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2006.Neuere Entwicklungen in der linguistischen Internetforschung(Germanistische Linguistik 186-87)

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Jannis K. Androutsopoulos & Jens Runkehl & Peter Schlobinski &

Torsten Siever (Hg.). 2006.Neuere Entwicklungen in der linguistischen Internetforschung(Germanistische Linguistik 186-87). Hildesheim, Zü- rich, New York: Georg Olms. 322 S.

Reiner Küpper Universität Duisburg-Essen

Fachbereich Geisteswissenschaften Universitätsstraße 12 D-45117 Essen reiner.kuepper@uni-due.de

Bei den dreizehn Aufsätzen des vorliegenden Sammelbandes handelt es sich um Verschriftlichungen von Vorträgen zum „Zweiten interna- tionalen Symposium zur gegenwärtigen linguistischen Forschung über computervermittelte Kommunikation“, das vom 4. bis zum 6. Oktober 2004 an der Universität Hannover stattfand.

Rezensionen von Sammelbänden, die den Verlauf einer Tagung spie- geln, sind keine leichte Aufgabe. Ein Problem ergibt sich hier schon dadurch, dass die Beiträge dieses Sammelbandes den Forschungsstand von vor fünf Jahren dokumentieren, was auf einem Forschungsgebiet, das sich derart rasant entwickelt wie das vorliegende, zu unberechtigter Kritik verleiten kann: Heute bräuchte man sich beispielsweise mit einer Beschreibung der digitalen Textsorte live ticker sicherlich nicht lange aufzuhalten; damals war dies aber gewiss noch nötig.

Die Tagungsbeiträge sind unter drei Überschriften gebündelt. Der erste Themenschwerpunkt, überschrieben mit „Das Internet als sprachlicher Variationsraum“, umfasst vier Aufsätze. Die ersten beiden Artikel untersuchen primär die Chat-Kommunikation in der deutsch- sprachigen Schweiz und heben insbesondere auf die Besonderheiten des Dialektgebrauchs ab: Helen Christen und Evelyn Ziegler,

„Können Promis variieren? Beobachtungen zur Sprachformenwahl in schweizerischen und deutschen Prominentenchats“ sowie Beat Sie- benhaar, „Das sprachliche Normenverständnis in mundartlichen Chaträumen der Schweiz“.

Dass Beiträge der schweizerischen Linguistik im vorliegenden Sam- melband Beachtung finden, ist aufgrund der Intensität der schweizeri- schen Forschung berechtigt; erstaunlich ist nur, dass nicht auch öster- reichischeUntersuchungen aufgenommen sind. Beispielsweise wird das beachtenswerte Werkzeug factchat an der Universität Wien schon seit 2003 eingesetzt und untersucht. Hierauf wird im vorliegenden Sam- melband aber nur am Rande (vgl. S. 312ff. und Fußnote Nr. 15, S. 315) hingewiesen. Auf alle Fälle verdienten derlei österreichische Forschun- gen sicherlich eine größere Beachtung.

ZRS, Band 2, Heft 1

© Walter de Gruyter 2010 DOI 10.15/zrs.2010.004

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Die Bezugnahme auf die Schweiz bietet sich freilich schon wegen der Besonderheit der dortigen Dialekt-Standard-Konstellation an.

Konkret werden in den beiden Artikeln „Fragestellungen, Konzepte, Methoden aus der Variationslinguistik [...] auf die Untersuchung der internetbasierten Kommunikation übertragen“ (S. 5f.). Mit vielleicht größerer Berechtigung könnte man sagen, dass die „internetbasierte Kommunikation [...] als Phänomenfeld für die Variationslinguistik fruchtbar gemacht [wird]“ (S. 6). Die Lektüre der Artikel hinterlässt jedenfalls den Eindruck, dass es sich primär um Beiträge zur Varia- tionslinguistik und erst sekundär um Analysen zur Interaktion in Chats handelt.

