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Storytelling für und mit türkischstämmigen pflegenden Angehörigen

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Academic year: 2021

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School of Public Health

Storytelling für und mit türkischstämmigen

pflegenden Angehörigen

Umsetzung und Erfahrungen im Rahmen der Studie saba zur Verbesserung der häuslichen Pflege bei türkischen Migrantinnen und Migranten

Dissertationsschrift

zur Erlangung des akademischen Grades

Doctor of Public Health (Dr. PH)

Bielefeld, 22.12.2017

Eingereicht von: Susanne Glodny

Diplom Biologin, M. Sc.

Matrikelnummer: 1829058

1. Prüfer / Erstgutachter: Prof. Dr. med. Oliver Razum M. Sc.

2. Prüferin / Zweitgutachterin: Prof. Dr. rer. soc. Kerstin Hämel

(2)

Ein Teil der Forschungsarbeit dieser Promotion wurde im Rahmen des Pflegeforschungsverbundes NRW durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert.

(3)

Danksagung

„Es gibt auf der Welt kaum ein schöneres Übermaß als das der Dankbarkeit.“

Jean de La Bruyère

An dieser Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Oliver Razum herzlichst für die Bereitstellung des Themas, die Begutachtung der vorliegenden Arbeit, den fachlichen Austausch, sein Verständnis und seine schier unermessliche Geduld danken.

Ich danke Frau Prof. Dr. Kerstin Hämel für die konstruktiven Hinweise und Anregungen sowie für ihre Bereitschaft als Zeitgutachterin die Arbeit zu bewerten.

Meiner Kollegin Frau Dipl. Soz. Dipl. Päd. Yüce Yilmaz-Aslan danke ich für ihre engagierte Mitarbeit in dem Projekt saba.

Die vorliegende Dissertationsschrift wäre ohne die Projekt-Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung und meine persönliche Förderung durch das Rektorat der Universität Bielefeld, so wie durch die Aufnahme in den Pflegeforschungsverbund NRW nicht möglich gewesen. Für diese Unterstützung und Förderung möchte ich meinen tiefsten Dank aussprechen.

Ein spezieller Dank gebührt den Kooperationspartnerinnen und -partnern, welche maßgeblich an dem Gelingen der Studie saba beteiligt waren. Hier sind zum einen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (Münster) für die Unterstützung bei der registerbasierten Stichprobenziehung, der ersten Kontaktaufnahme und der Mithilfe bei den Erhebungen zu nennen. Zum anderen danke ich den Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern, Mediatorinnen und Mediatoren des Ethno-Medizinischen Zentrums e. V. (Hannover). Zusätzlich danke ich an dieser Stelle noch all jenen, die das Projekt durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten oder Informationsmaterial unterstützt haben.

Allen Kolleginnen und Kollegen und der Fakultät für Gesundheitswissenschaften möchte ich meinen Dank aussprechen, dass sie mich über Jahre hinweg beständig ermutigt und unterstützt haben.

Ebenso danke ich meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden für die Unterstützung und das Ertragen meiner Launen.

Ein besonderer Dank gilt allen türkischen Pflegebedürftigen und ihren pflegenden Angehörigen. Ohne ihre Beteiligung hätte es diese Studie nicht gegeben.

(4)

Inhaltsverzeichnis

Danksagung ... I Inhaltsverzeichnis ... II Abbildungsverzeichnis ... V Tabellenverzeichnis ... V Abkürzungsverzeichnis ... VI 1 Einleitung ... 1 2 Hintergrund ... 4 2.1 Themenfeld Migration ... 5

2.1.1 Migration und Bevölkerungsentwicklung ... 6

2.1.2 Ältere Migrantinnen und Migranten in Deutschland ... 9

2.1.3 Pflege und Versorgung in Migrantenfamilien ... 13

2.2 Storytelling ... 17

2.2.1 Storytelling nach Greenhalgh ... 19

2.2.2 Storytelling im Bereich Public Health und Medizin ... 21

2.2.2.1 Übersichtsarbeiten zum Thema Storytelling ... 23

2.2.2.2 Studien mit Storytelling als Intervention ... 24

2.2.3 Die pädagogischen Konzepte von Freire und Boal ... 26

3 Ziel der Arbeit, Fragestellungen und Public Health Relevanz ... 30

3.1 Ziel der Arbeit ... 30

3.2 Fragestellungen ... 32

3.2.1 Fragestellung I: Erreichbarkeit einer vulnerablen Gruppe ... 33

3.2.2 Fragestellung II: Entwicklung der Intervention ... 34

3.2.3 Fragestellung III: Umsetzung der Intervention ... 34

3.2.4 Fragestellung IV: Evaluation der Intervention ... 35

3.2.4.1 Subjektiver Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen ... 36

3.2.4.2 Objektivierter Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen ... 37

3.2.4.3 Wahrgenommener Stress pflegender Angehöriger ... 38

3.2.4.4 Belastung der Pflegenden ... 38

3.2.4.5 Empowerment ... 39 3.3 Public Health-Relevanz ... 40 3.3.1 Makro-Ebene ... 40 3.3.2 Meso-Ebene ... 46 3.3.3 Mikro-Ebene ... 49 4 Methodisches Vorgehen ... 53 4.1 Verortung ... 53 4.2 Konzeptioneller Rahmen ... 54 4.2.1 Datenschutzkonzept ... 54 4.2.2 Ethikvotum... 56 4.2.3 Studienbeginn ... 56 4.2.4 Datenbanken ... 56

4.3 Storytelling als Intervention für pflegende Angehörige ... 57

4.3.1 Bedarfsdefinition ... 58

4.3.2 Aufbau und Konzeption der „Starter“-Geschichten ... 59

4.3.3 Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren im Projekt saba ... 61

4.3.3.1 Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren aus dem MiMi-Projekt ... 61

4.3.3.2 Weiterqualifizierungsschulung ... 62

4.3.3.3 Informationspaket... 63

4.4 Zugang zur Zielgruppe ... 63

4.4.1 Registerbasierte Stichprobenziehung ... 63

4.4.1.1 Datensatz des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ... 64

4.4.1.2 Ein- und Ausschlusskriterien für die Stichprobenziehung ... 64

4.4.1.3 Manuelle Durchsicht und Bearbeitung des Stichprobendatensatzes ... 66

4.4.1.4 Postalische Kontaktaufnahme ... 67

4.4.1.5 Ort und Durchführung der Informationsveranstaltungen ... 67

4.4.2 Rekrutierung über das Schneeball-Prinzip ... 68

4.5 Feldzugang und Empirie ... 69

4.5.1 Umsetzung und Gruppentreffen ... 69

(5)

4.6 Evaluation ... 71

4.6.1 Quantitative Analyse ... 71

4.6.2 Qualitative Analyse ... 72

4.7 Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit ... 72

4.7.1 Homepage ... 73

4.7.2 Öffentlichkeitsarbeit ... 73

4.7.3 Berichte und Publikationen ... 73

4.8 Literaturrecherchen ... 73

4.9 Software und statistische Testverfahren ... 74

5 Ergebnisse ... 75

5.1 Rekrutierung von Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern ... 75

5.1.1 Registerbasierte Stichprobenziehung ... 75

5.1.1.1 Charakteristika der Stichprobe ... 76

5.1.1.2 Response und Teilnahme an den Informationsveranstaltungen ... 78

5.1.1.3 Responder und Non-Responder-Analyse ... 80

5.1.2 Direkte Kontaktierung über das Schneeball-Prinzip ... 82

5.2 Beschreibung der Studienpopulation ... 83

5.2.1 Charakteristika der Pflegebedürftigen ... 84

5.2.2 Charakteristika der pflegenden Angehörigen... 85

5.3 Teilnahmebereitschaft ... 86

5.3.1 Teilnahme an der Intervention ... 87

5.3.2 Teilnahme an den Befragungen / Erhebungszeitpunkten ... 88

5.4 Ergebnisse der Befragungsinstrumente ... 88

5.4.1 Visuelle Analogskala (VAS) ... 89

5.4.2 EQ-5D ... 91

5.4.3 Begutachtung durch den MDK ... 93

5.4.4 Perceived Stress Scale (PSS-14) ... 95

5.4.5 Häusliche Pflege-Skala (HPS) ... 98

5.4.6 Empowerment-Fragebogen ... 102

5.5 Einschätzungen aus den Angehörigentreffen ... 105

6 Diskussion ... 108

6.1 Erreichbarkeit der Zielgruppe ... 109

6.2 Entwicklung der Intervention ... 111

6.3 Umsetzung der Intervention ... 112

6.4 Evaluation der Intervention... 112

6.5 Limitationen und Stärken... 116

7 Fazit ... 118 8 Literaturverzeichnis ... 120 9 Anhang ... 129 9.1 Projektantrag ... 129 9.2 Datenschutzkonzept ... 140 9.3 Datenschutzrechtliche Bewertung ... 151

