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Wiederherstellung der Menschenwürde. Der Nationalsozialismus hat den registrierteu [sic!] Massenmenschen ohne Persönlichkeit geschaffen

Im Dokument Die Freiheitsaktion Bayern (Seite 159-200)

Die Anhänger der FAB. wollen jedem einzelnen Staatsbürger wieder das Be-wußtsein von der Bedeutung der freien menschlichen Persönlichkeit zurück-geben.

Sie sind darüber hinaus überzeugt, daß nur aus der Erneuerung des einzel-nen Menschen auch eine Erneuerung des gesamten staatlichen Lebens mög-lich ist. Von dieser Grundauffassung werden alle ihre Maßnahmen getragen sein.“

giöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft.“598 Die Kreisauer Grund-sätze waren ein sämtliche gesellschaftliche Bereiche umfassendes Gesamtkon-zept, das allerdings kaum die konkrete Situation der Deutschen an einem Tag X nach einem Machtwechsel behandelte. Das Programm der FAB geht dagegen gerade in den Punkten drei bis acht, in denen die Beendigung des Krieges, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Sicherung der Ernährung und der Neuordnung der Wirtschaft, das Rechts- und Sozialsystem behandelt wer-den, auf die akuten alltäglichen Bedürfnisse der Menschen ein.

Auch die vorbereitete Erklärung einer Regierung unter Beck und Goerdeler setzt auf einer wesentlich höheren und allgemeinen Ebene an. Parallelen beste-hen dagegen in der äußeren Form. Die Erklärung ist ebenfalls in verschiedene Punkte gegliedert, hier sind es insgesamt elf. In Bezug auf eine Regierung ist formuliert: „Einstweilen werden lautere, sachkundige Männer aus allen Ständen berufen werden; ihnen werden wir Rede und Antwort stehen, ihren Rat wollen wir einholen.“599 Im Münchner Zehn-Punkte-Programm wird ebenfalls einlei-tend bekannt gegeben, dass die FAB einen Regierungsausschuss gebildet habe,

„bestehend aus zehn Beauftragten für die einzelnen Arbeitsgebiete“.

Zu diesem Regierungsausschuss existiert leider keine direkte Quelle. Zwei Personenlisten, die erhalten sind, geben nur unbefriedigende Anhaltspunkte und lassen kaum sinnvolle Rückschlüsse zu, weshalb sie hier nur kurz beschrieben werden sollen: Die erste Liste wurde schon Anfang Mai 1945 von Gerngross bei der Militärregegierung eingereicht und enthielt Namen vertrauenswürdiger Personen, die sich – laut Verfasser – für wichtige Verwaltungsposten eignen würden.600 Sie umfasst 17 Personen, von denen nur drei dem Umfeld der FAB zuzurechnen sind. Andererseits nennt sie aber auch Personen, die später wirk-lich verantwortungsvolle Posten übernommen haben, prominentestes Beispiel hier ist sicherlich Fritz Schäffer (1888–1967) der erste Bayerische Ministerprä-sident. Dass diese Liste auch die Namen der geplanten zehnköpfigen Regierung enthält, ist ebenfalls zweifelhaft, da ja eine solche Regierung wiederum gleich hätte eingesetzt werden müssen und es somit wenig Sinn gehabt hätte, Verant-wortungsträger heranzuziehen, die nichts mit der FAB zu tun hatten.

Die zweite erhaltene Liste ist eine undatierte handschriftliche Liste im Nach-lass Gerngross.601 Sie ist mit „Regierungsmannschaft der FAB in Bereitstellung“

überschrieben und vermutlich eher im Zusammenhang mit der Vorbereitung seines Buches entstanden, das 1995 erschienen ist, sie ist darin jedoch nicht

598 Zitiert nach Brakelmann, Günter: Der Kreisauer Kreis. Chronologie, Kurzbio-graphien und Texte aus dem Widerstand (= Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 3). Münster 2003. S. 306.

599 Rekonstruierter Entwurf der vorbereiteten Regierungserklärung von Beck und Go-erdeler. Nachdem das Original verloren gegangen war, wurde diese Fassung auf Basis der Unterlagen der Sonderkommission zur Untersuchung des Attentats vom 20. Juli 1944 rekonstruiert. Abdruck im Wortlaut in Benz, Wolfgang: Widerstand traditioneller Eliten.