Den Ausgangspunkt für die kontrastive Untersuchung von Helen Christen und Evelyn Ziegler bilden dementsprechend variationslinguis- tische Phänomene wie ‚mediale Diglossie‘ und ‚Kontinuum‘. Die Ver- fasserinnen gehen von der These aus, dass „neuere Untersuchungen zur Interaktion im Bereich des Online-Sprachgebrauchs zeigen, dass in der Bundesrepublik wie in der Schweiz die Sprachformenwahl primär pragmatisch nach Kommunikationsfunktionen motiviert ist.“ (S. 13) In diesem Kontext wird mit Blick auf die ‚mediale Schriftlichkeit‘ der Schweiz „eine einseitige Auflösung der medialen Diglossie im Bereich des Nähepols konstatiert“ (ebd.). In Ergänzung bisheriger Studien konzentriert sich der vorliegende Artikel auf den „so genannten Dis- tanzpol“(ebd.). Speziell wird untersucht, wie Prominente aus verschie- denen Sektoren„Phänomene der alltagsnahen Kommunikation und Va- riation reproduzieren, welche sprachlichen Ebenen dies präferenziell betrifft (Routineformeln, Lexikon etc.) und welche Funktionen damit verbunden sind“(ebd.) Als Fazit der vergleichenden Analyse wird fest- gehalten, dass „in schweizerischen Promi-Chats [...] generell häufiger Dialekt verwendet wird als in deutschen. Dabei ersetzt in der Bundes- republik der Nonstandard die Funktion des Dialekts. Die Wahl der Sprachformen hängt vom sozialen Umfeld und der jeweiligen Stilisie- rungspraxis ab“ (S. 40). Dieses wenig überraschende Ergebnis wird al- lerdings durch den Hinweis auf eine bisher unbeachtet gebliebene Va- riationsdimension ergänzt: Die Verfasserinnen weisen nämlich nach, dass„Deutschschweizer vereinzelt ebenfalls–nicht-dialektalen–Non- standard verwenden, d. h., es wird in der medialen Schriftlichkeit des Chats auf eine Form des kolloquialen Gesprochensprachlichen zurück- gegriffen, die so in der Schweiz kaum existiert. Es ist quasi ein Spre- chen (resp. Schreiben) mit fremder, nämlich bundesdeutscher Stimme [...], die in der Schweiz aus den Medien rezeptiv allerdings bestens be- kannt ist, auch in Bezug auf ihr kommunikatives Potential“(S. 41). Als Forschungsdesiderat wird ausgewiesen zu untersuchen, „wer von die- ser Ressource für welche Zwecke Gebrauch macht und in welchem Zusammenspiel sie mit geschriebenem Dialekt steht“(ebd.).

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Auch Beat Siebenhaar untersucht die Mundartverwendung (bzw.

die diesbezüglichen Schreibkonventionen) in regionalen Chaträumen der Schweiz. Der hier vorgenommene „Rückgriff auf Fragestellungen und Methoden der quantitativen Variationslinguistik“(S. 6) birgt aller- dings, wie im Vorwort ausdrücklich thematisiert wird, „ein systemati- sches Problem“ (ebd.): Denn bei der Übertragung von einer medialen Ebene auf eine andere – hier konkret der ‚Face-to-Face-Interaktion‘

auf die‚User-User-Interaktion‘ –ist stets zu bedenken, dass„in inter- netbasierten Netzwerken nicht zwischen Personen, sondern zwischen digitalisierten Symbolkonfigurationen interagiert wird“ (ebd.). Schon 1997 hat Sybille Krämer sogar die These vertreten, dass die mündliche Interaktion keinerlei Bezugspunkt darstellen könne für das, was in Textnetzen vor sich geht. Mit Blick auf das vorliegende Themenfeld

„steht eine solche grundsätzliche Reflexion [zwar] noch aus“ (ebd.).