9.4 Ergänzungsdokument zum Studienprotokoll ... 152

9.5 Registerbasierte Stichprobenziehung ... 158

9.5.1 Ausgewählte Regionen für die Stichprobenziehung ... 158

9.5.2 Variablen für die Stichprobenziehung und Kontaktierung ... 158

9.5.3 Stichprobenziehung aus dem Datensatz des MDK WL ... 159

9.5.4 Erste Kontaktaufnahme über den MDK WL ... 160

9.5.5 Einladungsschreiben zur Infoveranstaltung ... 161

9.5.6 Informationsveranstaltungen: Termine und Orte ... 162

9.6 Zusammenstellung der Geschichten für die Gruppentreffen ... 163

9.7 Fragebogeninstrumente ... 167

9.7.1 EQ-5D (deutsche und türkische Version) ... 167

9.7.2 Häusliche Pflege-Skala (deutsche und türkische Version) ... 169

9.7.3 Perceived stress scale (deutsche und türkische Version) ... 172

9.7.4 Empowermentfragebogen (deutsche und türkische Version) ... 173

9.8 Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit ... 174

9.8.1 Artikel in der türkischen Zeitschrift Zaman Avrupa ... 175

9.8.2 Programmübersicht Kanal 21 ... 176

9.8.3 Publikationsliste ... 176

(6)

9.10 Weitere Ergebnisse der Befragungsinstrumente ... 181

9.10.1 Weitere Ergebnisse zur VAS... 181

9.10.2 Weitere Ergebnisse zum EQ-5D ... 184

9.10.3 Weitere Ergebnisse zur PSS-14 ... 187

9.10.4 Weitere Ergebnisse zur HPS ... 190

(7)

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Vereinfachtes Modell zur Verbesserung des pflegerischen Handelns durch

pflegende Angehörige bei türkischen Migrantinnen und Migranten... 31

Abbildung 2: Prävalenz der Pflegebedürftigkeit in Deutschland im Jahr 2015 ... 41

Abbildung 3: Zeitreihe zur Entwicklung der Pflegebedürftigkeit... 43

Abbildung 4: Zeitreihe zur prozentualen Verteilung nach Versorgungsart ... 46

Abbildung 5: Pflegerelevante Themen für die pflegenden Angehörigen ... 58

Abbildung 6: Kriterien der „Starter“-Geschichten ... 60

Abbildung 7: Regionale Verteilung türkischer Staatsangehöriger (Stand: 31.12.2005) ... 65

Abbildung 8: Regionale Verteilung der angeschriebenen Pflegebedürftigen ... 76

Abbildung 9: Prozentuale Verteilung der Pflegestufen in der Stichprobe ... 77

Abbildung 10: Altersverteilung zum Zeitpunkt der Stichprobenziehung ... 77

Abbildung 11: Response auf die registerbasierte Stichprobenziehung ... 79

Abbildung 12: Geschlechterverteilung in den verschiedenen Gruppen ... 80

Abbildung 13: Prozentuale Verteilung nach Pflegestufen ... 81

Abbildung 14: Alternative Rekrutierungswege ... 82

Abbildung 15: Altersvergleich: Pflegebedürftige versus pflegende Angehörige ... 83

Abbildung 16: Altersverteilung der Studienpopulation ... 84

Abbildung 17: Häufigkeit der Teilnahme an den Interventionstreffen ... 86

Abbildung 18: aktueller Gesundheitszustand anhand der VAS (ITT) ... 90

Abbildung 19: Perceived Stress Scale – Häufigkeitsverteilung (ITTImputation) ... 96

Abbildung 20: Wahrgenommener Stress pflegender Angehöriger (ITTImputation) ... 97

Abbildung 21: PSS: Vergleich zwischen den Gruppen (PPImputation) ... 98

Abbildung 22: HPS-Summenscore: Häufigkeitsverteilung (ITTImputation) ... 99

Abbildung 23: Subjektive Belastung pflegender Angehöriger (ITTImputation) ... 100

Abbildung 24: Einschätzungen der Mediatorinnen und des Mediators ... 106

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Bevölkerungsstruktur nach Migrationsstatus (2015) ... 7

Tabelle 2: Zeitreihe von 2005 bis 2015 ... 8

Tabelle 3:Storytelling-Projekte im Bereich Public Health oder in der Medizin ... 22

Tabelle 4: Schätzung zur Pflegebedürftigkeit im Jahr 2015 ... 42

Tabelle 5 Mögliche Inanspruchnahmebarrieren und betroffene Akteure ... 49

Tabelle 6: Strukturierung der Angehörigentreffen ... 70

Tabelle 7: Instrumente für die Baseline- und die Abschlusserhebung ... 72

Tabelle 8: Anzahl der Personen nach Begutachtungshäufigkeit ... 78

Tabelle 9: Verteilung nach Gutachtenart ... 81

Tabelle 10: Pflegestufen zu Beginn der Baseline-Erhebung ... 84

Tabelle 11: Erst- und Zweitdiagnosen der pflegebedürftigen Personen ... 85

Tabelle 12: Anwesenheit in den verschiedenen Interventionsgruppen ... 87

Tabelle 13: Übersicht über die eingesetzten Instrumente ... 89

Tabelle 14: EQ-5D: Einschätzung des subjektiven Gesundheitszustandes ... 92

Tabelle 15: Ergebnisse des Begutachtungsverfahrens ... 94

Tabelle 16: Interpretation des HPS Summenwertes ... 101

Tabelle 17:Antworten der Pflegenden im Empowerment-Fragebogen (PP) ... 103

(8)

Abkürzungsverzeichnis

Abs. Absatz

AU Arbeitsunfähigkeit

AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.

AWO Arbeiterwohlfahrt

BBS Begutachtungs- und Beratungsstelle BIBB Bundesinstitut für Berufsbildung

BKK Bundesverband der Betriebskrankenkassen BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BMI Bundesministerium des Innern

bzgl. bezüglich

bzw. beziehungsweise

CA Canada

DE Deutschland

DESTATIS Statistisches Bundesamt

d. h. das heißt

DSG Datenschutzgesetz

ebd. ebenda

EMZ Ethno-Medizinisches Zentrum Hannover e. V. e. V. eingetragener Verein

GEP Gute epidemiologische Praxis

H0 Nullhypothese

H1 Alternativhypothese

HPS Häusliche Pflegeskala I Informationsveranstaltung

ICD Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

ITT Intention to treat

IFAK Multikulturelle Jugend-, Familien- und Seniorenarbeit

k. A. keine Angabe

KI Konfidenzintervall

MDK Medizinischer Dienst der Krankenversicherung

MGFFI Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen

MiMi Mit Migranten - für Migranten µ arithmetischer Mittelwert Mrd. Milliarden MSO Migrantenselbstorganisationen NRW Nordrhein-Westfalen PFV Pflegeforschungsverbund PP Per Protokoll

PSS Perceived Stress Scale

R Rückantwortkarte

RückHG Rückkehrhilfegesetz

SD Standardabweichung

SGB Sozialgesetzbuch

T Telefonische Rückmeldung

t0 Zeitpunkt vor Beginn der Intervention = Baseline-Erhebung t1 Zeitpunkt der zweiten Befragung, nach der Intervention t2 Zeitpunkt der Abschluss-Erhebung

u. a. unter anderem

UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization US Vereinigte Staaten von Amerika

u.v.m. und vieles mehr VAS Visuelle Analogskala

WL Westfalen-Lippe

(9)

1 Einleitung

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“

Martin Buber

Als ich Mitte 2005 erstmals mit den Themenfeldern Migration und Pflege in Kontakt kam, gab es nur wenige Publikationen oder Studien zur häuslichen Versorgung pflegebedürftiger Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Vornehmlich waren die Arbeiten im Bereich der qualitativen Forschung angesiedelt. Es mangelte an Zahlen oder Schätzungen zum Pflegebedarf in dieser Bevölkerungsgruppe. Berechnungen von Inzidenz und Prävalenz der Pflegebedürftigkeit von Migrantinnen und Migranten waren nicht möglich. Das Thema häusliche Pflege wirkte wie ein „Familieninterna“ und unterlag scheinbar einer gewissen Tabuisierung. War dies nur ein Klischee oder wurden Migrantinnen und Migranten nicht in der ambulanten pflegerischen Versorgung wahrgenommen? Wurden sie vielleicht nicht von den Angeboten der Altenhilfe erreicht? Wie gestaltete sich die Pflegesituation in Migrantenfamilien und wie wurde sie familial bewältigt?

Untersuchungen im Bereich Durchimpfungsraten, Müttersterblichkeit und der kurativen Versorgung hatten bereits gezeigt, dass Migrantinnen und Migranten häufig einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung hatten als die autochthone Bevölkerung [1].

Im Jahr 2002 – sieben Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung –

veröffentlichte der „Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege“ ein Memorandum. Darin wurden Politik und Gesellschaft aufgerufen für einen gleichberechtigten Zugang aller älteren Menschen zu den Institutionen der Altenhilfe zu sorgen. Dieser Zugang müsste unabhängig von sozialer, ethnischer oder kultureller Herkunft den Seniorinnen und Senioren möglich sein. Zeitgleich veröffentlichte der Arbeitskreis zusammen mit dem Kuratorium deutsche Altenhilfe eine Handreichung für eine kultursensible Altenpflege. In dieser Handreichung wurden Lösungsvorschläge und Handlungsbedarfe für eine interkulturelle Öffnung der Altenhilfe auf verschiedenen Ebenen aufgezeigt [2].

Vor diesem Hintergrund bot sich mir die Möglichkeit, im Rahmen der zweiten Phase des BMBF-geförderten Pflegeforschungsverbundes [3], ein Konzept für eine randomisierte kontrollierte Studie zu entwerfen und eine kulturangepasste Intervention zu entwickelt, durchzuführen und ganz im Sinne von Evidence-based Public Health zu evaluieren.

(10)

Im Fokus der Studie standen türkische pflegende Angehörige und ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder. Dabei wurden interdisziplinär die Bereiche Gesundheitswissenschaften, Pflege, Epidemiologie, Demografie, Pädagogik und Gerontologie zusammengeführt.

