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Wissen vermitteln, Ambiguitäts- toleranz fördern

Im Dokument und Bildungsarbeit (Seite 39-42)

Klar ist: außerhalb der extremen rechten und des islamischen Fundamentalismus ist antisemitis-mus als manifestes Weltbild glücklicherweise eher selten anzutreffen. deutlich weiter verbreitet ist die reproduktion einzelner stereotype und topoi, die Konstruktion von differenz und ein fragmentari-scher rekurs auf antisemitische deutungsmuster.

Von einzelnen Äußerungen ist in den meisten Fällen nicht auf eine gefestigte einstellung zu schließen (vgl. Schäuble 2012). und, was oftmals unter den tisch fällt: bei erwachsenen ist vorurteilsbehaftetes denken zumeist viel weiter verbreitet als bei Ju- gendlichen. Klar ist aber auch: israel und der nah- ostkonflikt spielen im zusammenhang mit aktuellen erscheinungsformen des antisemitismus eine große rolle. die palette der zuschreibungen ist breit. sie reicht von vereindeutigenden Gut-Böse-schemata über Motive der täter-opfer-umkehr, die unter-stellung von rachsucht und profitgier, einem dem repertoire des christlichen antijudaismus entstam-menden Vorwurf des Kindermordes bis hin zu glo- balen Verschwörungstheorien. allerdings sind die möglichen Begründungen und Motivationen für sol- che zuschreibungen ebenfalls vielfältig. und gleich-zeitig ist nicht jede kritische Bezugnahme auf den Konflikt im nahen osten und das handeln des israelischen staates als antisemitismus zu fassen.

Was also tun als pädagoge/-in?

Für die theoretische unterscheidung kann die auseinandersetzung mit definitionen hilf- reich sein. das frühere euMc (heute Frau) bei-spielsweise hat 2005 eine arbeitsdefinition von antisemitismus erstellt, die sich bemüht,

antisemi-tische und nicht-antisemiantisemi-tische Bezugnahmen auf israel praxisnah zu unterscheiden (euMc 2005).

Für die pädagogische praxis allerdings wird die lage etwas komplexer. hier nämlich spielen weit-aus mehr Faktoren eine rolle: Fragen von identität, Macht und ohnmacht, anerkennungskämpfe und opferkonkurrenzen, persönliche oder familiäre Flucht- und Vertreibungserfahrungen, durch natio-nalgeschichtliche oder familiäre narrative geprägte loyalitäten oder auch erfahrungen von diskrimi-nierung im aufnahmeland und darauf aufbauende parallelisierungen von ausgrenzungs- oder unter-drückungserfahrungen.

„abwertende einstellungen sind keine eigenschaften, die von vornherein von bestimmten Gruppen gezeigt werden, sie entwickeln sich in auseinandersetzung mit narrativen einerseits und mit der materiellen und sozialen lebenssituation anderseits, als reaktionen auf die Gesellschaft und das zusammenleben der Menschen miteinander.

daher sind abwertende einstellungen dann über-windbar, wenn sich die Gesellschaft für die kom-plexen hintergründe problematischer einstellungen und Verhaltensweisen sensibilisiert.“ (Mansel/

Spaiser 2010: 69)

Wenn wir also zusammenfassend antise-mitismus – grob gesagt – als problematischen Ver-such verstehen, sich die komplizierte Welt erklärbar zu machen, einen platz darin zu finden und eine positive identität zu erreichen. Wenn wir dazu fest- stellen, dass diese Welt voller Widersprüche steckt und Fragen von identität und zuschreibung, recht und unrecht, schuld und sühne, Geschichte und Gegenwart, Macht und ohmacht, opfer und täter zwar einerseits im antisemitismus projiziert werden, beispielsweise auf den nahostkonflikt, gleichzeitig aber zutiefst real und wirkmächtig sind – und wenn wir dann noch wissen, dass die Frage danach, warum sich eine person in dieser oder jener Form positioniert mindestens ebenso relevant ist wie die positionierung an sich – wenn wir all dies zusam-mendenken und als ein zentrales ziel politischer Bildung die Fähigkeit zu selbstbestimmung und ur-teilsbildung im Kant’schen sinne definieren, dann muss eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit zum nahostkonflikt genau dort ansetzen. sie sollte das individuum in den Mittelpunkt stellen. sie sollte nachfragen. sie sollte Wissen vermitteln und emotionen aushalten. Vor allem aber sollte sich dem streben nach eindeutigkeit widersetzen. und Mehrdeutigkeit zulassen lehren und lernen.

literatur

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in der Europäischen Union: Einführung in ein neues For-schungsfeld. In: Lars Rensmann / Julius H. Schoeps (Hg.):

Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa. Berlin, S. 9–40 Schäuble, Barbara (2012): „Anders als wir“.

Differenzkonstrontruktionen und Alltagsantisemitismen unter Jugendlichen. Anregungen für die politische Bildung.

Berlin Taguieff, Pierre-André (2004): Angesichts einer neuen Judeophobie: Eine Herausforderung für Frankreich.

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www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/

Politik_Gesellschaft/EXpertenkreis_Antisemmitismus/

kuepper.pdf?__blob=publicationFile Zuckermann, Moshe (2012): Wider den Zeitgeist. Bd. I. Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus. Hamburg

autorinneninFo

 ANNE GOLDENBOGEN

diplom-politikwissenschaftlerin und projektleiterin des Modellprojektes „anerkennen, auseinanderset-zen, Begegnen“. ihre schwerpunkte im projekt wa-ren die Konzeptionierung, durchführung und evalu-ation der pädagogischen ansätze, die entwicklung und umsetzung der Blickwinkel-tagungsreihe sowie die erstellung des theorie-praxis-handbuches.

darüber hinaus entwickelt und leitet sie Qualifizie- rungsmaßnahmen für lehrkräfte, sozialpädagogen/

-innen und andere Multiplikatoren/-innen zum the-menkomplex antisemitismus und Bildungsarbeit.

an der

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