Ich halte von einer Fundamentalkritik, wie Krämer sie seinerzeit äu- ßerte, jedoch wenig, zumal dieser frühen Äußerung – wie mir scheint – noch etwas von der Euphorie der Anfangsphase der Beschäftigung mit internetbasierten Netzwerken anhaftet. Inzwischen ist indes eine Ernüchterung eingetreten; jedenfalls hat sich gezeigt, dass manches eben doch nicht so grundsätzlich neu ist, wie es auf den ersten Blick erschien. Und „ob hier ein eigenständiges Forschungsparadigma ent- steht oder ob nicht vielmehr die internetbasierte Kommunikationsfor- schung zu einem nicht unerheblichen Teil in die Variationslinguistik integriert wird“ (ebd.), hängt meines Erachtens davon ab, wie viele Phänomene sich als wirklich neu herausstellen und wie viele mit her- kömmlichen mündlichen Interaktionsbeziehungen letztlich doch ver- gleichbar sind. Ich vermute, dass sich die zweite Option, also überwie- gend die Integration in die Variationslinguistik, realisieren wird. Wie schon angedeutet, muten die obigen Aufsätze nicht zufällig ja eher wie Beiträge zur Variationslinguistik – und erst in zweiter Linie zur Chat- Kommunikation–an.

Auf die beiden weiteren Artikel des ersten Themenschwerpunkts, die übrigens auf Englisch verfasst sind, wird im Vorwort erstaunlicher- weise gar nicht hingewiesen, dabei sind die erzielten Ergebnisse zu- mindest punktuell durchaus aufschlussreich: Der Beitrag von Dorota Smyk-Bhattacharjee, „‚A lyricist by night, teenager by day and sleepaholic everytime in between‘“, befasst sich mit Sprachwandel in bzw. durch „computer mediated communication (CMC)“: Die Verfas- serin hat sich in ihrem Forschungsprojekt zweierlei zum Ziel gesetzt:

„characterizing language change on the lexical level in and through CMC, and describing blogging as a new type of CMC.“ (S. 74) Der Artikel ist hauptsächlich mit Ersterem befasst. Unter Heranziehung von Daten aus „real blogs“ kommt die Verfasserin zu dem Schluss, dass mit Blick auf Sprachwandel in solchen Blogs nicht von „language

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corruption“ gesprochen werden könne; vielmehr sei „a development“

zu konstatieren. Überhaupt dürfe die Innovationsfunktion der neuen digitalen Medien nicht überschätzt werden. Zwar hätten sie viele lexi- kalische Veränderungen angestoßen, aber„most lexical innovations oc- cur independently of this digital reality“ (S. 83). Die neuen digitalen Medien machen – so die Verfasserin – den Sprachwandel lediglich

„more visible“, resp. tragen zur schnelleren Verbreitung dieser Ver- änderungen bei. Dies ist vielleicht ein überraschender Befund, da das Internet dem Nutzer doch „relative freedom of linguistic expression, flexibility and vast opportunities for creativity“ bietet (ebd.). Von da- her könnte man vermuten, dass die Innovationsfunktion des Webs hier tendenziell unterschätzt wird. Ganz unbestreitbar ist indes, dass das Netz für Forschungsprojekte wie das vorliegende „a rich data set“zu- gänglich macht, das auf andere Weise nicht verfügbar ist. Überdies er- mögliche das WWW „the direct observation of the changes in langua- ge“ (ebd.). Konkret auf die morphologische Ebene bezogen erlaube die Heranziehung von CMC-Korpora nicht nur

„the observation of the productive processes (such as -ful derivation) but also of the new emergent patterns (e.g.,-licious derivations), and of change in progress (e.g.,-holicderivations)“(ebd.).