Die vorliegende Dissertationsschrift gliedert sich wie folgt: im ersten Kapitel schildere ich kurz den initialen Kontext und meine Motivation diese Arbeit in Form eines Promotionsvorhabens durchzuführen. Zudem stelle ich die Gliederung der Arbeit vor.

Im zweiten Kapitel wird der Stand der Forschung in den Themenfeldern

Migration und Storytelling1 aufgezeigt. Im Anschluss an die Begriffsdefinition

Migrant bzw. Migrantin und einer Darstellung der Bevölkerungsstruktur bzw. -entwicklung wird die Gesundheitssituation von Migrantinnen und Migranten in Deutschland dargelegt. Anschließend werden die Aspekte Pflege und Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen in Migrantenfamilien vorgestellt.

Im Themenfeld Storytelling wird folgenden Fragen nachgegangen:

 Was ist Storytelling?

 Wie wirkt Storytelling?

 Wo wurde es bisher eingesetzt und welche Erfahrungen gibt es?

 Was unterscheidet das Storytelling von den pädagogischen Konzepten

Pädagogik der Unterdrückten (Freire) und Theatre for development (Boal)? Im dritten Kapitel wird das Ziel der Arbeit beschrieben. Anschließend führe ich die Fragestellungen auf, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersucht wurden. Zur Darstellung der Public Health Relevanz werden die Bereiche demografischer Wandel und dessen Auswirkungen auf die Pflege in Deutschland sowie die pflegerische Versorgung, sowohl durch professionell Pflegende wie auch durch pflegende Angehörige, thematisiert. Dies wird ergänzt durch eigene Auswertungen der Pflegestatistik mit Zeitreihen, Berechnung der Prävalenz der

Pflegebedürftigkeit im Jahr 2015 und – darauf aufbauend – einer Schätzung zur

Zahl pflegebedürftiger Seniorinnen und Senioren in der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund mit Fokus auf türkischstämmige Personen.

Im Methodenkapitel werden u. a. alle Projektschritte von der Antragstellung, über die registerbasierte Stichprobenziehung und das Schneeballverfahren zur Rekrutierung türkischer pflegebedürftiger Personen und ihrer Angehörigen vorgestellt. Eine ausführliche Darstellung schien aufgrund der Zugangs-schwierigkeiten zu dieser vulnerablen Gruppe geboten.

1

Die Begriffe „Storytelling“ und „sharing stories“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet.

(11)

Außerdem werden die Entwicklung und Erprobung der Intervention auf Basis des Storytellings [4] transparent und nachvollziehbar dargestellt. Zudem finden sich im Methodenkapitel die Aktivitäten im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit und Angaben zur Literaturrecherche. Ebenfalls wurde die genutzte Software sowie die statistischen Testverfahren aufgelistet.

Im Ergebniskapitel wird die Rekrutierung der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, inklusive einer Non-Responder-Analyse, dargestellt. Eine deskriptive Beschreibung der Studienpopulation und des Teilnahmeverhaltens bzgl. der Angehörigentreffen sowie quantitative Auswertungen und Analysen der verwendeten Fragebogeninstrumente (z. B. Intention to treat Analysen) komplettieren das Ergebniskapitel.

Im sechsten Kapitel diskutiere ich die Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellungen. Dabei werden die Stärken und Schwächen der Arbeit und der Vorgehensweise eruiert. Die im Rahmen dieser Promotionsarbeit entwickelte Intervention wird im Hinblick auf die erreichten Ergebnisse und der potentiellen Möglichkeiten im Bereich eines Empowerments pflegender Angehöriger und der Selbsthilfe bewertet.

Anschließend nenne ich im Fazit Implikationen und Desiderata, die sich aus der Studie bzw. der Studiendurchführung ergeben.

Der Anhang enthält alle studienrelevanten Dokumente, wie z. B. den Antrag im Rahmen des Pflegeforschungsverbundes mit dem Datenschutzkonzept und einem Ergänzungsdokument. Die Fragebogeninstrumente sowie die im Rahmen

der Intervention verwendeten Geschichten – im Weiteren als

„Starter“-Geschichten bezeichnet – sind einander in deutscher und türkischer Sprache im Anhang gegenübergestellt. Zusätzlich finden sich im Anhang weitere Auswertungen und Analysen (z. B. per Protokoll Analysen), die der Lesbarkeit halber nicht im Ergebnisteil aufgeführt wurden.

(12)

2 Hintergrund

„Aber selbst unter der Voraussetzung, daß auf mittlere Sicht weitere Arbeitsmarktprobleme gegeben sind, muß die künftige Politik gegenüber den heute in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien davon ausgehen, daß hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die Mehrzahl der Betroffenen nicht mehr „Gastarbeiter“ sondern Einwanderer sind, für die eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer aus den verschiedensten Gründen nicht wieder in Betracht kommt.“

Kühn-Memorandum (1979) [5]

Im September 1979 veröffentlichte der erste Ausländerbeauftragte der

Bundesrepublik Deutschland das nach ihm benannte Kühn-Memorandum2. In

diesem Memorandum wurde bereits eindrücklich auf die Bedeutung einer vorbehaltlosen und dauerhaften Integration der ausländischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit ihren Familien hingewiesen, vor allem in sozial- und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Dazu sollten u. a. Angebote im Bildungsbereich, in der frühkindlichen Förderung und ein ungehinderter Zugang zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für jugendliche Migrantinnen und Migranten bereitgestellt werden. Zudem wurde ein Optionsrecht auf Einbürgerung für die in Deutschland geborenen Jugendlichen vorgeschlagen [5]. Dennoch blieb sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft das Dogma bestehen, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei.

Im Jahr 2001 konstatierte die unabhängige Kommission „Zuwanderung“

(Süssmuth-Kommission) „Faktisch ist Deutschland seit langem ein

Einwanderungsland“ [6]. In ihrem Bericht forderte die Kommission von der Politik, Maßnahmen zur Integration zu fördern, die den zugewanderten Personen eine

gleichberechtigte Partizipation „am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen,

politischen und kulturellen Leben ermöglichen“ [ebd.]. Anzumerken ist, dass die Kommission von der Gestaltung einer arbeitsmarktbezogenen Zuwanderung ausging.

Am 1. Januar 2005 trat schließlich ein neues Zuwanderungsgesetz in Kraft. Die Vielzahl unterschiedlicher Aufenthaltstitel wurde im Rahmen dieses Gesetztes auf folgende zwei Aufenthaltstitel reduziert: die befristete Aufenthaltserlaubnis und die unbefristete Niederlassungserlaubnis [7].

2

Heinz Kühn (1912-1992): deutscher Politiker (SPD) und erster Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik Deutschland.

(13)

Zudem wurden EU-Vorgaben umgesetzt (z. B. Flüchtlingsstatus bei nicht staatlicher oder bei geschlechtsspezifischer Verfolgung) sowie die obligate Teilnahme an Integrationskursen (Sprach- und Orientierungskurse) gesetzlich verankert.

Über die letzten Dekaden gab es mehrere größere Zuwanderungswellen nach Deutschland, von denen die letzte noch anhält. Hier sind u. a. folgende zu nennen:

 die Arbeitsmigration in den 1960er und 1970er Jahren,

 der Zuzug von (Spät-) Aussiedlern und Aussiedlerinnen aus den Staaten der

ehemaligen Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten in den 90er Jahren und

 spätestens seit 2015 die zahlenmäßig verstärkte Einreise von Flüchtlingen

und Asylsuchenden.

Sowohl für migrierte Personen als auch für das Zielland bietet eine Zuwanderung Chancen und Herausforderungen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Miteinanders. Dies umfasst die Sozialpolitik und somit ebenso die Bereiche Gesundheit und Pflege.

2.1 Themenfeld Migration

Es gibt nicht den Migranten oder die Migrantin, ebenso wenig wie es den Türken / die Türkin oder den Deutschen / die Deutsche gibt. Eine Betrachtung von Gruppen, ohne in Stereotypisierung zu verfallen, stellt eine besondere Herausforderung dar.

Migrantinnen und Migranten sind eine heterogene Gruppe. Sie unterscheiden sich u. a. in kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht. Zudem kann die Migration, d. h. eine Verlegung des Lebensmittelpunktes, ggf. über Grenzen hinweg, aus verschiedensten Gründen stattfinden. Sie kann freiwillig oder erzwungen sein und sie kann unterschiedliche Folgen haben (z. B. rechtlich, sozioökonomisch, gesellschaftlich). Im Mikrozensus 2005 wird erstmals der Ausdruck Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund definiert und verwendet:

Zu den Menschen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland „alle

nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ gezählt [8].

(14)

Über Einführung dieser Bezeichnung (in die Statistiken) war es möglich, ein genaueres Bild, z. B. zur demografischen Situation Deutschlands, aufzuzeigen. Nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern auch das Geburtsland, der Aufenthaltsstatus und der eigene Migrationsstatus (eigene Migrationserfahrung vorliegend oder nicht selbst migriert) können so berücksichtigt werden.

2.1.1 Migration und Bevölkerungsentwicklung

Als in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ein starker Mangel an Arbeitskräften in Deutschland herrschte, wurden Arbeiter aus anderen Ländern angeworben, um in Deutschland als sogenannte „Gastarbeiter“ zu arbeiten und (zeitweise) zu leben. Anwerbeverträge wurden u. a. mit Italien (1955),

Griechenland (1960), Spanien (1960) und der Türkei3 (1961) abgeschlossen. Die

Ankunft des millionsten Gastarbeiters in Köln am 19.09.1964 wurde

medienwirksam gefeiert4 [9].

