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Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW (Institut Kinder- und Jugendhilfe) wurde 2010 von der wikip-Projektleitung mit der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts betraut. Diese beinhaltete eine umfassende Situationsanalyse und Bedarfserhebung in den Jahren 2010/2011 (vgl. 2.1), den regelmässigen Austausch über deren Ergebnisse und Erkenntnisse in den verschiedenen Projektgre-mien sowie die vorliegende Projektevaluation im Jahr 2013. Über den gesamten Projektverlauf war es ein Anliegen der Projektleitung und des begleitenden Teams der FHNW, eine wissenschaftliche (Aussen-)Perspektive ins Projekt einfliessen zu lassen. Die Resultate der Bedarfserhebung, die im Folgenden kurz umrissen werden, sowie empirische Befunde aus der Forschung zur Versorgung von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil konnten so für das Projekt nutzbar gemacht, diskutiert und in Bezug auf ihre Bedeutung für wikip und den Standort Winterthur reflektiert werden.

2.1 Resultate der Situationsanalyse und Bedarfserhebung

Die Situationsanalyse und Bedarfserhebung (Müller et al. 2011; Müller/Gutmann/Fellmann/Steiner 2013) sollte die Projektleitung von wikip darin unterstützen, die Planung von Massnahmen an einem empirisch gesicherten Optimierungs- und Veränderungsbedarf in den verschiedenen Handlungsfel-dern und in Bezug auf die Kooperation verschiedener Organisationen und Institutionen auszurichten.

In Anbetracht der vielschichtigen Zielsetzungen von wikip und um der komplexen Problematik der Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil sowie der Frage nach angemessenen Versor-gungsstrukturen und Unterstützungsangeboten gerecht zu werden, wurde ein multiperspektivischer Feldzugang (Flick 2004; Tashakkori/Teddlie 2003) gewählt. Dieser ermöglichte es, die Perspektiven unterschiedlichster Versorgungssysteme, Organisationen und Professionen sowie der be-troffenen Familien zu analysieren.

Die Ergebnisse einer im Rahmen der Situationsanalyse und Bedarfserhebung durchgeführten Re-cherche zu „good practice“ verdeutlichten, dass in Winterthur zur Zeit der Lancierung von wikip eine gute Basis für die Verbesserung der Unterstützung und Versorgung von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil vorlag. Es bestand bereits eine Kultur der interinstitutionellen Zusammenarbeit sowie eine beträchtliche Anzahl an Projekten, Ansätzen und Modellen, die sich inhaltlich mit den Anliegen von wikip verknüpfen liessen. Exemplarisch sind die bestehenden Zu-sammenarbeitsformen im Rahmen von „Interfall“, das Therapieangebot ZEBRA für Kinder suchter-krankter Eltern, die Fachstelle Frühförderung und die Arbeitsgruppe Familienpsychiatrie (vgl. auch 1) zu nennen.

Auf der Ebene der Zielgruppe (Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil) zeigte sich in den Resultaten aus qualitativen Interviews mit betroffenen Müttern (n=9), die so ausgewählt wurden, dass sie möglichst unterschiedliche Fälle abzudecken vermochten (in Bezug auf Diagnose, Alter der Kinder, involvierte Fachstellen), eine beträchtliche Heterogenität der Lebenssituationen, des Unterstützungsbedarfs und eigener Erfahrungen mit professioneller Hilfe. Eine langjährige vertrauensvolle Beziehung zu einer Fachperson wurde von den Interviewten als einer der wichtigs-ten Aspekte „gelingender Unterstützung“ identifiziert, und zwar unabhängig vom disziplinären bzw.

institutionellen Hintergrund dieser Person wie auch von deren Auftrag in der Familie. Weiter wurden klare Zuständigkeiten, die Adressierbarkeit von Diensten und Fachleuten sowie ein koordinierter und familienorientierter Unterstützungsprozess als hilfreich benannt. Als problematisch wurden das komplexe und bisweilen unübersichtliche Hilfesystem, fehlende Informationen über Zielsetzungen

professioneller Massnahmen und als stigmatisierend oder defizitorientiert wahrgenommenes Verhal-ten sowie eine hohe Fluktuation von Fachpersonen empfunden.

Auf der Ebene der Fachleute wurden im Rahmen von Gruppendiskussionen, Experteninterviews (n=16) und einer Onlinebefragung (n=321) auftrags- und systembedingte Wissenslücken und Infor-mationsbedarfe deutlich - so wussten z.B. Fachleute, die primär mit Kindern betroffener Familien zu tun hatten, meist nicht, durch welche Fachleute und Institutionen deren Eltern unterstützt wurden.