Auch der Artikel von Claudia Sassen wendet sich sehr spezifischen Aspekten zu. Sie untersucht „Limits of the right frontier constraint in chat communication“. Unter RFC ist „a well-formedness condition“

zu verstehen, „that expresses restrictions over anaphoric accessibility through pronomina in discourse“ (S. 86). Basierend auf dem für tradi- tionelle (!) Kommunikations-Systeme konzipierten Linguistic Discour- se Model von Livia Polanyi, die erstmals RFC in ein formales Modell integrierte, versucht Sassen herauszufinden, „whether chat communi- cation makes an exception when it comes to RFC“ (ebd.). Konkret wird unter Heranziehung von Daten aus „multi-party chats and advi- sory chats“ (ebd.) untersucht, „whether the validity of the RFC must be reduced or be viewed in a different light for chat communication“

(ebd.). Die Verfasserin geht dabei von der Hypothese aus, „that the RFC is not at play for chat communication“ (S. 106). Diese These er- weist sich aufgrund ihrer sehr differenzierten Analysen als nicht halt- bar: Zwar bildet die Kommunikation in whisper lounges und advisory chats eine Ausnahme, insgesamt bietet das untersuchte Korpus jedoch

„evidence for the validity of the RFC“ (S. 106). Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen traditionellen Kommunikationssystemen und der Chat-Kommunikation ist zumindest mit Blick auf diese spezielle Facette alsonichtgegeben. Dies ist ein interessantes Ergebnis, insofern als die Berechtigung von Krämers oben erwähntem grundsätzlichem Einwand durch diesen speziellen Befund jedenfallsnichtbestätigt wird.

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Eine andere Frage ist, was z. B. Sassens sehr spezielle Unter- suchungsperspektive (abgesehen von der formalen Ähnlichkeit, dass es wiederum um das Beispiel Chat-Kommunikation geht) mit den varia- tionslinguistischen Thematiken der beiden einleitenden Beiträge zu tun hat. Im vorliegenden Sammelband wurden offensichtlich sehr he- terogene Aufsätze unter einer Überschrift versammelt, wohl um den Eindruck einer gewissen Geschlossenheit zu erwecken, die – wie die nähere Diskussion noch deutlicher zeigen wird– nicht besteht. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem bei der Rezension des vorliegenden Sammelbandes: Wegen der Disparatheit der Tagungsbeiträge fehlt ein einheitlicher Nenner, zu dem man eine überschaubare Stellungnahme abgeben könnte; der Rezensent droht vielmehr in verzweigte Detail- diskussionen hineingezogen zu werden. Diese Spezialdiskussionen er- geben sich auch dadurch, dass – was per se löblich ist – Doktoranden die Gelegenheit gegeben wird, ihre meist eng begrenzten Forschungs- projekte vorzustellen.

Auch bei der Formulierung der zweiten Hauptüberschrift „Netz- diskurse und digitale Textsorten“ scheint der Versuch der Herausgeber durch, das weitgefächerte Spektrum der Beiträge durch Bündelung ein- zelner Vorträge bzw. Aufsätze überschaubar zu machen. Aber die Ab- grenzungen muten eher künstlich an: „Lag der erste Schwerpunkt auf computervermittelter Interaktion, so geht es im zweiten Teil dieses Heftes vorwiegend um Facetten des Online-Journalismus und um die multimodale Struktur von Online-Kommunikation“ (S. 7). Aber um multimodale Strukturen ging es ja auch schon im ersten Teil.

In diesemzweitenTeil des Sammelbandes sind gleich sechs Beiträge zusammengefasst: Andreas H. Jucker schreibt (unter der Über- schrift:„Read about it while it happens“) über den Einsatz der bereits erwähnten ‚live tickers‘in der Sportberichterstattung. Unter Rückgriff auf das ‚Parlando‘-Konzept Siebers sowie Kategorien der anglistischen Korpuslinguistik geht es Jucker in diesem ebenfalls auf Englisch ver- fassten Artikel darum, typische Merkmale von „live text commenta- ries“ zu bestimmen. Nach Jucker handelt es sich hierbei um„a unidir- ectional form of communication“ (S. 130) „at the intersection of orality and literacy“ (ebd.). Juckers Vermutung, dass die ‚live tickers‘

ältere Formen der Sportberichterstattung zwar nicht verdrängen, aber ergänzen werden, hat sich zwischenzeitlich bestätigt: Inzwischen fin- det diese neue Kommunikationsform breite Akzeptanz als „an addi- tional window on the computer screen that keeps the reader up to date with the progress of a sports event while he or she works on some- thing else on the computer“(ebd.).

