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Zur Relevanz von Einkommensverteilung in der Forschungspraxis

3. Grundlagen und Determinanten der Einkommensverteilung

3.1 Zur Relevanz von Einkommensverteilung in der Forschungspraxis

Die Frage, warum man sich mit dem Thema Einkommensverteilung beschäftigen soll, kann auf zwei Arten beantwortet werden. Zum einen spielen die bereits angesprochenen normativen Konzepte von sozialer Gerechtigkeit und sozialer Kohäsion eine Rolle. Es ist das allgemeine Empfinden, dass Einkommensunterschiede etwas Ungerechtes darstellen. Oft ist in der Literatur das so genannte „priority of need“ Argument zu finden (vgl.

Champernowne/Cowell 1998:8). Danach ist Armut innerhalb einer Volkswirtschaft, die alle Mittel zur Beseitigung dieser Armut besitzt, nicht zu dulden. Die Ressourcen, die von der reicheren Bevölkerungsschicht nicht dringend benötigt werden, sollten nach diesem Argument zur Befriedigung der Bedürfnisse der Armen freigesetzt werden.

Aus einem eher positiven Blickwinkel betrachtet existiert andererseits der Wunsch, ein optimales „Maß“ an Einkommensverteilung zu finden, nach dem eine Volkswirtschaft am effizientesten funktioniert. Es besteht jedoch noch kein Konsens darüber, wie dieses optimale

„Maß“ auszusehen hat. Eine lang vertretene Auffassung innerhalb der klassischen Ökonomie ist, dass Ungleichheit „necessarily good for incentives and therefore good for growth“

(Aghion/Williamson 1998:7) sei. Ungleichheit hat demnach einen stimulierenden Effekt auf Kapitalakkumulation und es entsteht ein tradeoff zwischen Produktionseffizienz und sozialer Gerechtigkeit, da Umverteilung die Einkommensunterschiede zwar reduziert aber gleichzeitig die Anreize zur Akkumulierung von Privatvermögen verringert. Dem entgegen suggeriert eine neuere Strömung in der Literatur, dass angesichts der hohen Einkommensungleichheiten die ärmere Bevölkerung nicht in der Lage sei, sich unternehmerisch zu betätigen, was sich wachstumshemmend auswirke. Außerdem werde der politische Entscheidungsfindungsprozess durch Ungleichheit möglicherweise behindert. Falls die Wissenschaft durch die Kombination beider Argumente der Wahrheit etwas näher kommt,

Grundlagen und Determinanten der Einkommensverteilung

bleibt die brisante Frage offen, wie viel Ungleichheit „zu viel“ ist. Die nächsten vier Absätze stellen einige Studien vor, die den Effekt von Ungleichheit auf Wirtschaftswachstum analysieren.3

Drei der frühen Studien, die der wachstumsfördernden Wirkung von Ungleichheit widersprechen, sind die von Bertola (1993), Alesina und Rodrik (1994) und Persson und Tabellini (1994). Diese drei Studien zeigen, dass Ungleichheitsvariablen in Wachstumsregressionen einen signifikant negativen Effekt aufweisen, wenn für andere Variablen wie zum Beispiel Bildung und Ausgangseinkommen kontrolliert wird. Der von ihnen vertretene Kausalmechanismus beruht auf polit-ökonomischen Erwägungen. Das Modell stützt sich auf das Medianwählertheorem4: Indem Ungleichheit das Einkommen des Medianwählers reduziert, erhöht es das Verlangen nach Umverteilung, was wiederum die Anreize für Investitionen verringert. Demnach erzeugen Gesellschaften, in denen das Einkommen ungleichmäßiger verteilt ist, mehr Umverteilung. Da diese Umverteilung jedoch in der Regel über das Steuersystem praktiziert wird, reduziert es die Investitionsanreize und folglich das Wirtschaftswachstum. Auch die Studien von Birdsall et al (1995), Bénabou (1996) oder Perotti (1996) zeigen diesen negativen Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit. Andere Studien, wie die von Saint-Paul und Verdier (1993) machen allerdings darauf aufmerksam, dass eine progressive Umverteilung die Investitionsraten auch erhöhen kann. Dies ist der Fall, wenn es eine Erhöhung des Bildungsbudgets bewirkt oder wenn es den Empfängern hilft, Kapitalmarktimperfektionen, die sie von Investitionen in lukrative Projekte oder in Humankapital abhielten, zu überwinden.

Der soeben beschriebene politische Kanal ist jedoch nicht der einzige, der für die Erklärung der empirischen Assoziation zwischen Ungleichheit und Wachstum benutzt wird. Viele Autoren ziehen dafür die Rolle des Marktversagens (insbesondere der Kapitalmärkte) heran.