Ebenso gab ein beträchtlicher Anteil der Befragten an, zu wenig über psychische Erkrankungen zu wissen, um im Einzelfall deren Auswirkung auf die kindliche Entwicklung adäquat einschätzen zu können. Auf der anderen Seite wussten Fachleute, deren Auftrag hauptsächlich in der Unterstützung oder Behandlung der psychisch erkrankten Elternteile lag, wenig über das Befinden und allfälliger Belastungssituationen von deren Kindern oder über die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Nur ein geringer Anteil der Befragten gab an, direkt mit den Kindern über die Erkrankung des Elternteils zu sprechen. Viele Fachpersonen verfügten zudem gemäss eigener Einschätzung weder über die nötigen Informationen noch über genügend Ressourcen, um ihre Interventionen mit denen anderer Professioneller zu koordinieren. Für einen Teil der Fachpersonen, insbesondere aus dem medizini-schen Sektor, beschränkten zudem Schweigepflichtbestimmungen und Abrechnungsmodalitäten mit Krankenversicherungen den fallbezogenen Austausch mit anderen Fachleuten.

Die im Rahmen der Bedarfserhebung durchgeführte quantitative Netzwerkanalyse verdeutlichte auf der Ebene der Zusammenarbeit und Koordination verschiedener Organisationen, Institutio-nen und Berufsgruppen die Herausforderung einer „integrierten“ oder „familienorientierten“

Unterstützung betroffener Familien. Bezogen auf interinstitutionelle Kontakte im Zusammenhang mit Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil zeigte sich eine hohe Kontakthäufigkeit zwischen den Diensten und Angeboten für Kinder (Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste, Schulpsychologie, Sozialpädiatrisches Zentrum, Mütter-/Väterberatung u.a.). Auch Dienste, deren Auftrag sich auf die ganze Familie bezieht (Sozialhilfe, Vormundschaftsbehörden), lagen relativ zentral im Netzwerk, während die verschiedenen psychiatrischen Dienste und Angebote nur wenig mit dem Unterstützungssystem für Kinder interagierten. In den Experteninterviews wie auch der Onlinebefragung wurde in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen Organisationen und Institutionen auch der Bedarf nach einer verbesserten Koordination in der Fallführung bzw. Klärungen der Zusammenarbeit und Zuständigkeiten, insbesondere zwischen den Akteuren aus dem Versorgungs-system für Erwachsene und den Institutionen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe, deutlich.

Insgesamt zeigten die Resultate der Situationsanalyse und Bedarfserhebung in Bezug auf die Zielset-zungen von wikip somit einen Optimierungsbedarf in der Zusammenarbeit verschiedener Institu-tionen und Dienste, der sich vor allem auf unterschiedliche institutionelle und professionelle Handlungslogiken, Zuständigkeitswahrnehmungen und die Koordination von fallbezogenen Interven-tionen bezog. Ebenso wurde in den verschiedenen Datenerhebungen die Notwendigkeit einer Sensi-bilisierung von Fachleuten und Wissensvermittlung im Hinblick auf die Unterstützungsbedarfe der verschiedenen Familienmitglieder sowie die bestehenden Angebote deutlich. Betroffene Familien wünschten sich eine professionelle Unterstützung, die koordiniert und in Bezug auf Helfernetze mit einer gewissen Kontinuität umgesetzt wird und den Bedürfnissen aller Familienmitglieder sowie der gesamten Lebenssituation der oft mehrfach belasteten Familien Rechnung trägt. Die Ergebnisse der Interviews mit betroffenen Müttern zeigten auch, welche Auswirkungen ein „Weiter-schicken“ von unterstützungsbedürftigen betroffenen Familien in einem zu wenig vernetzten System auf die zeitnahe, bedarfsgerechte und als hilfreich wahrgenommene professionelle Hilfe hat. Je länger die betroffenen Familien mit komplexen Problemlagen diese ohne geeignete Unterstützung bewälti-gen mussten, desto grösser war das Risiko der Entstehung weiterer Probleme, dysfunktionaler Bewältigungsmuster (z.B. Medikamente) und der Destabilisierung des Familiensystems. Gerade letzterer Befund der Situationsanalyse und Bedarfserhebung verlieh im Vorfeld der ersten Pro-jektphase von wikip der Zielsetzung der fallübergreifenden besseren Vernetzung der

Netzwerkakteu-re sowie der fallbezogenen Massnahmenkoordination zwischen verschiedenen Teilversorgungssys-temen zusätzliches Gewicht.

2.2 Projekt und Projektumfeld: SWOT-Analyse

Zusätzlich zu den auf der Basis der Resultate der Situationsanalyse und Bedarfserhebung formulier-ten Empfehlungen zu inhaltlichen Schwerpunktsetzungen wurde im Vorfeld der ersformulier-ten Projektphase von wikip eine SWOT-Analyse3 durchgeführt. Diese hatte zum Ziel, das Projekt und das Projektumfeld in einen differenzierten Kontext zu stellen, um Potenziale und „Stolpersteine“ anschaulich zu bündeln und darzustellen sowie einen Überblick über das Gesamtprojekt und seine Einbettung zu geben.