Claudia Fraas und Achim Barczok schreiben unter Bezugnah- me auf die Diskurstheorie Foucaults über „Weblogs im öffentlichen Diskurs“. Am Beispiel des Diskurses um die Marsmissionen Anfang

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2004 zeigen die Verfasser den journalistische Mehrwert von Weblogs auf:„Sie sind das erste Online-Kommunikationsformat, das öffentliche und individuelle Kommunikation wirklich koppelt“(S. 158). In künfti- ge Diskursanalysen müssten deshalb „Online-Anteile gesellschaftlicher Diskurse“ unbedingt eingebracht werden: „Erst dann kann empirisch gezeigt werden, wie öffentliche Themen im Medienverbund, also über die Schnittstellen zwischen ‚alten‘und ‚neuen‘ Medien hinweg, konsti- tuiert und bearbeitet werden“ (ebd.). Das herkömmliche Paradigma der Intertextualität müsse jedenfalls durch Heranziehung der Konzepte

‚Intermedialität‘ bzw. ‚Transmedialität‘ ausgeweitet werden, damit künftig „Prozesse des Zusammenwirkens von Online- und Offline- Anteilen gesellschaftlicher Diskurse“ (ebd.) in der nötigen Weise ins Blickfeld der Forschung geraten.

Auch in dem Beitrag von Stefan Meier-Schuegraf wird auf die Analyse eines inhaltlich und zeitlich begrenzten Diskurses abgehoben, wobei die Grenzen der einzelnen Textsorten und Medien erneut über- schritten werden. Konkret unternimmt der Verfasser am Beispiel des Online-Diskurses zum Thema ‚Hartz IV‘ den Versuch einer Typologi- sierung von Websites. Innerhalb dieses Diskurses unterscheidet er

„vier Typen von kommunikativen Funktionalitäten“ (S. 181): einmal

„nachrichten- bzw. informationsorientierte Web-Angebote“, die primär

„berichtend am Onlinediskurs beteiligt sind“; zweitens „imageorien- tierte Websites“, die eine „direkte Diskursbeteiligung durch die Äuße- rung eigener Positionen und Aktivitäten“ aufweisen; drittens „kam- pagneorientierte Sites“, die „sich auf die persuasive Behandlung eines Diskursthemas beschränken“; und viertens„portal- bzw. plattformori- entierte Sites“, die „eher der Vernetzung und Orientierung“ dienen (ebd.). Einzelne Kommunikationsformen wie z. B. die Chat-Kom- munikation sind bekanntlich „fast immer in Web-Auftritte integriert, die [solchen] [...] übergeordneten kommunikativen Funktionen unter- liegen“ (ebd.). Folglich dürfe die linguistische Internetforschung nicht bei der Analyse „isolierter Kommunikationsformen“ stehen bleiben;

vielmehr müssten die einzelnen Formen „anhand der übergeordneten Funktionalitäten näher bestimmt werden“ (ebd.) Der Mehrwert für die Forschung besteht nach Meier darin, dass sich durch diese überge- ordnete Perspektive „beispielsweise Fragen nach Selektion von Beiträ- gen und Moderatorenverhalten anders [stellen]“(ebd.).