Das Argument ist simpel: Ärmere Gesellschaftsschichten haben in der Regel im Verlauf ihres Lebens nicht dieselben Chancen wie reichere und können somit ihr produktives Potential nie völlig ausschöpfen. Einkommensschwache Personen sind im Allgemeinen schlechter

3 Für einen umfassenderen Literaturüberblick siehe Bénabou (1996), Ferreira (1999), Aghion et al (1999) und Grossman (2001).

4 Das Medianwählertheorem besagt, dass wenn (I) Präferenzen für eine bestimmte policy-Variable (z.B. eine proportionale Steuerrate t) innerhalb der Verteilung eines bestimmten Bevölkerungsmerkmals (z.B. persönliches Einkommen) gleichmässig variieren, und wenn (II) jede Person eine Wahlstimme mit gleichem Gewicht hat, dann das Wahlergebnis gleich der Präferenz des Wählers, der die Medianposition in dieser Verteilung einnimmt, ist. Das Theorem liefert also genaue Vorhersagen über die Entscheidung, die von einer Wählerschaft getroffen wird, wenn Mehrheitswahlrecht und „singled-peaked preferences“ vorliegen.

Grundlagen und Determinanten der Einkommensverteilung

ausgebildet, kommen nicht an Kredite, um unternehmerisch tätig zu werden und können sich für risikoreiche Unterfangen nicht versichern lassen. Der „production possibility set“ (vgl.

Ferreira 1999:11) einer Volkswirtschaft mit konzentrierten Einkommensverhältnissen ist geringer, das Wirtschaftswachstum wird gebremst. Galor und Zeira (1993) und Banerjee und Newman (1993) benutzen diesen Kausalmechanismus, um die negative Korrelation zwischen Ungleichheit und Einkommensverteilung zu erklären.

Auch soziale Konflikte werden zur Erläuterung der wachstumshemmenden Wirkung von Ungleichheit benützt. Alesina und Perotti (1996) argumentieren, dass Ungleichheit zu mehr politischer Instabilität führt, was ein suboptimales Investitionsniveau hervorbringt. Rodrik (1997) argumentiert ähnlich. Die Erhöhung der Opportunitätskosten durch steigende Gewalt ist ein weiterer Mechanismus, der in diesem Zusammenhang gerne eingebracht wird (vgl.

Bourguignon (1998)).

Einige neuere Studien zweifeln jedoch an der Allgemeingültigkeit der vorgetragenen Ergebnisse. Barro (2000) kommt in einer Paneluntersuchung beispielsweise zu dem Schluss, dass Ungleichheit nur in armen Ländern eine wachstumshemmende Wirkung aufweist, während Einkommensunterschiede das Wachstum in reichen Staaten vorantreibt. Forbes (2000) betont, dass der wachstumshemmende Effekt von Ungleichheit durch die Benützung von fixed effects aufgehoben wird. Die Autorin benützt für die Ermittlung eines Zusammenhangs zwischen Gleichheit und Wachstum Paneldaten, die eine Kontrolle über

„time-invariant country-specific effects“ ermöglichen, und die „generalized method of moments“ (GMM) als Schätzverfahren.5 Die positive Korrelation zwischen Wachstum und Gleichheit früherer Studien führt sie auf methodische Schwächen zurück. Forbes (2000:869) zeigt, dass „in the short and medium term, an increase in a country’s level of income inequality has a significant positive relationship with subsequent economic growth“.

Wie gezeigt wurde, gibt es eine anhaltende Debatte, die auf die Wichtigkeit der Studien über Einkommensverteilung schließen lässt. Auch wenn die präsentierten Ergebnisse sich teilweise widersprechen, sind sich die Wissenschaftler in einer Frage weitgehend einig: Die Einkommensverteilung, so wie sie in den meisten Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Teilen Asiens vorherrscht, verleiht diesen Regionen keine guten Entwicklungsperspektiven.

Der Gedanke vieler Entwicklungsökonomen, dass Armut in der Dritten Welt nur mit mehr

5 Für die Beschreibung des GMM-Verfahrens siehe Arrelano und Bover (1995).

Grundlagen und Determinanten der Einkommensverteilung

Wachstum bekämpft werden kann, mag richtig sein. Das in der Nachkriegsliteratur prognostizierte Wachstum ist jedoch ausgeblieben und große Einkommensungleichheiten könnten hierfür der Grund sein. Ein direktes Plädoyer für Studien über Einkommensverteilung in Entwicklungsländern stellt ein Zitat von Seers (1969:2-3) dar: „The questions to ask about development are therefore: What has been happening to poverty? What has been happening to unemployment? What has been happening to inequality? If all three of these have declined from high levels, then beyond doubt, this has been a period of development for the country concerned.“ Unter der Prämisse, dass Einkommensverhältnisse eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Drittweltländer spielen, ist auch die vorliegende Arbeit zu betrachten.