Bedingt durch die Ölkrise und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Einbruch wurde 1973 die Anwerbung von „Gastarbeitern“ gestoppt. Ein Familiennachzug nach Deutschland war aber noch möglich.

Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten bereits 2,6 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland, davon 900.000 mit türkischer Staatsbürgerschaft. Zehn Jahre später wurde am 01.12.1983 aufgrund der anhaltenden Rezessionsphase das Rückkehrhilfegesetz (RückHG) in Kraft gesetzt, mit dem Ziel, „Gastarbeitern“ eine Rückkehr in ihr Herkunftsland zu

ermöglichen [10]. Die Rückkehrhilfe war an enge Kriterien5 gebunden und wurde

als einmalige finanzielle Aufwendung6 auf Antrag gewährt. Die Bundesregierung

ging von etwa 19.000 Antragsberechtigten aus. Tatsächlich nahmen nur insgesamt 7.581 ausländische Arbeitnehmer (davon 83,2 % türkische Staatsbürger) bis Mitte April 1984 dieses Angebot an [11].

Da türkischstämmige Migrantinnen und Migranten die Zielgruppe der vorliegenden Arbeit darstellen, erfolgt an dieser Stelle keine weitere Darstellung des umfangreichen Migrationsgeschehens der letzten Jahrzehnte. Mittlerweile leben Menschen aus 199 verschiedenen Staaten in Deutschland [12].

3

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde am 30.10.1961 geschlossen.

4

Als Gastgeschenk erhielt der Portugiese Armando Rodrigues de Sá damals ein Mokick und einen Blumenstrauß.

5

Ein Anspruch bestand nur für die ausländischen Arbeitnehmer, die aufgrund von Konkurs oder Betriebsstilllegung ihren Arbeitsplatz verloren hatten oder von längerer Kurzarbeit betroffen waren.

6

Bei Vorliegen der Anspruchsberechtigung betrug die Rückkehrhilfe 10.500 DM und erhöhte sich für jedes Kind des Arbeitnehmers, das vor dem 01.06.1983 mit eingereist war, um 1.500 DM.

(15)

Seit 1950 werden die Angaben zur Bevölkerung Deutschlands vom statistischen Bundesamt erfasst. Der Bevölkerungsstand betrug damals 69,3 Millionen Menschen. Im Jahr 1991 lebten schließlich erstmals mehr als 80 Millionen Menschen in Deutschland und im Jahr 2002 erreichte die Bevölkerungszahl mit 82,5 Millionen einen Höchststand.

Ende 2015 lebten 81.4 Millionen Menschen in Deutschland, davon 17,1 Millionen (21 %) mit einem Migrationshintergrund. Als Hauptherkunftsländer sind die Türkei, Polen und die Russische Föderation zu nennen, wobei mit einem Anteil von 16,7 % die meisten Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei stammen (Polen: 9,9 %; Russische Föderation: 7,1 %).

Die Bevölkerungsgruppen mit bzw. ohne Migrationshintergrund

unterscheiden sich deutlich in ihrer Altersstruktur. Das mittlere Alter der Gesamtbevölkerung im Jahr 2015 betrug 44,7 Jahre. Für die Gruppe der Menschen ohne Migrationshintergrund lag das mittlere Alter mit 47,1 Jahren etwas höher als das Alter der Gesamtbevölkerung.

Im Gegensatz dazu lag das Alter für die Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund mit 35,6 Jahren unter dem mittleren Alter der Gesamtbevölkerung. Türkischstämmige Menschen waren mit einem mittleren Alter von 33,0 Jahren (7,3 % ≥ 65 Jahre) etwa 11,7 Jahre jünger als die Gesamtbevölkerung [13].

Tabelle 1: Bevölkerungsstruktur nach Migrationsstatus (2015)

Migrationsstatus Insgesamt (*1.000) % Frauen ≥65 Jahre (*1.000) % Frauen Anteil der ≥65 Jährigen in der jeweiligen Bevölkerungs-gruppe Bevölkerung insgesamt 81.404 50,9 % 17.679 56,3 % 21,7 % ohne Migrationshintergrund 64.286 51,3 % 15.962 56,7 % 24,8 % mit Migrationshintergrund 17.118 49,4 % 1.718 52,0 % 10,0 % Türkei 2.851 48,4 % 208 49,0 % 7,3 %

Türkei (mit eigener

Migrationserfahrung) 1.364 49,0 % 207 49,3 % 15,2 %

Quelle: DESTATIS [14] und eigene Berechnungen

Frauen waren in den höheren Altersgruppen prozentual stärker vertreten. Dies zeigte sich sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch für Menschen mit bzw. ohne Migrationshintergrund. In der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe ≥ 65 Jahre war demgegenüber mit 51,0 % ein etwas höherer Männeranteil feststellbar.

(16)

Mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung bzw. fast ein Viertel der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund war 65 Jahre oder älter. Im Gegensatz dazu waren 10,0 % der Menschen mit Migrationshintergrund respektive 7,3 % der türkischstämmigen Personen in der Altersklasse von 65 Jahren und älter (siehe Tabelle 1).

Die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe stellt im Vergleich zur

Gesamtbevölkerung noch eine junge Gruppe dar. Eine demografische Alterung zeichnet sich allerdings auch hier ab. Prozentual gesehen sind türkischstämmige Migrantinnen und Migranten die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe (siehe Tabelle 2).

Während die Gesamtbevölkerung in den Jahren von 2005 bis 2015 um 1,3 % schrumpfte, nahm der Anteil der Menschen innerhalb der Altersgruppe ≥ 65 Jahre um 5,9 % zu. Innerhalb der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund wuchs der Anteil der Menschen in der Altersgruppe ≥ 65 Jahre in den Jahren von 2005 bis 2015 um 38,7 %. Innerhalb der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe

war sogar ein Anstieg von 101,2 %7 zu beobachten: 2015 waren etwa 104.600

türkischstämmige Menschen mehr in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren als im Jahr 2005.

Tabelle 2: Zeitreihe von 2005 bis 2015 Jahr Bevölkerungs-gruppe 2005 2009 2013 2015 Veränderung von 2005 zu 2015 in der jeweiligen Bevölkerungs-gruppe Gesamtbevölkerung 82,47 Mio. (100,0 %) 81,90 Mio. (100,0 %) 80,61 Mio. (100,0 %) 81,40 Mio. (100,0 %) - 1,3 % Gesamtbevölkerung ≥65 Jahre 16,37 Mio. (19,8 %) 17,03 Mio. (20,8 %) 17,15 Mio. (21,3 %) 17,68 Mio. (21,7 %) + 5,9 % Menschen mit Migrationshinter-grund ≥ 65 Jahre 1,24 Mio. (1,5 %) 1,46 Mio. (1,8 %) 1,55 Mio. (1,9 %) 1,72 Mio. (2,1 %) + 38,7 % Türkischstämmige Menschen ≥ 65 Jahre 103.400 (0,12 %) 153.000 (0,19 %) 184.000 (0,23 %) 208.000 (0,26 %) + 101,2 %

Quelle: DESTATIS [13, 14] und eigene Berechnungen

Aufgrund der demografischen Situation wird die Zahl älterer Migrantinnen und Migranten in den kommenden Jahren weiter zunehmen

7 Im Zeitraum von 2005 bis 2013 nahm der Anteil der Personen in der Altersgruppe ≥ 65

(17)

Lebten im Jahr 1999 erst etwa 520.000 ältere Migrantinnen und Migranten im Alter über 60 Jahre in Deutschland [15], so hat sich ihre Zahl in einem Zeitraum von fast zwei Dekaden etwa verfünffacht und lag im Jahr 2015 bei 2,5 Millionen

Menschen in der Altersklasse ≥ 60 Jahre8.

Anders ausgedrückt: etwa jede 10. Person im Alter von 65 Jahren und älter hatte im Jahr 2015 einen Migrationshintergrund. Jede 85. Person in dieser

Altersklasse war türkischstämmig9.

2.1.2 Ältere Migrantinnen und Migranten in Deutschland

Die ausländischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die im Rahmen der Anwerbeabkommen in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen, halfen beim wirtschaftlichen Aufbau des Landes. Beide Seiten, sowohl die Migrantinnen und Migranten, als auch die Deutschen gingen damals von einer zeitlich befristeten Zuwanderung aus.

Im Rahmen der Anwerbeabkommen wurden die Ausreisewilligen bereits im Heimatland einer ausgiebigen gesundheitlichen Untersuchung unterzogen.

Menschen mit auffälligen Lungenbefunden, Herz-Kreislauferkrankungen,

pathologischen Auffälligkeiten oder mit infektiösen Erkrankungen durften nicht

zum Arbeiten nach Deutschland einreisen. Ebenso gab es

Altersbeschränkungen: Frauen mussten jünger als 45 Jahre und Männer jünger als 40 Jahre sein. Für ungelernte Migranten lag die Altersgrenze bereits bei 30 Jahren [16]. Es durften nur ledige Personen nach Deutschland einreisen. Zudem mussten die Ausreisewilligen eine Schule besucht haben und lesen und schreiben können [ebd.].

