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Zusammenfassung und Zwischenfolgerungen

6. Beschreibung und Analyse der Zwangssituationen im

6.6 Zusammenfassung und Zwischenfolgerungen

Welche wichtigsten Resultate gehen aus diesem Kapitel hervor? In diesem folgenden kurzen Überblick sollen die wichtigsten Erkenntnisse hervorgestrichen werden – was möglicherweise auf Kosten von Nuancierungen und Differen-zierungen geht – und das Schwergewicht auf diejenigen Resultate gelegt wird, die im Hinblick auf die Frage nach geeigneten Interventionen und Massnahmen besonders relevant sind.

Prävalenz

Die gewählte Methodologie brachte zutage, dass die Fälle, die Personen betreffen, die daran gehindert werden, sich scheiden zu lassen (Typ C), bei Weitem am zahlreichsten sind. Sie stellen knapp die Hälfte aller Fälle dar, die von den befragten Institutionen übermittelt wurden.

Diese Erkenntnis ist in vielerlei Hinsicht signi-fikant, da die Debatten und Massnahmen zur Bekämpfung von «Zwangsheiraten» sich bislang vor allem auf Zwangssituationen der Typen A und B konzentrierten. Mit anderen Worten, die existierenden Massnahmen müssen zwingend so ausgeweitet werden, dass auch bereits verhei-ratete Personen, die sich nicht scheiden lassen können (Typ C), eingeschlossen werden können.

Profil der betroffenen Personen

Das sozioökonomische Profil der Personen, die bei den Institutionen Hilfe suchen, gestaltet sich sehr unterschiedlich. Es gibt keinen Idealtypus

einer jungen Frau (oder eines jungen Mannes), der besonders von diesem Phänomen betroffen wäre. Die Institutionen haben im Gegenteil mit einem sehr breiten Spektrum von Personenprofi-len zu tun. Da die Beratung suchenden Personen sich dermassen voneinander unterscheiden, muss man davon ausgehen, dass es unmöglich sein wird, einen «Massnahmentypus» zur Be-kämpfung dieser Zwangssituationen zu finden.

Im Gegenteil, die Fachpersonen stehen vor der schwierigen Aufgabe, dass sie in ihrer Arbeit je-des Mal das spezifische Profil der hilfesuchenden Personen berücksichtigen und adäquat einbezie-hen müssen.

Konzentriert man sich auf die Gemeinsamkei-ten, so können drei Profilidealtypen heraus-geschält werden. Allerdings handelt es sich hier um Idealtypen, d.h. Abstraktionen, die die Gefahr von Verallgemeinerungen und Vereinfa-chungen mit sich ziehen.

Das sozioökonomische Profil der vom Typ A be-troffenen Personen (die unter Zwang stehen zu heiraten) lässt sich «idealtypisch» folgenderma-ssen beschreiben: Es handelt sich hauptsächlich um junge Frauen zwischen 18 und 25 Jahren, zu 81% Ausländerinnen. Über ein Drittel ist in der Schweiz geboren und die Mehrheit verfügt über eine Niederlassungsbewilligung C. Es sind vor allem Personen aus den Balkanländern, der Türkei und Sri Lanka. Diese bei den Institu-tionen Unterstützung suchenden Personen sind weitgehend gut im Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem integriert.

Bei den Personen, die daran gehindert werden, eine Liebesbeziehung ihrer Wahl zu leben (Typ B), präsentiert sich das Profil folgendermassen: Es sind

ebenfalls mehrheitlich junge Frauen, im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. 69% sind Auslände-rinnen, die Hälfte ist in der Schweiz geboren und über die Hälfte verfügt über eine Niederlassungs-bewilligung C. Es handelt sich ebenso mehrheit-lich um Personen, die aus den Balkanländern, der Türkei oder Sri Lanka stammen, aber man findet hier auch Eingebürgerte und gebürtige Schwei-zer/-innen. Gleich wie beim Typ A sind auch diese Betroffenen mehrheitlich gut im Arbeitsmarkt integriert oder absolvieren eine Ausbildung.

Das Profil der Personen, die sich in Zwangssitua-tionen des Typs C befindet, unterscheidet sich von den anderen zwei Typen und ist gleichzeitig vielfältiger: Hier sind die Frauen älter (mehrheitlich über 25 Jahre), grösstenteils im Ausland geboren und sie verfügen weniger häufig über die Schwei-zer Staatsbürgerschaft (80%). Über die Hälfte dieser Personen besitzt lediglich eine Aufenthalts-bewilligung B oder N/F und ihre Situation bezüg-lich Aufenthaltsstatus ist daher deutbezüg-lich prekärer.

Sie kommen vor allem aus den Balkanländern, aus der Türkei und aus Sri Lanka, aber auch aus Südamerika und anderen Ländern. Diese Frauen sind nur teilweise in den Arbeitsmarkt integriert, sie sind weniger gut ausgebildet und die Hälfte befindet sich in einer Situation wirtschaftlicher Abhängigkeit. Zudem stellt sich hier die Frage, in welchem Masse eine zivilstandsabhängige Aufenthaltsbewilligung die prekäre Situation und die Prävalenz der Gewalt verstärkt.

