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Zum Umgang mit nationalsozialistischem Erbe – Ein Planspiel

Im Dokument Besucht: Die Aegidienkirche Hannover (Seite 44-48)

der Entscheidung, wie jeweils zu handeln ist, angeht. „Schon in der Simulation verhalten die Systeme sich auf eine Weise, die der Konstruk­

teur dieser Modelle nicht voraussehen kann. Die Unprognostizierbarkeit wird sozusagen einge­

rechnet. Und dann kann es natürlich nicht mehr überraschen, daß auch die realen Systeme sich unvorhersehbar verhalten. Modellrechnung und Realität konvergieren nun, so scheint es, in der Prognose der Unprognostizierbarkeit.“3

Ein Planspiel plant also keinen vorherbe­

stimmten Weg, den es dann im Spiel abzu­

schreiten gilt. Das wäre Theater (und hätte anders gelagerte Lerneffekte). Als Simulation grenzt das Planspiel eine Problemlage in einen behandelbaren und analysierbaren Rahmen ein, indem das überkomplexe Realproblem auf ein bestimmtes und abgegrenztes Setting durch Reduktion von Sachlage, Agierenden und Dauer zugespitzt wird. Dadurch wird überhaupt erst ein Diskussionsfeld eröffnet, in dem sich Komplexität neu entfalten kann.4 Konstitutive Elemente des Planspiels sind zudem die Reflexion und Auswertung der Spielszenen, die zeitlich abgesetzt und eigens als solche mar­

kiert sind – anders als in der Realität, wo Aktion und Reaktion und deren Beobachtung und Gegenbeobachtung stets simultan verlaufen.

Ablauf

Nach der Vorstellung der Planspiel­Methode braucht es zur Spieleinführung eine Situations­

beschreibung der Problemlage und die Vorstel­

lung der vertretenen Akteure. Rollenkarten ge­

ben Auskunft über Personen­ und Charakter ­ beschreibungen und können zusätzlich mit Ziel vorstellungen oder mit typischen O­Tönen der jeweiligen Charaktere versehen werden. Sie können entweder allen Beteiligten zugänglich gemacht werden oder aber auch nur den Rollen­

Inhabern. Um möglichst viele Schülerinnen und Schüler in den aktiven Pro zess einzubinden, können neben den Schauspielenden weitere Beobachtungs positionen vergeben werden, die einzelne Charaktere im Laufe des Spiels verfolgen oder bestimmte thematische Aspekte (z. B. Argu mentations weise, Emotionalität, Beziehungen) fokussieren. Weiter kann ei­

ne Spielleitung mit der Kontrolle eines vorher festgesetzten zeitlichen Rahmens beauftragt werden und als „diabolus ex machina“ neue

3 Luhmann, Niklas: Die Kontrolle von Intransparenz, 96.

4 Zur Reduzierung von Komplexität durch Komplexität siehe Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, insbes. 45ff.

Spiel situ ationen einwerfen, um etwa den Dis­

kussions verlauf anzukurbeln oder zuzuspitzen.

Die Spiel szene endet mit der abschließenden Entscheidung, wie mit dem Ausgangs problem umgegangen wird.

Vor der Spielauswertung werden die Schau­

spielenden aus ihren Rollen entlassen. Die Re­

flex ion des Geschehenen beginnt mit der Be­

fra gung der aktiv Beteiligten nach ihren Ein­

drücken, Emotionen und Erfahrungen. Danach folgen die Ausführungen der Beob achtungs ­ positionen. Zentrale Folgerungen, Kernsätze etc. sollten dokumentiert werden.

Die Schweringer Glocke bevor (oben) und nachdem Unbekannte sie mit der Flex „gereinigt”

hatten.

© Fabian Gartmann

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Material

Situation

Für unser Planspiel hat eine Kirchengemeinde in ihrem Kirchturm eine mit einem Hakenkreuz ver­

sehene Glocke entdeckt. Als Sofortmaßnahme hat der Kirchenvorstand beschlossen, die Glocke vorerst stillzulegen und ihre Geschichte aufzuar­

beiten. Nach zahlreichen Zeitungsartikeln und längeren Diskussionen in der Gemeinde, nach Bürgerversammlungen und Gesprächen mit der Kirchenleitung, mit Denkmalschützern und Historikern sowie politischen Vertretern steht nun die Kirchenvorstandssitzung an, die eine endgültige Entscheidung zum Umgang mit der Hakenkreuz­Glocke bringen soll: Weiterläuten oder Abhängen bzw. Ersetzen?