Aufgrund dieser strengen Auswahl im Herkunftsland wiesen die einreisenden ausländischen Arbeitskräfte einen besseren Gesundheitszustand mit niedrigeren Mortalitäts- und Morbiditätsraten auf als die Bevölkerung Deutschlands. Diese Beobachtung wird als ‚Healthy Migrant Effect‘ bezeichnet [17, 18]. Über gesundheitlich belastende Arbeiten in Schicht- und Akkordarbeit relativierte sich im Laufe des Lebens dieser positive Effekt bei den Zuwanderinnen und Zuwanderern. Zusätzlich führten schwierige Lebensbedingungen mit einem

niedrigen sozioökonomischen Status zu einem Risikoverhalten (z. B.

Tabakkonsum), welches vergleichbar dem Verhalten der autochthonen Bevölkerung mit einem ähnlichen Sozialstatus ist [ebd.].

8

796.000 Personen waren in der Altersklasse von 60 bis unter 65 Jahren.

9 In Hinblick auf die Gesamtbevölkerung ist etwa jede fünfte Person ≥ 65 Jahre alt. Etwa

jeder 47. Mensch ist ≥ 65 Jahre und hat einen Migrationshintergrund. Und etwa jeder 391. Mensch ist ≥ 65 Jahre und türkischstämmig.

(18)

Laut Datenreport 2016 [12] verfügten nur 33 % der zwischen 1956 und 1973 zugewanderten Arbeitsmigrantinnen und -migranten über einen Berufsabschluss. Schwierige und gesundheitsbelastende Arbeitsbedingung führten dazu, dass in dieser Bevölkerungsgruppe eine hohe Frühverrentungsrate aufgrund von Erwerbsunfähigkeit festzustellen ist.

Etwa 51 % der 50- bis 64-Jährigen ist noch erwerbsfähig. Im Jahr 2013 lag das monatliche Nettoäquivalenzeinkommen in dieser Gruppe mit 1.444 Euro um 540 Euro unter dem Nettoäquivalenzeinkommen der Bevölkerung in dieser Altersklasse ohne Migrationshintergrund. In der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren betrug die Differenz 440 Euro bei insgesamt niedrigeren Nettoäquivalenzeinkommen (Arbeitsmigranten und -migrantinnen: 1.169 Euro

versus Menschen ohne Migrationshintergrund: 1.573 Euro). Die

Armutsgefährdungsquote10 lag mit 36,5 % für die Arbeitsmigrantinnen und

-migranten im Alter von 65 Jahren und älter fast dreimal so hoch wie für die gleichaltrige Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Armutsgefährdungsquote 12,5 %) [ebd.].

Der sozioökonomische Status hat lt. Pflege-Report11 [19] einen direkten

Einfluss auf das Eintrittsalter in die Pflegebedürftigkeit und auf das Auftreten von Demenz. Eine Auswertung der Versichertendaten ergab, dass Männer mit einem Renteneinkommen bis 800 Euro monatlich etwa im Mittel mit 74 Jahren pflegebedürftig wurden. Im Gegensatz dazu wurden Männer mit einem Renteneinkommen von 1.600 Euro erst sieben Jahre später pflegebedürftig.

Für Frauen mit einem monatlichen Renteneinkommen bis 800 Euro lag das Eintrittsalter in die Pflegebedürftigkeit bei etwa 78 Jahren versus 82 Jahre bei einem Renteneinkommen von 1.600 Euro. Als Gründe wurden u. a. höhere Gesundheitsrisiken und geringere Gesundheitschancen in den Gruppen mit niedrigerem sozioökonomischen Status angegeben [ebd.].

Im Datenreport 2016 gaben Migrantinnen und Migranten eine geringere Zufriedenheit in Hinsicht auf ihren Lebensstandard und das Haushaltseinkommen an. Im Gegensatz waren sie etwas zufriedener mit dem heutigen Leben und mit dem ‚Leben in 5 Jahren‘ als die Menschen ohne Migrationshintergrund [12]. Eine Stratifizierung nach Altersgruppe (≥ 65 Jahre) wurde im Datenreport nicht aufgeführt.

10

Die Armutsgefährdungsquote gibt den Anteil der Personen an, deren verfügbares Einkommen 60 % unter dem Durchschnittseinkommen lag.

11

Der Pflege-Report bezog sich auf die AOK-Versicherten, ohne migrationsspezifische Angaben.

(19)

Ältere Migrantinnen und Migranten unterscheiden sich von der autochthonen Bevölkerung auch in Hinblick auf ihre Gesundheit:

 Ältere Migrantinnen wiesen eine geringere Gesundheits- und

Lebenszufriedenheit auf [20].

 Altersbedingte Erkrankungen, z. B. Störungen des Herz-Kreislaufsystems,

Rheuma, Diabetes und Mobilitätseinschränkungen, treten häufiger bei Migrantinnen und Migranten auf als in der Mehrheitsbevölkerung [12, 21].

 Chronische, psychische und geriatrische Erkrankungen treten bei

Migrantinnen und Migranten in einem früherem Alter auf [18, 22].

 Eine Sekundärdatenanalyse von 1,9 Millionen Versicherten der gesetzlichen

Krankenkasse untersuchte die Prävalenz und Inzidenz von koronarer Herzkrankheit und Myokardinfarkt im Jahr 2006 [23]. 2,7 % der versicherten Personen waren türkischstämmig und 4,0 % waren Ausländer und Ausländerinnen ohne türkischen Migrationshintergrund. Türkischstämmige

Versicherte hatten eine 1,8-fach höheres Risiko (OR12=1,84; 95 % KI: 1,85

bis 1,89) für eine koronare Herzerkrankung im Vergleich zu deutschen Versicherten. Für Ausländer und Ausländerinnen ohne türkischen

Migrationshintergrund war das Risiko im Vergleich zu deutschen Personen13

nur minimal erhöht (OR=1,05; 95 % KI: 1,01 bis 1,10). Die Odds für eine in 2006 neu diagnostizierte koronare Herzerkrankung war für türkischstämmige Versicherte ebenfalls deutlich erhöht: (OR=2,2; 95 % KI: 2,0 bis 2,4).

Für Myokardinfarkte wurden höhere altersstandardisierte Prävalenzraten für türkischstämmige Personen im Vergleich zu deutschen Versicherten ermittelt: o Türkischstämmige Versicherte: Frauen 814 je 100.000 Versichertenjahre;

Männer 2.077 je 100.000 Versichertenjahre,

o Deutsche Versicherte: Frauen 738 je 100.000 Versichertenjahre; Männer 2.124 je 100.000 Versichertenjahre,

o Ausländerinnen und Ausländer ohne türkischen Migrationshintergrund: Frauen 641 je 100.000 Versichertenjahre; Männer 1.623 je 100.000 Versichertenjahre.

Demgegenüber war das Vorliegen eines türkischen Migrationshintergrundes mit einer geringeren Mortalität verbunden:

Das Hazard Ratio lag bei HR= 0,64; 95 % 0,42 bis 0,99.

12

Multivariat standardisiert.

13

(20)

In Hinblick auf eine koronare Revaskularisation zeigte sich eine 20 % bis 25 %-ige Unterversorgung bei türkischstämmigen Versicherten im Vergleich zu deutschen versicherten Personen [23]

 Eine vergleichende Auswertung der zweiten Welle des Deutschen

Alterssurveys zeigte, dass türkische Migrantinnen und Migranten eine statistisch signifikant höhere depressive Symptomatik aufwiesen als

Deutsche in der gleichen Altersgruppe. Wurde jedoch nach

sozioökonomischem Status adjustiert, verschwand dieser Unterschied. Die Stärke der depressiven Symptomatik war eher mit dem sozioökonomischen Status assoziiert als mit der Herkunft respektive dem Migrationshintergrund [24].

Nicht nur in den Bereichen Durchimpfungsraten, Müttersterblichkeit und kurative Versorgung hatte sich herausgestellt, dass Migrantinnen und Migranten häufig einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung haben als die autochthone Bevölkerung [1, 17].

Ebenso war im Bereich der Rehabilitation eine geringere Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten durch Migrantinnen und Migranten festzustellen, verbunden mit unterschiedlichem Behandlungserfolg. 15,4 % der Personen ohne Migrationshintergrund hatten nach Beendigung der Rehabilitationsbehandlung eine geringere Leistungsfähigkeit, im Gegensatz zu 21,6 % der Personen mit Migrationshintergrund [25].

Im Bereich der Pflege zeigte sich ebenfalls eine geringere Inanspruchnahme von Leistungen durch ältere Migrantinnen und Migranten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung (siehe Abschnitt 2.1.3).

Ein von der Mehrheitsbevölkerung abweichendes Gesundheits- und Pflegeverständnis sowie sprachliche Verständigungs- und Verständnisprobleme wurden als mögliche Barrieren für eine Inanspruchnahme von Leistungen oder Angeboten des Gesundheitswesens identifiziert. Daraus könnten Über-, Fehl- und Unterversorgung resultieren [1].

Ältere Arbeitsmigranten und -migrantinnen stellen eine zahlenmäßig

wachsende Bevölkerungsgruppe dar. Zudem wurden ursprüngliche

Rückkehrpläne zugunsten einer dauerhaften Zuwanderung aufgegeben. 25 % der Arbeitsmigrantinnen und -migranten lebten im Jahr 1979 seit über 10 Jahren

in Deutschland [5]. Laut Angaben einer regionalen Repräsentativbefragung14

hegten etwa 42 % der befragten Personen keine Rückkehrabsicht mehr [ebd.].

14

In der Quelle, Seite 9 des Kühn-Memorandums, finden sich leider keine Angaben zur Größe der Stichprobe.