Ulrich Schm itz analysiert unter kritischer Bezugnahme auf Gunter Kress„Tertiäre Schriftlichkeit im World Wide Web“. Mit tertiä- rer Schriftlichkeit ist ein Phänomen gemeint, das „Schrift als nicht- autonomes Element in multimodalen Kontexten, vor allem in Text- Bild-Gefügen erscheinen lässt“ (S. 193). Diese tertiäre Schriftlichkeit gibt es freilich nicht nur im Netz:„Sie kommt in vielen Kommunikati- onsformen vor, von Texten an Waren über Plakatierung und Beschil-

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derung im öffentlichen Raum bis zu Presse und anderen Papiermedien.

Die avantgardistischsten Fälle jedoch finden sich derzeit im World Wide Web“(ebd.). Damit drängt sich erneut ein theoretisches Problem auf, das den Hintergrund zu vielen Beiträgen des vorliegenden Sammel- bandes bildet, nämlich dass eine Reihe von ausgesprochen modern an- mutenden Phänomenen „weder neu noch auf das Web eingeschränkt“

sind (Vorwort, S. 8).„Bei fast allen medien- und sprachgeschichtlichen Entwicklungen“ gibt es sogar „alte historische Vorläufer“ (Schmitz, S. 193). Daraus resultiert der bereits erwähnte Tatbestand, dass es oft nahe liegt, die neuen Forschungsfelder in bestehende zu integrieren.

Eine solche Einordnung neuer Forschungen in bestehende Paradig- men scheint sich besonders bei der Untersuchung narrativerElemente im WWW anzubieten. So greift Peter Handler in seinem Aufsatz

„Zur Narrativik des‚digital storytelling‘“ durchaus nachvollziehbar auf Grundkonzepte der Erzählforschung zurück. Denn nach wie vor gibt es ja im Onlinejournalismus „auch narrativ strukturierte Text-Bild-Se- quenzen, die auf eine lineare Rezeption angelegt sind“ (S. 8)– was ge- rade heute, nachdem die erste Euphorie über die angeblich alle lineare Sequenzierung überwindenden Neuen Medien verraucht ist, wieder be- tont werden darf. Gerade im Kommunikationsfeld der Didaktik, also bei Lernsoftware, sind solche monolinear-sequenziell angelegten Mo- dule unverzichtbar. Das „Hauptverbreitungsgebiet“ solcher Module ist nach Handler jedoch der Online-Journalismus. Für dieses Anwen- dungsfeld versucht Handler eine Typologisierung solcher meist „kom- pakte[n], überschaubare[n] Sequenzen“ (S. 227) vorzunehmen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „ein ‚Prototyp‘ des seriell hyper-ver- linkten Erzählens im Web“ (ebd.) folgende Charakteristika aufweist:

„Er ist monolinear-sequenziell angelegt, hat eine präsente oder durch- scheinende Erzählinstanz und handelt von einer ‚Geschichte‘ mit Er- eignissen, Figuren und Schauplätzen“ (ebd.). Die häufigste Variante sind dabei „Text-Bild-Kombinationen, die – bei durchdachter Inter- aktion – die Ausdrucksstärken beider Kodes ausschöpfen und zusam- menführen“ können (ebd.). Die Realisierung der sich hier bietenden Potenziale liegt im Online-Journalismus, Handler zufolge, allerdings noch sehr im Argen (vgl. insbesondere S. 228).

Der den zweiten Themenschwerpunkt des vorliegenden Sammel- bandes abschließende Beitrag von Beat Suter handelt vom „fluktuie- renden Konkreatisieren“; hiermit ist ein „Schwebendes Schreiben“

(S. 253) gemeint: konkret ein „direktes Schreiben online“ (S. 252),

„wobei Autor, Herausgeber und Leser in ihren Rollen ebenso fluktuie- ren wie die einzelnen Text- und Medienelemente“. Systeme wieNic-las oder tEXtMACHINA sollen so „einem Verfasser eines Textes erlau- ben, mit direkter Leser-Partizipation sowie der Integration des Com- puters in den Kreationsprozess zu experimentieren“ (S. 252). Für die

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(universitäre) Lehre wäre nach Suter das Tool tEXtMACHINAbeson- ders geeignet, das „mit seiner Rechtezuteilung, den Thread-Möglich- keiten sowie den gezielten Umfrage- und Übungsfunktionen“ so aus- gelegt ist, „dass ganze Lehrveranstaltungen damit effizient begangen werden können“ (S. 258).