Rollen / Aufgaben

Als Rollen für die Spielszene dieser Kirchen­

vorstandssitzung bieten sich an: vier bis fünf Kirchenvorsteherinnen / ­vorsteher, Pastorin / Pastor, Kirchenleitung (etwa Landesbischöfin /

­bischof), Bürgermeisterin / Bürgermeister, Ver­

treterinnen und Vertreter der örtlichen Vereine und Verbände (etwa Ev. Jugend, Heimatverein), einen bis zwei Expertinnen / Experten (etwa His toriker, Denkmal schützer). Für jede Rolle braucht es eine Beobachterin / einen Beob­

achter. Die übrige Lerngruppe beobachtet das Gesamtgeschehen. Die Spielleitung kann die Lehrperson übernehmen, aber auch an eine Schülerin / einen Schüler vergeben werden.

Rollenkarten

In M 1 werden beispielhaft Vorschläge für die Rollenkarten präsentiert, die erweitert, fort­

geschrieben oder abgeändert werden kön­

nen. Die Einfügung von fiktiven Orts­ und Personennamen oder Berufsbezeichnungen macht die Charaktere noch anschaulicher.

Darauf muss an dieser Stelle verzichtet wer­

den, damit nicht der Verdacht aufkommt, es stünden real existierende Personen hinter den nachfolgenden fiktiven Beschreibungen, die holzschnittartig die Meinungen und Argumente wiedergeben, die in der Berichterstattung zu den Hakenkreuz­Glocken vorgekommen sind und öffentlich zugänglich waren.

Phasen

Als Einstieg in die Diskussionsrunde bietet es sich an, dass jede Rolle ein Kurzstatement abgibt.

Danach ist die Diskussion eröffnet. Es braucht eine gewisse Zeit, um sich ins Spiel einzufinden.

Zeitliche Vorgaben bieten sich eher nicht an, sondern müssen sich am Spielverlauf und an der insgesamt zur Verfügung stehenden Zeit ori­

entieren. In etwa der Mitte der Diskussionszeit empfiehlt es sich, die Teilnehmenden mit einer neuen Spielsituation zu konfrontieren, bspw.

das Angebot der Kirchenleitung, eine neue Glocke zu finanzieren. Etwa fünf Minuten vor Diskussionsende bittet die Spielleitung um die Abschluss­Statements und ruft anschließend zur Abstimmung auf.

Leitende Fragen für die nachfolgende Auswertung der einzelnen Rollen und des Gesamtprozesses können sein:

• Wie geht es mir?

• Was habe ich wahrgenommen?

• Was / welcher Satz / welche Situation ist mir besonders in Erinnerung geblieben?

• Was hat mich irritiert?

Unterrichtsplanung

Das Einsetzen der Methode Planspiel ist nicht unaufwendig. Einerseits muss die Methode ggf. selbst vorgestellt und eingeübt werden, andererseits benötigt das Einfinden in das je­

weilige Szenario ausreichend Zeit. Im konkreten Fallbeispiel bedarf es zudem einer Einarbeitung der Sachlage (etwa zur Entscheidungs­ und Gremienstruktur der ev. Kirche). Einfassen lässt sich die Unterrichtssequenz in die Beschäftigung mit der Situation der Kirche im NS­Regime, dem Kirchenkampf und dem Widerstand der

Bekennenden Kirche. ◆

Literatur

Luhmann, Niklas: Die Kontrolle von Intransparenz, Berlin 2017

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Berlin 1987 Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kern­

curriculum für das Gymnasium. 5chuljahrgänge 5­10. Evangelische Religion, Hannover 2016

FABIAN GARTMANN ist Pastor und hat an einer Berufsschule Religion unterrichtet.

Zurzeit ist er theo­

logischer Referent und Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit im Sprengel Hannover der Ev.­luth. Landeskirche Hannovers.

M 1: ROLLENKARTEN

Kirchenvorstand I Kirchenvorstand II:

Er / Sie ist seit knapp 20 Jahren Vorsitzende / r des Kirchenvorstandes, so auch im

Schützenverein. Ist im Dorf geboren und aufgewachsen. Gilt als wertkonservativ.