(21)

Schließlich wurde eine Remigration aus familiären, rechtlichen, gesundheitlichen oder finanziellen Gründen nicht mehr realisiert. Aus einem zeitlich begrenzten Aufenthalt wurde eine dauerhafte Zuwanderung. Die Kinder (2. Generation) und Enkelkinder (3. Generation) wuchsen in Deutschland auf und wurden z. T. bereits eingebürgert. Zudem gewann das deutsche Gesundheitssystem, welches besser eingestuft wurde als jenes der Herkunftsländer, besonders für die alternde 1. Generation an Bedeutung. Ein Teil der älteren Migrantinnen und Migranten „pendelt“ im Rentenalter, soweit es die persönliche Situation zulässt, zwischen Deutschland und ihrem jeweiligen Heimatland (Pendelmigration).

Die AWO Westliches Westfalen führte von März bis Juli 2009 eine nicht repräsentative Befragung von 664 älteren Migrantinnen und Migranten (84 % türkischstämmig) zum Rückkehr- und Pendelverhalten durch. Es zeigte sich, dass 73 % der Befragten zukünftig nicht mehr pendeln möchte. 79 % gaben an, ihren Rückkehrwunsch aufgegeben zu haben. Als Gründe nannten sie eine ‚Entfremdung von der Heimat‘ (87 % der Befragten), die ‚Kinder leben in Deutschland‘ (86 %) und die ‚Enkelkinder leben in Deutschland‘ (89 % der Befragten) [26].

Noch stellen ältere türkischstämmige Migrantinnen und Migranten eine zahlenmäßig kleine Gruppe dar (siehe Tabelle 2). Ihre Zahl wird zukünftig steigen, wenn die 1. Generation der Zugewanderten ins Rentenalter eintritt. Ebenso wird vermutlich ein zahlenmäßiger Anstieg von pflegebedürftigen Menschen in dieser Bevölkerungsgruppe zu beobachten sein.

2.1.3 Pflege und Versorgung in Migrantenfamilien

Viele Migrantinnen und Migranten der sogenannten 1. Generation, die als Arbeitskräfte in den 1960er und 1970er Jahren kamen, leben mittlerweile mit ihren Kindern (2. Generation) und Enkelkindern (3. Generation) in Deutschland. Als sie damals ihr Heimatland verließen, gab es in der Türkei nur wenige Altenheime (z. B. in Ankara, Istanbul, Izmir) [27], welche vornehmlich auf eine medizinische Versorgung der Menschen ausgerichtet waren [28].

Im Jahr 1988 konnten etwa 7.500 Personen in den 61 Pflegeheimen des Landes aufgenommen werden, bei einem Bevölkerungsstand von 55 Millionen [29]. Im Jahr 2003 standen 151 Altenheime mit 14.600 Pflegeplätzen zur Verfügung [28]. Alternative Konzepte, wie z. B. eine ambulante Krankenpflege,

waren weitestgehend unbekannt. Pflegebedürftige Menschen wurden

vornehmlich von ihren Angehörigen gepflegt; eine Unterbringung in einem Pflegeheim wurde von der Gesellschaft negativ bewertet.

(22)

Das türkische Gesundheitssystem war und ist nicht auf pflegebedürftige Menschen, deren Zahl aufgrund der demografischen Entwicklung auch in der Türkei steigen wird, eingestellt [30].

In traditionellen türkischen Familien gilt es als selbstverständliche Pflicht, die Pflege alternder oder erkrankter Familienmitglieder zu übernehmen. Die Mutter übernimmt normalerweise die Pflege der Kinder, während die Krankenpflege anderer Familienmitglieder durch die Tochter oder Schwiegertochter erfolgt. Ehefrauen pflegen ihre pflegebedürftigen Ehemänner. Diese hierarchische Struktur findet sich aber nicht mehr in allen türkischen Migrantenfamilien, so dass zunehmend auch Mitglieder des sogenannten sekundären Netzwerkes, z. B. Nachbarn, in die Pflege involviert werden [31].

Allerdings wird die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger langfristig vor Schwierigkeiten gestellt: Wegzug der Kinder bzw. der Enkelkinder, die zunehmende Zahl berufstätiger Frauen und die sinkende Zahl jüngerer Familienmitglieder führen auch in der Gruppe der türkischen Migrantinnen und Migranten dazu, dass die Pflegesituation erschwert wird bzw. eine adäquate Pflege nicht mehr von den Angehörigen geleistet werden kann. Eine geringe Wohnungsgröße und mangelnde finanzielle Ressourcen können weitere Hindernisse darstellen. Die durchschnittliche Haushaltsgröße türkischstämmiger Familien lag bei 3,2 Personen pro Haushalt mit einer mittleren Wohnfläche von 32 m² pro Person. Im Vergleich dazu betrug die durchschnittliche Haushaltsgröße für Personen ohne Migrationshintergrund 1,9 Personen pro Haushalt mit einer

Wohnfläche von 59 m² pro Person respektive für Personen mit

Migrationshintergrund 2,4 Personen pro Haushalt mit einer Wohnfläche von 44 m² pro Person [12].

Selten wird auf Angebote der ambulanten Pflegedienste oder der stationären Pflege zurückgegriffen. Als Gründe dafür werden ein Gefühl der Pflichtverletzung gegenüber den zu pflegenden Angehörigen, mangelndes Wissen um die Unterstützungsangebote, Unsicherheit und finanzielle Überlegungen sowie Misstrauen gegenüber Fremden genannt [32, 33].

In einer empirischen Studie wurde die Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung, die türkischstämmige und nicht-türkischstämmige Personen beantragten, vergleichend untersucht. Der MDK WL, der gleichzeitig auch Datenhalter war, stand als Kooperationspartner zur Verfügung. Der untersuchte Datensatz enthielt 581.616 Begutachtungen aus dem Begutachtungszeitraum von Januar 2001 bis August 2005 aus der Region Westfalen-Lippe. Darin fanden sich Informationen u. a. zu den beantragten Leistungen und den Pflegestufen.

(23)

Da im Rahmen des Begutachtungsverfahrens eine Angabe der Nationalität nicht vorgesehen war, wurde ein Namensalgorithmus [34, 35] zum Auffinden türkischer Namen angewendet.

Mit Hilfe dieses onomastischen Verfahrens konnten 7.917 türkische Antragstellern oder Antragstellerinnen identifiziert werden. Im Folgenden finden sich die zentralen Ergebnisse:

 Türkische Personen waren im Vergleich zu nicht-türkischstämmigen

Personen deutlich jünger. Das mittlere Alter bei Begutachtung lag für türkische Personen bei 35,2 Jahren und bei nicht-türkischstämmigen Personen bei 74,8 Jahren.

 Der Anteil an Männern im Begutachtungsverfahren lag bei 55,9 % in der

Gruppe der türkischstämmigen Personen im Vergleich zu 33,7 % in der Gruppe nicht-türkischer Personen.

 In etwa 75 % der Begutachtungsverfahren erhielten nicht-türkische Personen

eine Pflegestufe. Bei türkischen Personen war dies nur bei etwa 61 % der Begutachtungen der Fall.

 Ein bedeutsamer Unterschied zeigte sich in der Inanspruchnahme von

Leistungen gemäß SGB XI. Türkischstämmige Personen beantragten vornehmlich Pflegegeld (90,6 %). Pflegesachleistungen oder Kombinations-leistungen wurden von 6,9 % beantragt und Leistungen für eine stationäre Unterbringung nur von 2,1 %. Im Gegensatz dazu beantragten nicht-türkische Personen in 42,0 % der Fälle Pflegegeld, in 29,2 % Pflegesachleistungen oder Kombinationsleistungen und in 28,6 % Leistungen zur stationären Versorgung. Dies entspricht in etwa der prozentualen Verteilung, die in der Pflegestatistik aus dem Jahr 2003 zu finden ist: 47,5 % Pflegegeld, 21,7 % Pflegesach- oder Kombinationsleistungen, 30,0 % Leistungen zur stationären Versorgung (siehe Abschnitt 3.3.1).

Laut Schätzungen [36] wiesen 8 % der Pflegebedürftigen, die im Jahr 2010 in der häuslichen Umgebung versorgt wurden, einen Migrationshintergrund auf. In der ambulanten pflegerischen Versorgung hatten etwa 7 % der pflegebedürftigen Personen einen Migrationshintergrund. Im Bereich der stationären Pflege war dies bei etwa 9 % der Pflegebedürftigen der Fall.

Die Verteilung der Pflegestufen bei Personen mit oder ohne

Migrationshintergrund zeigte ein ähnliches Muster: pflegebedürftige Personen mit Migrationshintergrund wiesen zu 54 % die Pflegestufe I, zu 31 % die Pflegestufe II und zu 15 % die Pflegestufe III auf.

(24)

Für Pflegebedürftige ohne Migrationshintergrund wurde folgende Verteilung der Pflegestufen ermittelt: 59 % die Pflegestufe I, zu 32 % die Pflegestufe II und zu 9 % die Pflegestufe III.

Oder anders formuliert: Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund haben einen höheren Prozentanteil an Pflegestufe III und einen niedrigeren Anteil an Pflegestufe I im Vergleich zu pflegebedürftigen Personen ohne Migrations-hintergrund.

