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Die Zeugen sprechen lassen. Oral History in der Holocaustforschung

2 Roma- Holocaust im Protektorat Böhmen und Mähren

3.1 Die Zeugen sprechen lassen. Oral History in der Holocaustforschung

Nur noch ein paar Jahre wird es dauern, bis das Ende der Zeitzeugenschaft der Opfer des Holocausts endgültig kommen wird. Nur bis dahin können wir die

68 Vorländer, Herwart: Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, S. 24.

69 Ebd., S. 157.

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überlebenden Zeug*innen sprechen lassen. Die Erinnerungen aus dem Holocaust sind grausam. Sie traumatisierten seine Opfer auch nach der Befreiung. Die Verfolgung bleibt immer ein Teil deren Lebensgeschichte:

„Verfolgung und Unterdrückung, erfahrene soziale Ausgrenzung und Entrechtung, seelische wie körperliche Misshandlungen hinterließen ihre Spuren – Spuren, die auch Jahrzehnte nach der Befreiung noch sichtbar sind. Die Verfolgung führte – daran besteht kein Zweifel – zu einem Bruch in der Lebensgeschichte, der in einer Vielzahl medizinisch-psychiatrischer Untersuchungen beschrieben wird.“70

Doch manche von den Überlebenden haben viele Jahre, sogar Jahrzehnte gewartet, bis sie ihre Geschichte erzählen konnten, oder bis sie sich getraut haben zu sprechen. Ein anderer Grund, warum Roma ihre Zeugenschaft nicht niedergeschrieben haben, war auch das niedrige Bildungsniveau und somit auch oft der Analphabetismus der Roma:

„Jelikož většina obětí perzekucí neuměla číst a psát, mnozí z nich si přesně nevybavili dobu, kdy je odvezli do tábora. Několik Romů, kteří přežili holocaust, sice začalo po válce shromažďovat očitá svědectví, ale vzhledem k nedostatečné vzdělanosti se dokumentace kolektivního osudu Romů za druhé světové války stala dostupnou až v polovině šedesátých let.“71

„Weil die Mehrheit der Opfer der Verfolgung nicht lesen und schreiben konnte, konnten sich viele nich an die Zeit erninnern, wann sie ins Lager transportiert wurden. Einige Roma, die den Holocaust überlebt haben, sammelten nach dem Krieg Augenzeugenberichte an, aber wegen der mangelhaften Bildung wurde die Dokumentation des kollektiven Schicksals der Roma aus dem zweiten Weltkrieg erst Mitte der Sechziger Jahre zugänglich.“

Die Zeitzeugenschaft ist dennoch nicht nur für die Geschichte und für die nächsten Generationen von großer Bedeutung, sondern wirkt sich auch auf den psychischen Zustand des Opfers aus. Die Motivation, das Schweigen zu brechen, kommt auch aus der Überzeugung, dass das Zeugnis über die Geschehnisse im Holocaust als eine Warnung für die heutige Welt dienen könnte. Mit der Zeugenschaft erinnern die Überlebenden ihr Umfeld an die Geschehnisse, die nicht in Vergessenheit geraten sollten:

70 Boll, Friedhelm; Kaminsky, Annette: Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge zur Verfolgung in zwei Diktaturen. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH, 1999: S. 63.

71 Glassmanová, G.: Židovské a romské dědictví. Praha: Romano džaniben. Sborník romistických studií, 2002, S. 29.

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„Einen Aspekt lebensgeschichtlicher Forschungen zur Problematik von Verfolgung und KZ-Haft stellt das Erzählen dieser Erfahrungen dar. Die meisten Überlebenden drängt es, hierüber zu sprechen. Sie fühlen sich unverstanden von einer Umwelt, die häufig mit der Geschichte des Nationalsozialismus nicht mehr konfrontiert werden möchte. Um so wichtiger sind ihnen Menschen, mit denen sie vertrauensvoll über ihre Erfahrungen sprechen können, denn das Erzählen – öffentlich oder privat – hat für viele eine leidlindernde Wirkung. Viele verbinden mit dem Erzählen die Botschaft „Nie wieder!“.“72

Über den Holocaust zu sprechen, ist nicht einfach. Die Überlebenden haben viele oder sogar die meisten ihrer Verwandten im Konzentrationslager verloren und nicht allzu selten stehen sie ganz allein mit ihren Aussagen da. Sie müssen in ihren Erinnerungen zurück zum Leid, zum grausamen Alltag des Konzentrationslagers und sie sind wieder mit dem Tod ihrer Liebsten konfrontiert. Aus diesen Gründen sind die Interviews schwer zu analysieren und zu bewerten.