Bezeichnenderweise wird auf diesen Beitrag im Vorwort nur mit einem Halbsatz verwiesen. Erneut könnte man den Eindruck gewin- nen, dass sich das Vorwort als eine Art Prioritätenliste versteht. Oder liegt der Grund für die ‚Vernachlässigung‘ einzelner Beiträge darin, dass es sich in diesen Fällen um schwer in eine Rubrik einzuordnende Spezialdiskussionen handelt? Für den Rezensenten ergibt sich jeden- falls das Problem, dass –um die Zukunftsträchtigkeit von Suters Kon- zept zu beurteilen – die neuesten Versionen der genannten Systeme intensiv getestet werden müssten, was im engen Rahmen einer Rezen- sion selbstredend unmöglich ist. Es muss deshalb hier offen bleiben, ob z. B. die bereits seit 2004 in Arbeit befindliche „neue Version von Nic-las in PHP“ wirklich„schneller, besser strukturiert und benutzer- freundlicher“(ebd.) geworden ist.

Der dritte Abschnitt des vorliegenden Sammelbandes fokussiert

„Anwendungen in Praxis und Sprachdidaktik“. Im Sinne dieses Praxis- bezugs gehen Eva-M aria Jakobs und Katrin Lehnen im An- schluss an die Usability-Forschung speziell auf das Verfahren des Nut- zertests ein. Bei solchen Tests drohen bekanntlich Verzerrungen, die unter anderem mit den Formulierungsleistungen der Testenden zusam- menhängen. Unter Auswertung von Nutzerkommentaren arbeiten die Verfasserinnen überzeugend heraus, wie gerade auch die Bewertung von Websites durch sprachlich-visuelle Rezeptionsmuster beeinflusst wird. Deshalb müsste die Hypertextlinguistik die Frage klären,„woher die Bewertenden ihr Wissen um bewertungsrelevante Aspekte des Kommunikats und die daran gebundenen Bewertungsmaßstäbe bezie- hen“ (S. 278). Fernziel wäre herauszufinden, „welche spezifischen sprachlich-kommunikativen Kompetenzen Text-Entwickler benötigen, u. a. um analytisch reiche Verfahren, wie sie z. B. die Angewandte Ge- sprächsforschung anbietet, in die Bewertung sprachlicher Textdaten einzubeziehen“(S. 279).

Markus Nickls auf die Wirtschaftspraxis bezogener Beitrag be- fasst sich mit„Single-Source-Writing“(S. 288), womit ein medienüber- greifendes Texten gemeint ist. Das Akronym SSW verweist dabei auf

„eine Sammlung wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse, Methoden und redaktioneller Verfahren, die es ermöglichen, medienneutrale Text- bestände aufzubauen und aus diesen Textbeständen mit möglichst ge- ringem Aufwand medien- und zielgruppengerechte Dokumente zu er- zeugen“ (S. 288). Konkretes Ziel dieser Anleitung zur Verbesserung der Texterstellung in der Wirtschaft ist mithin, dem Kunden „aufwän-

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dige nachträgliche Textanpassungen“ (S. 288) zu ersparen, und zwar dadurch, dass „optimale medienspezifische Varianten für die jeweiligen Zieltexte hinterlegt [werden] und dem Kunden aus einem medienneu- tralen Datenbestand das medial für ihn am besten geeignete Doku- ment angeboten“ wird (S. 288). Nickl vermag darzulegen, wie textlin- guistisches Grundlagenwissen – über das Programmierer in der Regel nicht verfügen – zur Lösung von Detailproblemen, die sich bei diesen Texttransformationen stellen, beitragen kann.