Im Fazit kommt der Bericht zu dem Schluss, dass sich ‚ältere Pflegebedürftige mit oder ohne Migrationshintergrund nur unwesentlich in ihren Vorstellungen über die Pflege und Versorgung im Alter unterscheiden‘ [ebd.]. Als Gründe für den geringen Bekanntheitsgrad von Unterstützungsangeboten nach SGB XI wird u. a. Folgendes aufgeführt:

 Sprachprobleme,

 Vorbehalte gegenüber Institutionen,

 Vorstellung, dass die Pflege von den Angehörigen geleistet wird,

 Komplexität der Pflegeversicherung und der damit verknüpften Leistungen.

Im Rahmen einer Studie wurden 194 türkischstämmige Migrantinnen und Migranten im Alter von 59 bis 88 Jahren mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Etwa ein Viertel der befragten Personen hatte eine Pflegestufe. Thematisiert wurden die Aspekte Lebenssituation, Einstellung zum Thema Pflege und die pflegerische Versorgung [37]. Es zeigte sich, dass die befragten türkischstämmigen Personen ihren Gesundheitszustand schlechter einschätzten als die Mehrheitsbevölkerung aus dergleichen Altersgruppe. Zum subjektiven Informationsstand gaben 48,4 % der Befragten an, schlecht oder sehr schlecht informiert zu sein. Nur 16,0 % hatten das Gefühl sehr gut oder gut informiert zu sein.

Vergleichend hierzu: An einer postalischen Befragung zum

Gesundheitsmonitor nahmen 1.795 Personen aus der Gesamtbevölkerung im Alter von 18 bis 79 teil: 27 % der Befragten gaben an, sehr gut oder gut informiert zu sein. 25 % der Befragten hielten sich für schlecht oder sehr schlecht informiert und 4 % gaben an, dass sie keine Informationen zum Thema Pflege haben [38].

Türkischstämmige Migrantinnen und Migranten fühlten sich deutlich schlechter informiert als Personen der Gesamtbevölkerung. Spezielle Fragen zur Pflege, z. B: Wissen was eine Pflegestufe ist, wie sie beantragt wird oder welche Leistungen von der Pflegeversicherung angeboten werden, zeigten, dass nur 24,0 % bis maximal 48,0 % der befragten Personen darüber informiert waren.

(25)

Die Frage, ob sie Pflegeeinrichtungen kennen würden, die besonders auf die Bedürfnisse türkischstämmiger Personen eingehen, bejahten 61,7 % der Befragten [37].

Auf die Frage, wer die Pflege älterer Menschen übernehmen solle, antworteten 79,7 % der Befragten, dass dies durch professionelle Pflegekräfte erfolgen sollte. Gleichzeitig sahen 77,2 % der befragten Personen den Ehepartner / die Ehepartnerin in der Pflicht, die Pflege durchzuführen. Etwa 50 % erwarteten von ihren Kindern eine Versorgung bei Pflegebedürftigkeit. Der Anspruch war an Töchter etwas höher (54,8 %) als an Söhne (47,3 %). „Damit wären die Pflegeerwartungen der älteren Türkeistämmigen ähnlich beschaffen wie die der älteren Gesamtbevölkerung in Deutschland“ [ebd.].

2.2 Storytelling

Das Erzählen von Geschichten stellt eine Form der Kommunikation dar. Kommunikation ist fundamental für das Existieren von Gesellschaften. Sie dient nicht nur zum Austausch von Sachinformationen zwischen Personen oder Gruppen, sondern übernimmt auch eine wichtige Funktion im sozialen Miteinander (Metakommunikation). Erfolgt die Interaktion zwischen Personen, so wird dies als interpersonelle Kommunikation bezeichnet. Stehen Gruppen

miteinander im gegenseitigen Austausch handelt es sich um

Gruppenkommunikation. Massenkommunikation bzw. mediengebundene

Kommunikation erfolgt nicht direkt, sondern unter Anwendung technischer Verbreitungsmittel. Damit Kommunikation stattfinden kann, interagieren Kommunikator (Sender) und Rezipient (Empfänger) über ein Medium (Übertragungsweg, z. B. Schallwellen) mit einem bestimmten Code (z. B. Sprache). Der Gegenstand der Kommunikation wird dabei in einem bestimmten Kontext übermittelt. Die Kommunikation kann auf einer verbalen Ebene mit Hilfe der Stimme und über die Sprache und/ oder auf einer non-verbalen Ebene über Mimik und Gestik erfolgen.

Bereits in den Anfängen unserer Kultur wurden Geschichten erzählt. Sie dienten als Orientierung für die Gesellschaften und vermittelten Werte. Die mündliche Weitergabe stellte die einzige Möglichkeit dar Erfahrungen, Wissen und Werte zu tradieren, bevor bildliche Darstellungen und schriftliche Fixierungen für eine Vermittlung genutzt wurden. Geschichten enthalten Erfahrungen, Erlebnisse, Emotionen, aber auch Wissen und Lösungen zu Problemen.

(26)

Untersuchungen an dem Naturvolk der Agta, die als Jäger und Sammler auf der philippinischen Insel Luzon leben, zeigen die Bedeutung, die das Erzählen von Geschichten für das Zusammenleben von Gruppen haben können [39]. Die Agta, deren Vorfahren vor über 35.000 Jahren die Philippinen besiedelten, leben in Gruppen von 7 bis 156 Personen (mittlere Gruppengröße: 49 Personen in etwa 7 Häusern). Das Erzählen von Geschichten fördert das Sozialverhalten (z. B. die

Gleichberechtigung der Geschlechter) und vermittelt Regeln – bzw. Sanktionen

bei Regelverletzungen – für das Zusammenleben. Gute Geschichtenerzähler

sind beliebter als weniger begnadete Geschichtenerzähler. Dies zeigt sich u. a. eindrucksvoll in der Reproduktionsrate: gute Geschichtenerzähler haben 0,53

zusätzliche Nachkommen mehr im Vergleich zu weniger guten

Geschichtenerzählern [b=0.53; 95 % KI = [0.10, 0.96] (ebd.).

Geschichten präsentieren sich u. a. in Form von Mythen, (Götter-)Sagen, Märchen, Legenden und Fabeln. Diesen gemeinsam ist eine Dramaturgie mit einem Spannungsbogen bzw. Handlungsablauf und einem definierten Ende.

Jeder Mensch kann Geschichten erzählen, z. B. die eigene Lebens-geschichte. Diese verläuft individuell und wird geprägt von persönlichen Lebensereignissen. Im Gegensatz dazu können Geschichten den Zuhörenden auch die Möglichkeit bieten, sich selbst einzubringen, Lösungen zu entwickeln

und das Ende der Erzählung zu gestalten, z. B. im „Theater der Unterdrückten“

nach Boal.

Das Storytelling15 wird als Kommunikationsmethode zweckgerichtet in

verschiedenen Bereichen (u. a. in der Medizin, in Schulen, in Unternehmen, in

Softwareprodukten16) eingesetzt. Unabhängig von der Kommunikationsebene

(interpersonell, Gruppen- oder Massenkommunikation) hat das Storytelling eine Wirkung auf den Zuhörer oder die Zuhörerin.

Das Erzählen von Geschichten vermittelt nicht nur Informationen, sondern kann u. a. das Handeln beeinflussen, Verhaltensänderungen bewirken und das Problembewusstsein schärfen. Es kann Werte und Normen vermitteln oder auch neues Wissen generieren. Latentes Wissen, welches in einer Frage-Antwort-Situation nicht unbedingt entdeckt würde, wird offenbar [40]. Zugleich werden über das Storytelling Emotionen und Gefühle transportiert, die zu einer Interaktion aller beteiligten Personen führen.

15

Der Begriff Storytelling (Geschichten erzählen) wird in dieser Arbeit synonym zum Begriff ‚sharing stories‘ (Geschichten teilen) verwendet.

16 Im Bereich der Computerspiele gibt es das ‚Interactive Digital Storytelling’. Dies wird

hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Beim ‚Interactive Digital Storytelling’ werden Geschichten in Computerspiele implementiert, um diesen Spielen einen Sinn zu geben.

(27)

Vertrauen, Verständnis und ein Gemeinschaftsgefühl werden über den emotionalen Austausch, ausgelöst durch die jeweilige Geschichte, ermöglicht und gefördert [41, 42].

Beim Storytelling werden Geschichten aus der Erfahrungswelt der jeweiligen Zuhörer und Zuhörerinnen erzählt. Dadurch werden die zuhörenden Personen direkt in das Geschehen involviert. Inhalte und Informationen aus den Geschichten sind für sie verständlich und können effektiv aufgenommen werden.

Freies Vortragen durch einen Erzähler oder eine Erzählerin und eine entspannte Atmosphäre können die Aufnahme der Informationen sowie die Merkfähigkeit steigern. Ggf. sollte der Austausch in einem geschützten Raum stattfinden, d. h. den teilnehmenden Personen muss garantiert werden, dass sie nicht überwacht oder beurteilt werden [ebd.].

2.2.1 Storytelling nach Greenhalgh

Die Arbeitsgruppe um Greenhalgh entwickelte einen komplexen

Interventionsansatz zur Schulung von Diabetikern und Diabetikerinnen ethnischer Minoritätengruppen in England [4, 43]. Diese Personengruppen unterschieden sich im Hinblick auf die Mehrheitsbevölkerung in ihrem sozioökonomischen Status, den Lebensstilen und dem Zugang zu bzw. der Nutzung von Gesundheitsangeboten. Im Fokus der Studie standen an Diabetes erkrankte Menschen, die ursprünglich aus Bangladesh kamen. Das Projekt wurde von der Gesellschaft Charity diabetes UK gefördert. Es hatte zum Ziel, eine Intervention zu entwickeln, die Diabetes-erkrankte Migrantinnen und Migranten im Umgang mit ihrer Erkrankung unterstützen und schulen sollte.

