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3.1 Die klinische Epidemiologie in der ärztlichen Entscheidungsfindung

3.1.1 Wirksamkeit von Interventionen

Um beim Management von Patienten differenzierte Entscheidungen zu fällen, benötigt ein Arzt spezifische Informationen über die beabsichtigte Behandlung und den betroffenen Patienten, die er gegeneinander abwägen muss: Was sind die Konsequenzen, nichts zu tun (Ausgangsrisiko des Patienten) verglichen mit dem potentiellen Nutzen der Behandlung (Ausmaß der Risikosenkung)? Wie wahrscheinlich und wie groß sind die potentiellen Nebenwirkungen durch die Behandlung? Welches sind die Patienten mit hohem Risiko und / oder guter Ansprechbarkeit auf die Behandlung? Wie wirksam ist die vorgesehene Behandlung verglichen mit anderen präventiven oder therapeutischen Maßnahmen? Dafür sind einheitliche, aussagekräftige und verständliche Maßzahlen erforderlich, die möglichst viele der aufgeführten Aspekte abbilden. Für binäre Ereignissen stehen dafür das relative Risiko (RR), die relative Risikoreduktion (RRR) und die Odds Ratio (OR), die absolute Risikoreduktion (ARR) und die Number Needed to Treat (NNT) zur Verfügung.

3.1.1.1 Relative Maßzahlen

Das relative Risiko (RR) ist das Verhältnis zwischen dem Risiko für ein negatives Ereignis (z.B. Tod) in der Behandlungsgruppe bezogen auf das Risiko für ein negatives Ereignis in der Kontrollgruppe.

Entsprechend beschreibt die relative Risikoreduktion (RRR) die Differenz der Ereignisraten zwischen Kontroll- und Behandlungsgruppe, dividiert durch die Ereignisrate in der Kontrollgruppe (Tab. 3.1).

Die RRR wird in der Umgangssprache intuitiv bei der Beschreibung von Risiken verwendet und somit auch häufig in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten eingesetzt.

Tab. 3.1: Relatives Risiko und Odds Ratio: Identische Studienergebnisse, ausgedrückt als RR, RRR und OR am Beispiel der Ulkusprophylaxe durch H2-Blocker164 bei unterschiedlichem Patientenrisiko (hoch: 30%; gering:

3%).

Risiko Ausgangsrisiko

(Ulkus) Odds Ausgangsrisiko

(Ulkus)

RR=relatives Risiko; RRR=relative Risikoreduktion; OR=Odds Ratio

Die „Odds“ für ein Ereignis ist das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass das Ereignis stattfindet zur Wahrscheinlichkeit, dass es nicht stattfindet. Die Odds Ratio (OR) ist demnach das Verhältnis

Kontrolle on Interventi

Odds

Odds . Während die OR wegen ihrer stabilen statistischen Eigenschaften von Methodikern geschätzt wird, fehlt Ärzten und Patienten in der Regel der Zugang zu dieser Maßzahl165.

Da relative Maßzahlen Grundrisiko und Behandlungsnutzen für den Patienten nicht abbilden, erscheint bei klinischen Entscheidungen die Wirksamkeit einer Behandlung bei hohem Ausgangsrisiko ungerechtfertigt pessimistisch, bei niedrigem Ausgangsrisiko überoptimistisch.

3.1.1.2 Absolute Maßzahlen

Aussagekräftigere Informationen über die reale Wirksamkeit einer Maßnahme liefert die absolute Risikoreduktion (ARR), die die Differenz zwischen den Ereignissen von Kontroll- und Behandlungsgruppe beschreibt und dabei das Grundrisiko des Patienten einbezieht. Dennoch hat sie keinen Eingang in die ärztliche Kommunikation gefunden. Erst in der reziproken Darstellung als

„Number Needed to Treat“ (Anzahl an Patienten, die über einen bestimmten Zeitraum behandelt werden müssen, um ein zusätzliches negatives Ereignis zu verhindern166) wurde die Information in ein leicht verständliches Format gebracht.

