieren und Funktionieren von ‘Bedeutung’ bei Bildern, Bauten undGegenständenim Rahmen der Gesellschaftzu erfassen und dadurch den wissenschaftlichen Diskurs rationaler undtransparenter zu gestalten erlauben. Indem die Semiotikgrundsätzlich alle kulturellen Manifestatio­ nen als konventionelleZeichen,d.h. als kulturspezifische Konstruktio­ nen betrachtet, die nicht auf derBasis der gemeinsamen Menschennatur selbstverständlich sind, sondern durch Übersetzung verständlich ge­ macht werdenmüssen, erzeugt sieeinen Habitus der Distanz, der einen produktiven Umgang mit der Antikenur fördern kann.Ohne hier näher darauf eingehenzu können, muß man freilich sagen,daßdie Ansätze der Semiotik als grundsätzlich neue Perspektive für die Kulturwissenschaf­ ten in der Klassischen Archäologie nur selten wahrgenommen wurden und jedenfalls dieForschung insgesamt nicht nachhaltig geprägt haben.

(30)

Andere Nationen haben viel vitalere theoretische Diskurseentwickelt.

Von Italien unddem Kreis um Ranuccio BianchiBandinelli war schon die Rede. In Frankreich istim Kreis um Jean-Pierre Vemant seit einer Generation eine Schule soziologischer und sozialpsychologischer For­

schung entstanden, die erfrischend frei ist von den Lasten humanisti­ scher Traditionen und die Ansätze derfranzösischen-historischen An­

thropologie, derSoziologie,der Religionswissenschaft undder Mentali­ tätsgeschichte aufnimmt.Für die Archäologie, die dabeizunächst nicht im Mittelpunkt stand, sinddabei doch grundsätzliche Einsichten gewon­ nen worden, etwa in die Funktionen von Heiligtümern, in die Sachkul­

tur, Ikonographie undIdeologievon Krieg, Jagd und Erotik,gemeinsa­

mem Essen, Tod und Begräbnis, immer imZusammenhang mit Grund­

strukturen der griechischen Polis und ihrer Gesellschaft8. In Deutsch­

land wurde dies alles nur sehr vereinzelt wahrgenommen undkaum als grundlegendesKonzept diskutiert. Daswirdgernedamit begründet, daß diese Positionen ausder Erbmassedesfranzösischen Strukturalismusei­

nen inhärenten Mangelan historischerDistinktion übernommen hätten, dessenGefahren man sich gar nicht erst aussetzen wolle. Diese Kritik ist gewiß nichtunberechtigt: Vielfach ist der Blick auf eher abstrakte gesell­ schaftliche Strukturenundreligiöse Grundmustergerichtet, sodaß der Zusammenhang mitden konkreten Menschen in ihrensich verändernden historischen Situationen leicht aus dem Blick gerät. Aber damit macht manes sich doch zu einfach:Denn in dieser Sicht liegt eine anthropolo­

gische Kraft und eineVorstellung vomGanzen der antiken Kulturen,die einen eigenenRang gewinnt. Dies nichtzu beachten kann nur einVerlust sein.

8 Einführung in die ikonographischen Untersuchungen dieser Gruppe, für ein breiteres Publikum: C. Berard / J. P. Vernant (Hrsgg.), La eite des images. Religion et socidte en Grece antique, Lausanne 1984.

Eine zweite theoretische Herausforderungkommt,ebenfalls seiteiner Generation, aus der angelsächsischen Archäologie.Hier hat sich, ausge­

hend vonAnthropologieund PrähistorischerArchäologie, eine lebhafte Diskussion um Theorien und Methoden entwickelt, die seit den 60er

(31)

Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts 227 Jahren in den Positionen der New Archaeology undder nachfolgenden Konzepte einen programmatischen Ausdruck gefunden hat. Für die Klassische Archäologie sind solche Ansätze vor allem durch Anthony Snodgrass und seine Schule in Cambridge aktuell geworden9. Dabei geht es insbesondere darum, nicht archäologische Objekte undBefunde um ihrer selbst willen zu klassifizieren und zu interpretieren, sondern historische Kontexte undgesellschaftliche Prozesse zu rekonstruieren und die kulturellen Objekte als Faktoren dieser Kontexte zu verstehen.

Historische Lebensräume,Siedlungen, Heiligtümer,Nekropolen werden als multifaktorielle Situationen untersucht; Survey, Statistik, demogra­

phische Kalkulationsind zentraleArbeitsweisen. Dadurch werden mit starker methodischer Reflexion historischeQuellen erschlossen, die in ganz andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens führen alsdiereflek­

tierten Selbstzeugnisse derantikenLiteratur. Auch hier macht man es sich, in Deutschland undanderswo, zuleicht, wenn man die Unsicher­

heit einzelner Erklärungsmodellekritisiert. DieenormeErweiterungdes Gesichtskreises durch diese Arbeitsweisen steht außer Zweifel. Sie ha­

ben nicht nur für dasfrühe Griechenland zu einerneuen Sicht geführt, sondern sind auch etwain Italienfür die Erforschung deretruskischen undder großgriechischen Kulturenmit Erfolg eingesetztworden.

9 Anthony M. Snodgrass, An Archaeology of Greece. The present state and future scope of a discipline, Berkeley/Los Angeles/London 1987. Sammlung neuerer Arbei­

ten in dieser Richtung bei Ian Morris (Hrsg.), Classical Greece: ancient histories and modern archaeologies, Cambridge 1994. Eine Einführung in die allgemeine Diskus­

sion gibt Sabine Wolfram, Zur Theoriediskussion in der Prähistorischen Archäologie Großbritanniens, London 1986; Ian Hodder (Hrsg.), Archaeological Theory in Europe.

The last three decades, London 1991.

VI.

Unsere einzelnen Disziplinen haben wohl wechselseitig manche Schwierigkeitenmiteinander. Ich bin überzeugt, daß wir als Archäolo­ gen den wissenschaftlichen Nachbarn einiges schuldig bleiben -aber ich kann natürlich besser sagen, wodie Archäologenbei den anderenDis­

(32)

ziplinen Defiziteund auch Grenzen der Verständigungsehen.Sie liegen grundsätzlich da, woderalte Primat der Schriftquellen, deraus den phi­

lologischen Anfängen unserer Fächerresultiert, bewußt oderunbewußt weiterin Geltungist: sei es daß ein zufällig erhaltenes reflektierendes Wort für eindeutiger unddaher aussagekräftigergehalten wirdals Bilder oder stummeGegenstände;sei es daß die- ja durchaus begrenzten - Le­

bensbereicheund Phänomene, von denen die Schriftquellen berichten, als zentraler betrachtet werden gegenüberder Bilderwelt und dermate­

riellen Kultur, derenPhänomene dann doch am Rand der ‘erzählbaren’ Geschichte bleiben. Sehr respektableBeispielewären leicht zurHand - aber es soll hiernicht umSchuldzuweisungen gehen, dieebenso leicht in umgekehrter Richtung vorgebracht werden könnten, sondern um Über­ brückungvonGrenzen, an denen wir alle unserenAnteil haben.

Wie soll esweitergehen?Dasmüßte eigentlichdie nächste Generation sagen.Vielleicht darf ich anregen, daß in vierJahren, vor der wirklichen Jahrtausendwende, dasselbe Programm von Vertretern der Jugendbe­

stritten wird: Höchstalter 35 Jahre.

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