Der Ansatz umfasste folgende Komponenten:

 Gruppenbasiertes Lernen und Schulung der bilingualen

Gesundheits-mediatorinnen und –mediatoren,

 Umsetzung von Gruppentreffen mit an Diabetes erkrankten Migrantinnen

und Migranten und

 organisatorische Unterstützung zur Implementation in das bestehende

Angebot.

Die Umsetzung erfolgte durch den Einsatz bilingualer

Gesundheits-mediatorinnen und -mediatoren17 und diente einer Erweiterung des lokalen

Serviceangebotes zur Versorgung ethnischer Minderheiten mit Diabetes.

Die Autorinnen der Arbeitsgruppe [43] unterschieden die vier folgenden Projektphasen:

17

(28)

1) Im Rahmen einer ‚Set-up‘-Phase wurde die Ist-Situation untersucht. Dazu wurden alle verfügbaren epidemiologischen Daten und Statistiken zur lokalen Versorgung von Diabetikerinnen und Diabetikern ausgewertet. Verwendet wurden Angaben des Nationalen Health Service (NHS) sowie ehrenamtlich tätiger Organisationen.

Zusätzlich wurden Interviews mit den verschiedenen Akteuren im Gesundheitssystem geführt, z. B. mit Beschäftigten im Krankenhaus, Ärzten und Ärztinnen sowie Personen, die ehrenamtlich im Bereich mit ethnischen Gruppen tätig waren.

2) Daran schloss sich eine Schulungsphase an. Dazu wurden Kontakte mit Schlüsselpersonen aus der Migrantenszene geknüpft und Netzwerke gebildet. Zweisprachige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Gesundheitsbereich, die in einem sozial benachteiligten Stadtteil (innere Stadtregion) arbeiteten, erhielten eine zwölfwöchige Schulung als Gruppe. Das „Storytelling for group learning in health and care“ war von dem London Open College Network als Schulungsmöglichkeit akkreditiert worden und ermöglichte eine Mitarbeit und die Zusammenarbeit aller Teilnehmenden. Sie lieferte Informationen zum Umgang mit Diabetes und im Bereich der Patientenedukation. Geschichten, die im Rahmen der Schulung von und mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen erstellt wurden, dienten als Rohmaterial zum Gruppenlernen.

Die Geschichten sollten folgenden Kriterien entsprechen:

- Die Geschichten mussten auf einen Patienten oder eine Patientin

fokussiert sein.

- Es gab eine Handlung.

- Die Geschichten beschrieben Gefühle und Emotionen des Protagonisten

bzw. der Protagonistin.

- Die erzählende Person sollte auf Basis der Geschichte zur Reflexion

motiviert werden und ggf. ein anderes Ende vorschlagen (z. B. „Hätte irgendetwas anders gemacht werden müssen?“).

- Die erzählende Person sollte Lernziele für das eigene Lernen und für die

praktische Tätigkeit herausstellen.

Auf Basis von Rückmeldung (Feedback) und Reflexion erhielten die bilingualen Schulungsteilnehmer und -teilnehmerinnen die Möglichkeit, ihr

Verhalten und Handeln bewusst und gesteuert zu verändern [4]18.

18

Eine ausführlichere Darstellung des Schulungskonzeptes inklusive Planung und Vorgehen findet sich in dem multiprofessionellen Workbook von Greenhalgh & Collard (2003).

(29)

Gleichzeitig mit einer Wissensvermittlung wurden die Teilnehmenden durch diese Schulung in ihrem Selbstwertgefühl sowie in ihrer Motivation und in Hinsicht auf ihr berufliches Selbstverständnis gestärkt [43].

Die Gruppen der Teilnehmenden waren sehr heterogen, sie unterschieden sich hinsichtlich ihrer Ausbildung, dem Wissen und ihren praktischen Erfahrungen mit Diabetikern oder Diabetikerinnen.

An den Schulungen nahmen Personen verschiedenster Nationalitäten teil, z. B. Personen aus Persien, aus der Türkei oder China [ebd.]

3) In einer anschließenden Pilotphase wurden die bilingualen Gesundheits-mediatorinnen und -mediatoren unterstützt, Gruppentreffen mit Diabetikern und Diabetikerinnen umzusetzen. Schwierigkeiten, wie z. B. Ressourcen, Arbeitsbeschreibung und Verantwortungsbereich, mussten auf einer organisatorischen Ebene geklärt werden.

4) Im Bereich der Implementierung zeigte sich, dass jede Gruppe, die von bilingualen Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren betreut wurde, eine eigene Dynamik aufwies. Eine Diabetes-Storytelling-Gruppe, die mit acht Teilnehmerinnen startete, wuchs innerhalb von 18 Monaten auf 42 Personen an, die regelmäßig teilnahmen. Dabei entwickelten die Teilnehmerinnen eine ganz eigene Vorstellung von den Gruppentreffen: “the groups were “doing” groups rather than “talking” groups” [ebd.]. In vielfältigen Gesprächen, statt einer Gesprächsrunde, tauschten sich die Anwesenden im Anschluss an die jeweilige Geschichte aus. In dieser Phase diente der Mediator bzw. die Mediatorin u. a. als kompetenter Ansprechpartner bzw. -partnerin im Falle von spezifischen Fragen zum Krankheitsbild oder zur Ernährung.

Das Storytelling nach Greenhalgh wurde im Rahmen des Projektes saba als Orientierung für die Entwicklung einer Intervention verwendet (siehe Abschnitt 4.3).

2.2.2 Storytelling im Bereich Public Health und Medizin

Im Bereich der Fort- und Weiterbildung sowie bei Arzt- und Patienten-schulungen wird das Storytelling häufig für das Wissensmanagement eingesetzt. Informationen und Erfahrungen werden in Form einprägsamer Geschichten vermittelt. Zudem fördert das Geschichtenerzählen eine Reflexion über das eigene Handeln und ermöglicht Verhaltensänderungen, z. B. im Bereich der Raucher-Entwöhnung [44].

Über eine nicht-systematische Recherche in PubMed wird das breite Anwendungsspektrum für den Einsatz des Storytellings evident (siehe Tabelle 3).

(30)

Mittels dieser Recherche wurden Reviews aber auch Interventionsstudien gefunden, welche das Storytelling umsetzen, z. B. im Bereich Prävention [45, 46], Kuration [43, 47, 48], Rehabilitation [49], aber auch in der Pflege und Versorgung am Lebensende [41, 42, 50]. Im Bereich der Gesundheitsförderung wird über das Storytelling eine Verhaltensänderung angestrebt [44, 51, 52].

Zielgruppen für diesen Ansatz können ethnische Minderheiten,

unterschiedliche Altersgruppen (junge oder alte Menschen), aber auch Patienten oder Patientinnen mit spezifischen Erkrankungen (z. B. Diabetes, Demenz, Krebs) sein.

Tabelle 3:Storytelling-Projekte19 im Bereich Public Health oder in der Medizin

Autor Titel Zielbereich

Allison et al. (2016)

Culturally adaptive storytelling method to improve hypertension control in Vietnam - "We talk about our hypertension": study protocol for a feasibility cluster-randomized controlled trial

Blutdruck [53]

Gucciardi et al. (2016) R

Designing and delivering facilitated storytelling interventions for chronic disease self-management: a scoping review Chronische Erkrankung [54] Greenhalgh (2016) R

Cultural Contexts of Health: The Use of Narrative Research in the Health Sector

Review [55] La Cour et

al. (2016)

Storytelling as part of cancer rehabilitation to support cancer patients and their relatives

Krebs [49] Lee et al.

(2016)

Storytelling/narrative theory to address health communication with minority populations

Theorie [56] Schenker et

al. (2015)

Development of a post-intensive care unit storytelling intervention for surrogates involved in decisions to limit life-sustaining treatment

End-of-life [57]

LeBron et al. (2014) CBPR

Storytelling in community intervention research: lessons learned from the walk your heart to health intervention

Physische Aktivität, Herz

[52] Williams et

al. (2014)

Enhancing diabetes self-care among rural African Americans with diabetes: results of a two-year culturally tailored intervention

Diabetes [47]

Glodny et al. (2011)

Storytelling als Intervention - Verbesserung der häuslichen Pflege von türkischen Migranten in Deutschland Pflegende Angehörige [50] Houston et al. (2011)

Culturally appropriate storytelling to improve blood pressure: a randomized trial

Blutdruck [58] Leeman et

al. (2008)

Tailoring a diabetes self-care intervention for use with older, rural African American women

Diabetes [48] Crogan et al.

(2008)

Storytelling intervention for patients with cancer: part 2- pilot testing

Krebs [59] Andrews et

al. (2007)

CBPR

Using community-based participatory research to develop a culturally sensitive smoking cessation intervention with public housing neighbourhoods

Raucher-entwöhnung

[44]

Heliker (2007)

Story sharing: restoring the reciprocity of caring in long-term care

Langzeitpflege [41] Larkey &

Gonzalez (2007)

Storytelling for promoting colorectal cancer prevention and early detection among Latinos

Darmkrebs-prävention

[45]

Mc Donald et al. (2006)

Assisting women to learn myocardial infarction symptoms Herzinfarkt erkennen [60] 19

Ergebnisse einer nicht-systematischen Recherche in PubMed. Als Suchterm wurden die folgenden Worte verwendet: „Storytelling AND intervention“: Suche bis 01.02.2017.

Referenzen

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