Diese Unterschiede zwischen den Typen A, B und C müssen bei der Erarbeitung von Massnahmen berücksichtigt werden. Sich in Zwangssituationen befindende Personen der Typen A und B sind wie erwähnt gut im Arbeitsmarkt oder im Bildungs-system integriert und können folglich über die

Regelstrukturen wie Schulen oder Arbeitsplätze erreicht werden. Personen, die unter Druck ste-hen, weil sie sich scheiden lassen möchten, sind hingegen aufgrund ihrer Isoliertheit schwieriger über Regelstrukturen erreichbar.

Zwei weitere Aspekte verdienen eine Erwäh-nung. Obwohl es mehrheitlich Frauen sind, die sich an die Institutionen wenden, müssen gleichwohl Überlegungen angestellt werden, wie von der Problematik betroffene Männer erreicht werden können, resp. welche Angebo-te hier sinnvoll wären. Auch das Problem der Minderjährigen unter den von «Zwangsheirat»

Betroffenen stellt sich in Priorität, denn diese stellen bezüglich geeigneter Massnahmen eine besondere Herausforderung dar.

Formen von Zwang und Gewalt

Zur Heterogenität des sozioprofessionellen und ökonomischen Profils der von «Zwangsheirat»

betroffenen Personen kommt hinzu, dass sie sich ebenfalls in vielfältigen Zwangssituationen befinden. Dieses Resultat bringt zutage, dass die Erarbeitung von geeigneten Massnahmen für jede betroffene Person eines besonderen Ansatzes bedarf («Case Management»), denn es gibt keine für alle Situationen geeigneten Instrumente oder Vorgehen.

Die Personen nehmen erst Kontakt mit den Institutionen auf, wenn der Konflikt schon von Gewalt geprägt ist – vor allem im Fall des Typs C. Das Phänomen ist generell von einem

54 Dies gilt für die Erwachsenen. Bei Minderjährigen sind die Abläufe, gemäss dieser Person, anders.

hohen Grad an diversen Gewaltformen be-gleitet und die Gewalt wird in erster Linie von einem oder mehreren Akteuren des familiären Umfelds ausgeübt. Da die Familienmitglieder direkt in den Konflikt involviert sind, bringt dies die von der Gewalt betroffenen Personen in einen starken Loyalitätskonflikt – ähnlich wie bei den Situationen, die man im Bereich der häuslichen Gewalt kennt. Dieser Loyalitäts-konflikt und die widerstrebende Haltung der betroffenen Personen angesichts konkreter Verteidigungs- und Schutzmassnahmen sind verständlich, aber gleichzeitig stellen sie auch eines der wichtigsten Hindernisse für das Intervenieren der Fachpersonen dar. Diese Ähn-lichkeiten (von Mitgliedern des Familienkreises verübte Gewalt, Loyalitätskonflikt usw.) führen zur Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, all diese verschiedenartigen Gewaltsituationen im Rah-men der Problematik der häuslichen Gewalt zu behandeln, statt sie separat als «Zwangsheirat»

zu thematisieren.

Ursachen der Zwangssituationen

Die Hauptursache, die zu diesen Zwangssitu-ationen führt, liegt in den unterschiedlichen Auffassungen über «passende Ehepartner/-innen» oder über eine Scheidung zwischen den Betroffenen einerseits und ihrem Umfeld andererseits. Das familiäre Umfeld übt Druck oder Gewalt aus, weil in seinen Augen eine Heirat mit einer Person der gleichen ethnischen/

nationalen/religiösen Herkunft vorzuziehen, eine Beziehung mit einer Person einer anderen Her-kunft aufzugeben oder auf eine Scheidung zu verzichten ist. Nichtsdestoweniger greifen in der Regel verschiedene Ursachen komplex ineinan-der, bis sie in einer Zwangssituation enden.

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass dem Migrati-onskontext bei solchen Zwangssituationen im Zusammenhang mit Partnerschaft, Heirat oder Scheidung eine zentrale Rolle zukommt. Auf-grund ihrer Migrationsbiografie haben Eltern den Wunsch, ihre Kinder zu beschützen, und sehen diese Möglichkeit im Falle von Heiraten innerhalb der Familie oder des ethnischen oder religiösen Netzwerkes gegeben – dies betrifft vor allem die Fälle von Typ A und B. Im aktuellen Kontext einer zunehmend restrikti-ven Migrationspolitik der Schweiz wird eine Ehe für viele Ausländer/-innen vermehrt an die Möglichkeit einer Aufenthaltsbewilligung ge-koppelt. Dies bedeutet, dass Einschränkungen der Schweizer Gesetzgebung sich mit anderen Ursachenfaktoren vermischen können, die zu Zwangssituationen führen. Bei den Zwangs-situationen vom Typ A wurde deutlich, dass Personen unter Druck gesetzt werden können, jemanden zu heiraten, damit diese Person eine Einwanderungsmöglichkeit bekommt. Beim Typ C hingegen vermischt sich die Angst, die eigene Aufenthaltsbewilligung zu verlieren, mit anderen Faktoren wie etwa Gewalt des Ehegatten.

Man stellt fest, dass die mit gesetzlichen und administrativen Bestimmungen zusammenhän-genden Zwangssituationen eng mit dem Druck und der Gewalt, der aus dem Familienkreis stammt, verknüpft sind – eine Form von Ge-walt kann abwechselnd die Ursache oder das Resultat sein oder kann parallel zu anderen Gewaltformen hinzukommen und umgekehrt.

Es ist deshalb illusorisch, nur einen Aspekt ge-trennt von den anderen behandeln zu wollen.