Sein / ihr Großonkel war der Glockengießer.

Ist für den Erhalt der Glocke, auch wenn er das Hakenkreuz beschämend findet. Es bleibt ein Stück Dorfgeschichte, in die sich niemand von außen einzumischen hat. Will den Frieden im Dorf wahren. Distanziert sich von den Gräueltaten des Nazi­Regimes.

Position:

„Die Glocke hat viele Jahre unbemerkt im Turm gehangen ohne irgendein Ärgernis. Die öffentliche Aufregung verstehe ich nicht. Die Glocke muss im Dorf bleiben!“

Sein / ihr Vater war im Dorf­Bürgermeister in der Nazi­Zeit. Er / Sie gilt als Traditionalistin / Traditionalist. Er / Sie hat sich in der

Flüchtlingskrise gegen die Unterbringung von Flüchtlingen eingesetzt. Er / Sie ist für den Erhalt der Glocke und für‘s Weiterläuten und wehrt sich gegen jeden Einfluss von außerhalb des Dorfes.

Position:

„Es muss auch mal Schluss sein mit der Hetzjagd auf Nazi­Symbole. Es ist alles lange her. Das Läuten der Glocke macht keinen zum Nazi. Eine neue Glocke ist Verschwendung von Kirchensteuer­

Geldern.“

Kirchenvorstand III: Kirchenvorstand IV:

Er / Sie ist Cousin / Cousine des Vorsitzenden und leitet den Seniorenkreis der Gemeinde.

Sie / Er ist eher still, aber fleißig, hat die Senioren der Gemeinde im Blick und bringt ein, dass die Älteren mehrheitlich für den Erhalt der Glocke sind. Sein / ihr Sohn engagiert sich im „Runden Tisch gegen Rechts“ und hat dort den Vorsitz.

Position:

„Ich kann auf beiden Seiten gute Argumente erkennen.“

Sie / er arbeitet in der nächst größeren Stadt und ist vor ein paar Jahren aufs Dorf gezogen. Sie / Er gilt bei der traditionellen Dorfbevölkerung als „zugezogen“. Sie / Er ist im Team der Kinderkirche aktiv, hat viele Kontakte zu Eltern und Müttern im Dorf, die mehrheitlich für das Abhängen der Glocke sind.

Position:

„Mir ist wichtig, dass die Glocke als zeitgeschichtliches Dokument erhalten und öffentlich zugänglich bleibt, aber nicht im kirchlichen Gebrauch ist.“

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Kirchenvorstand V: Pastor / in:

Sie / Er ist auch politisch im Gemeinderat aktiv und ist im Dorf aufgewachsen. Sie / Er vertritt dort die nächste Generation und hat Sorge, dass alle Dorfbewohnerinnen / Dorfbewohner für Nazis gehalten werden.

Position:

„Ich bin empört über die Hakenkreuz­

Glocke, fordere sofortige Abhängung und Aufarbeitung der Geschichte.“

Sie / Er ist seit vielen Jahren in der Gemeinde tätig, angesehen und beliebt bei Jung und Alt. Sie / Er versteht sich als Brückenbauer und Vermittler und sieht sich in der Sache

„zwischen den Stühlen“.

Position:

„Ich möchte Spaltungen in der Gemeinde verhindern. Ein respektvoller Dialog ist wichtiger als das Ergebnis!“

Kirchenleitung: Experte / Expertin:

Die Kirchenleitung sorgt sich um den Ruf der gesamten Kirche. Sie will zu einer schnellen Lösung kommen, die möglichst viele mittragen. Persönlich ist sie eher für das Abhängen der Glocke.

Position:

„Glocken mit Nazi­Symbolen dürfen nicht zu Gottesdienst und Gebet einladen! Ich rufe alle zu einem kritischen Umgang auf.“

Sie / Er plädiert für eine historische

Aufarbeitung und den Verbleib der Glocke in einem Museum und weist auf die

Verstrickungen des Dorfes in der Nazi­Zeit hin.

Position:

„Die Glocke ist ein zeitgeschichtliches Dokument, das erhalten werden muss. Es ist ein Mahnmal zur fragwürdigen Rolle der Kirche im Nationalsozialismus“.

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