„Gerade bei Erinnerungsberichten von Holocaust-Überlebenden ist man als Historiker kaum geneigt zu fragen, ob alles, was erzählt wird, eigentlich „stimmt“.

Menschen gegenüber, die so viel gelitten haben, erscheint es als Zumutung, die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen in Frage zu stellen. Zudem gehört es zum Wesen des Holocaust, dass der Bericht eines Überlebenden oft ganz alleine steht:

Freunde und Verwandte wurden Opfer des Holocaust; Familienbriefe und andere schriftliche Quellen existieren nicht mehr. In solchen Fällen ist es unmöglich, die Aussagen mit anderen Quellen zu vergleichen.“73

Bei der Zeugenschaft von traumatisierenden Ereignissen können auch verschiedene nonverbale Ausdrucksweisen beobachtet werden. Oft kommt es zum Weinen, Schwitzen, Erröten oder zur Gänsehaut. Die Konfrontation mit den traumatisierenden Geschehnissen ist immer noch lebendig und real. Viele der Überlebenden leiden auch bis heute, 75 Jahre nach der Befreiung, an Alpträumen, die Szenen aus dem Holocaust zum Inhalt haben.

Auch moralischen Fragen wird man sich stellen müssen. Denn zu überleben im Konzentrationslager bedeutete auch auf eigenen Beinen zu stehen und oft keine Rücksicht auf andere nehmen zu können. Beim täglichen Hunger und der Gefahr, die in den Konzentrationslagern herrschte, war das ein Einzelkampf ums Überleben:

„Es existieren die „Grenzen des Sagbaren“, wie Michael Polak es nennt: KZ- und Verfolgungserlebnisse stellen moralische Grenzerfahrungen dar, die

72 Boll, Friedhelm; Kaminsky, Annette: Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge zur Verfolgung in zwei Diktaturen. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH, 1999, S. 64.

73 Ebd., S. 41.

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Außenstehenden nur schwer zu vermitteln sind, betreffen sie doch einen Tabu-Bereich, etwa dass man gezwungen war, eigene Schamgrenzen und ethische Normen zu übertreten. Überleben bedeutete häufig auch das Überleben auf Kosten anderer.“74

Um Oral History-Interviews über den Holocaust gut zu untersuchen, werden nicht nur kritische Gegenüberstellungen mit wissenschaftlichen Dokumenten zum Vergleichen gebraucht - falls diese überhaupt existieren – sondern auch eine Methodenvielfalt, um Verallgemeinerung zu vermeiden:

„Eines der Grundprobleme liegt in der Verallgemeinerungsfähigkeit der getroffenen Aussagen über einzelne Individuen oder kleinere Gruppen hinaus. Dies ist ein neuralgischer Punkt für die qualitative sozialwissenschaftliche Forschung überhaupt. Dennoch gibt es besondere Probleme, wenn es um Mentalitäten, um Verarbeitungen von Erfahrungen, speziell von traumatischen Erlebnissen usw.

geht. Daher bemüht man sich in solchen historischen Arbeiten zumeist um Methodenvielfalt oder um spezielle Methoden, die verallgemeinernde Aussagen wenigstens plausibel erscheinen lassen.“75

Das Leiden der Holocaust-Überlebenden wird nach einer Befragung zum untersuchten Gegenstand eines Oral-History-Projektes. Das hat oft eine positive, heilende Wirkung auf die Zeitzeugen. Denn endlich werden sie befragt und gehört.

Endlich können sie erzählen und ihr Leid mit der Gesellschaft teilen. Das Erlebte im Konzentrationslager bleibt aber trotzdem für immer ein Teil des Lebens des Überlebenden, was schwer aus dem Gedächtnis zu streichen ist. Deutlich ist das im Zitat des Schriftstellers Jurek Becker in seinem Roman Der Boxer beschrieben:

„Du musst nicht denken, so ein Lager ist von einem Tag auf den anderen zu Ende.

Schön wäre das. Wirst befreit, gehst raus, und alles ist vorbei. So ist es leider nicht, ihr stellt euch das viel zu einfach vor, das Lager läuft dir hinterher. […] Von draußen sieht es aus wie ein normales Leben, in Wirklichkeit sitzt du noch im Lager, das in deinem Kopf weiterexistiert. Du fürchtest, so fängt der Wahnsinn an.“76

74 Boll, Friedhelm; Kaminsky, Annette: Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge zur Verfolgung in zwei Diktaturen. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH, 1999: S. 64

75 Forum qualitative Sozialforschung: Geschichte und Psychologie – Oral History und Psychoanalyse.

Problemaufriss und Literaturüberblick.

http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/656/1420, zuletzt besucht am 24.01.20.

76 Becker, Jurek: Der Boxer. Frankfurt a. M., 1979: S. 103.

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