Die SWOT-Analyse wurde auf der Grundlage folgender Informationen erstellt:

• Ergebnisse der Situationsanalyse und Bedarfserhebung

• Projektkonzept, Projektdarstellung auf Website www.wikip.ch

• Austausch und Diskussion mit Projektleitung, Gesprächs- und Sitzungsnotizen

• Validierungsrunde der Experteninterviews

• Aufzeichnungen und Notizen, die im Rahmen von Workshops mit Projektgremien (Teilpro-jektgruppen, Projektgruppe, Projektsteuerungsgruppe) gemacht wurden

Projektanalyse WIKIP

Stärken Schwächen

Wissensbasis (Prävalenzstudie)

Expertise, Erfahrung und Vernetzung der Projektleitung

interdisziplinär besetzte Projektgremien: hohe Fachexpertise und Engagement, Vertretung aller relevanter Akteure

Einbezug von „key stakeholders“ in Projektgremien

Prozess der interdisziplinären und -institutionellen Vernetzung wird durch die Arbeit in den Teilprojektgruppen und anderen Gremien gefördert

Einbezug von betroffenen Familien bzw. Eltern in Projektgremien und Evaluation

Definition und Abgrenzung von Handlungsfeldern und Teilzielen

Pilotprojekt mit hohem Innovationspotential, Novum in der Schweiz

bereits ausgearbeitete erfolgsversprechende Massnahmenvor-schläge durch die Teilprojektgruppen

externe wissenschaftliche Begleitung: Basis-Datenerhebung, Massnahmenevaluation, Schlussevaluation

Komplexität der Thematik und breit formulierte Zielsetzungen vs.

Projektdauer und -ressourcen

sehr breite Zielsetzungen vs. relativ eingeschränkte Handlungs-möglichkeiten (Projektdauer, vorhandene Finanzierungsmöglich-keiten)

strategische Einbettung, Anschluss an bestehende Projekte (vgl.

Umfeldanalyse) nicht geklärt

inhaltlich: Projekt für Region (z.B. catchment area von ipw) oder Stadt? inkonsistenter Einbezug lokaler und regionaler Akteure, nicht klar kommuniziert gegenüber entsprechenden Stellen

ungenaue Eingrenzung der Zielgruppe: Kinder psychisch erkrankter Eltern oder Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil, Einbezug bzw. Gestaltung der Massnahmen auch für suchterkrankte Eltern?

Schwierigkeit einer objektiven Wirkungsanalyse während der Laufzeit des Projekts

Trägheit der Entscheidungsabläufe durch die komplexe Projektorganisation

Umfeldanalyse

Chancen Risiken

sehr gute Standortbedingungen: Grösse, bereits vorhandene Vernetzung

Interesse bei kantonalen Stellen vorhanden

Erfahrung und Konzeptarbeit mit „integrierter Versorgung“ an Standort vorhanden

Sensibilisierung von Fachpersonen auf die Thematik teilweise vorhanden

Evidenzbasierung unter Rückgriff auf aktuelle Forschungsergeb-nisse möglich

Anlehnung an Modelle der „good practice“ möglich

bereits vorhandene Projekte und Kooperationsstrukturen, innerhalb derer Strukturen Teilprojekte von WIKIP lanciert werden können

hochdynamisches Umfeld, viele Entwicklungen zur Zeit noch nicht abschätzbar (SwissDRGs, Präventionsgesetz, Revision des ZGB bzgl. Kindesschutz und KESBs)

strukturelle Rahmenbedingungen (Differenzierung und Spezialisierung von Diensten, Teilzeitarbeit, Personalfluktuation) nicht veränderbar

schwierige Mobilisierung von Ressourcen in Zeiten der Ressourcenknappheit, wenig Spielraum für Ansätze, deren Kosteneffizienz sich nicht unmittelbar nachweisen lässt

Zielgruppe gehört zu wachsendem Anteil von Nutzerinnen und Nutzern des Gesundheits- und Sozialsystems mit sehr komple-xen Problemlagen  keine „pfannenfertigen“ Lösungen zum Umgang, Ansprüche an Case Management sehr hoch

3 Der Begriff steht für „analysis of strengths (Stärken), weaknesses (Schwächen), opportunities (Chan-cen/Möglichkeiten) and threats (Bedrohungen/Risiken)“. Eine SWOT-Analyse besteht aus einer Zusammen-stellung von Analyseergebnissen des externen Umfelds (Umweltanalyse) in einem Chancen-Risiken-Katalog.

Die Umfeldanalyse wird einer Analyse der Stärken und Schwächen des Projekts gegenübergestellt.