A) Ausgangsrisiko

* Ausgangsrisiko für Tod durch KHK

Durch die Wechselwirkung zwischen Ausgangsrisiko und Wirksamkeit einer Intervention profitieren Patienten mit hohem Risiko (Beispiel A: 80%) von weniger wirksamen Maßnahmen (RRR 15%) in dem gleichen Ausmaß wie Patienten mit geringerem Grundrisiko (Beispiel B: 30%), die Maßnahmen von größerer Wirksamkeit (RRR 40%) erhalten (Tab. 3.2). In beiden Beispielen resultiert eine NNT von acht Patienten. Dagegen führt selbst eine effektive Behandlung (RRR 33%) nur zu einem bescheidenen Behandlungsnutzen (NT5 J.: 200), wenn das Ausgangsrisiko gering ist (Beispiel C:

1,7%). Der Zusammenhang von Ausgangsrisiko und NNTs bei konstantem Behandlungseffekt lässt sich grafisch in der sogenannten NNT-Kurve darstellen (s. auch 3.2.2.2 und Abb. 3.1). Verglichen mit den relativen Maßzahlen bieten die NNTs einen besseren Schutz gegen Fehleinschätzungen über den Nutzen von Maßnahmen.

3.1.1.3 Übertragbarkeit auf den Versorgungsalltag: Grenzen und Beschränkungen der Maßzahlen

Von allen Maßzahlen erfüllen die NNTs am ehesten die in 3.1.1. beschriebenen Anforderungen für den klinischen Einsatz. Dennoch haben auch NNTs ihre Grenzen, insbesondere bei der Anwendung auf andere Populationen oder Individuen168: Durch Selektion des Patientenspektrums, intensive Unterstützung bei der Compliance und andere studienspezifische Maßnahmen1 wird selbst die aus

„Effectiveness“-Studien geschätzte Wirksamkeit einer Behandlung für die Routineversorgung

1So wurden z.B. für die WOSCOP-Studie308, die den ersten Nachweis einer erfolgreichen Primärprävention von KHK durch Lipidsenkung lieferte, 80.000 Personen gescreent, 20.000 in die engere Auswahl eingeschlossen und 6.000 schliesslich rekrutiert. Zur Steigerung der Compliance fand alle 3 Monate eine Nachbeobachtung statt. Die Studie selbst wurde in Schottland, einer der Gegenden Europas mit der höchsten KHK-Prävalenz, durchgeführt.

höchstwahrscheinlich überschätzt. Um Unterschiede in den Ausgangsrisiken zwischen dem eigenen Patienten und dem durchschnittlichen Studienpatienten anzupassen, wurde aus dem Verhältnis

ient Studienpat typ.

Patient eigener siko Ausgangsri

siko Ausgangsri

der Korrekturfaktor „f“ entwickelt169. Die Division der Studien-NNTs durch den Korrekturfaktor „f“ ergibt somit einen Näherungswert für die NNT des eigenen Patienten. Bei geringerem Patientenausgangsrisiko würden die in der Studie ermittelten NNTs gegebenenfalls deutlich ansteigen und den Behandlungsnutzen erheblich relativieren und umgekehrt. Aus klinischer Sicht besteht für die Ärzte die eigentliche Herausforderung in einer angemessenen Einschätzung des patientenspezifischen Grundrisikos bei den unterschiedlichen Krankheiten. Trotzdem bedeuten die NNTs für Ärzte und Patienten eine erhebliche Bereicherung für die Interpretation von Studienergebnissen oder die Kommunikation über den Nutzen (bzw. fehlenden Nutzen) von Maßnahmen

.

Die Argumente für die besondere Eignung der NNTs als Kommunikationsmittel werden durch neuere Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie170-172 unterstützt. Experimente zeigten, dass die Darstellung von Risiken in Wahrscheinlichkeiten (z.B. 0.2 oder 20%) selbst bei Akademikern, die berufsmäßig mit dem Risikobegriff umgehen (z.B. Ärzte oder Richter), zu erheblichen Fehlinterpretationen der Aussagen führte, während die Darstellung der gleichen Situationen in natürlichen Häufigkeiten (z.B. 1 von 5) korrekt interpretiert wurde173. Verschiedene Studien zu medizinischen Entscheidungssituationen haben diese Interpretationsprobleme („Framingeffekt“) wiederholt auch bei Ärzten nachgewiesen, die in Abhängigkeit von der Darstellungsform der gleichen Information schlussendlich zu diskrepanten Behandlungsentscheidungen kamen174-178.