In dem abschließenden Beitrag des vorliegenden Sammelbandes untersucht Matthias Knopp „(Sprach-)didaktische Potenziale syn- chroner computervermittelter Kommunikation“, die auf ihre Verwend- barkeit im Unterricht (speziell im Fach Deutsch bzw. DaZ/DaF) kri- tisch geprüft werden. Knopp geht dabei von der Hypothese aus, dass

„durch den gesteuerten Einsatz von (aktualen) Werkzeugen zur (qua- si-)synchronen cvK in gestalteten Lernkontexten unter der Berück- sichtigung signifikanter und diskursstrategischer (Rahmen-)Parameter ... [die] Unterrichtsqualität im Fach Deutsch sowie DaZ/DaF verbes- sert werden [kann]“ (S. 315). Er muss jedoch einschränken, dass erst

„die kommenden Ergebnisse“ seiner Dissertation zeigen werden, „ob dies faktisch so ist“(S. 317). Auch muss vorerst offen bleiben, ob sich Knopps Bezugnahme auf den diskurslinguistischen Ansatz Dürscheids als fruchtbar erweist: Dürscheids Klassifikation der „Kommunikation im Chat-Raum [...] als Diskurs“ erscheint zwar insofern berechtigt, als

„Produktion und Rezeption einer Äußerung [...] dort direkt aneinander ge- koppelt [sind]. Ob dieses Faktum aber ein Lernen in der nahezu synchronen cvK befördert, kann aufgrund bisheriger Ergebnisse noch nicht gesichert festgestellt werden und soll aus den Ergebnissen des Dissertationsvorhabens hervorgehen“(S. 308).

Eine detaillierte Überprüfung der Knopp’schen Hypothesen kann im Rahmen der vorliegenden Rezension freilich nicht vorgenommen wer- den, zumal die angekündigte Dissertation nach Auskunft des zuständi- gen Instituts noch nicht publiziert ist. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung im Schulversuch ‚abitur-online nrw‘ würde ich allerdings eher nicht vermuten, dass sich signifikante Verbesserungen durch On- line-Lernen nachweisen lassen: Der Einsatz der neuen digitalen Medien eröffnet zwar neue Möglichkeiten für das Kommunikationsfeld Didak- tik; aber auch hier sind die Vorteile – wie stets – mit Nachteilen ver- knüpft, die sich allein schon aus der „Schlüssellochperspektive“ (Ja- kobs/Lehnen) ergeben, die mit der Computerarbeit verbunden ist.

Was die äußere Form der Artikelsammlung angeht, so fallen eine Reihe von falschen Silbentrennungen ins Auge. Bei einem Preis von

€48 darf man eine gründlichere Korrektur erwarten.

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Ob die Anschaffung des Bandes zum jetzigen Zeitpunkt–also fast ein halbes Dutzend Jahre nach der dokumentierten Tagung – noch empfohlen werden kann, ist schwer zu sagen. Für alle nicht mit der Internetforschung befassten Linguisten, die nur eine überschaubare Gesamtdarstellung des Forschungsstandes suchen, sind zumindest die im letzten Teil des Sammelbandes beschriebenen (Dissertations-)Pro- jekte zu fachspezifisch. Die dort festgehaltenen Einzelergebnisse – punktuell sind es ja sogar nur Hypothesen, die noch belegt werden müssen–verstellen eher den Blick auf das Ganze.

Analog zur Tagung, die sie dokumentiert, scheint die Publikation in erster Linie auf einen engeren Fachkreis ausgerichtet zu sein. Zwei- fellos ist jedoch eine Reihe von Artikeln zumindest für diesen engeren Kreis noch von Relevanz, auch wenn die Ergebnisse der Internetfor- schung in der Regel schnell veralten.

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