In: Themenheft: Deutscher Widerstand 1933–1945, Informationen zur politischen Bil-dung 234 (2004). S. 29.

600 List from FAB, Hauptmann Dr. R. Gerngross to the Military Government, Munich 05.05.1945. StadtA München, Direktorium Abgabe 3/18, Nr. 30.

601 Regierungsmannschaft der FAB in Bereitstellung o.D. (aufgrund der Handschrift und des Zusammenhangs in den Quellen vermutlich in den 1990er Jahre entstanden).

BayHStA, Nachlass Gerngross 19.

abgedruckt. Die Liste verzeichnet 23 Personen, die in einem Präsidium und sie-ben verschiedenen Fachreferaten eingesetzt werden sollten. Der Großteil der Personen ist im weitesten Sinne der FAB und ihrem Umfeld zuzuordnen. Die je-weiligen Mitglieder wurden qua Beruf den einzelnen Fachgebieten zugewiesen.

Es scheint jedoch angebracht, dieser Liste mit Skepsis zu begegnen, da sie ver-mutlich erst spät erstellt wurde und einige Ungereimtheiten enthält. So verzeich-net die Liste außer Caracciola-Delbrück keine weiteren leitenden Mitglieder der FAB. Das vierköpfige Präsidium sollte obendrein – wieder mit Ausnahme von Caracciola-Delbrück – von Leuten besetzt werden, die sich zum Zeitpunkt des Aufstands gar nicht in München aufhielten. Hierunter beispielsweise Leibrecht, der vier Monate vor dem Aufstand in der Schweiz untergetaucht war.

Der zusammenfassende Bericht von Leiling und Gerngross legt nahe, dass abgesehen vom Zehn-Punkte-Programm weiter nichts schriftlich fixiert wor-den war.602 Dies scheint umso wahrscheinlicher, als auch in den verschiedenen Berichten und späteren Darstellungen ein möglicher Regierungsausschuss und dessen Mitglieder nicht mehr erwähnt wurde.

Beim Zehn-Punkte-Programm fällt zunächst auf, dass es verhältnismäßig weit und allgemein formuliert ist und somit einigen Interpretations- und auch Hand-lungsspielraum lässt. Andererseits ist es – wie bereits angedeutet – pragmatisch und konkret auf die damalige Situation der Bevölkerung zugeschnitten. Der wahrscheinlich maßgebliche Verfasser des Programms, Leiling, hatte während seiner Studienzeit in Würzburg einige Veranstaltungen des Professors für Staats- und Verwaltungsrecht Wilhelm Laforet (1877–1959) besucht.603 Möglicherwei-se war er von dieMöglicherwei-sem Lehrer geprägt worden, der Ende der 1920er Jahre die bayerische Gemeindeordnung entworfen hatte und für seine „Wirklichkeitsnä-he“ bekannt war.604 Das Programm bezieht sich eindeutig auf das Land Bayern, ohne dabei aber separatistische Töne anzuschlagen. Die Frage der künftigen Verfassung und Staatsform wird nicht konkret geklärt. Dass ein zu bildender Regierungsausschuss bis zu einer Entscheidung dieser Frage durch gleiche und freie Wahlen bestehen sollte, deutet auf demokratische Pläne hin. Weitere Punk-te legen die VorsPunk-tellung eines SozialstaaPunk-tes nahe.

In den beiden ersten Punkten wird eine absolute Abkehr von Nationalsozialis-mus und MilitarisNationalsozialis-mus gefordert. Der Einfluss des NS-Regimes müsse vollstän-dig getilgt werden und auch der Militarismus „besonders in seiner preußischen Form“ – auf den Ursprung dieser Idee wird später noch ausführlich eingegangen – solle in Zukunft sogar von staatlicher Seite aus unterbunden werden. In den folgenden sechs Punkten geht es vor allem darum, das alltägliche Leben auf eine neue Basis zu stellen und es ganz praktisch wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Die beiden abschließenden Abschnitte zielen auf die ideelle Ebene, beziehen sich auf die Zusicherung von Grundrechten auf der Basis christlicher

602 Freiheits-Aktion Bayern 1945. Verfasser: Dr. Rupprecht Gerngross und Dr. Otth-einrich Leiling o.D. (circa 15.06.1945). BayHStA/Abteilung IV, Handschriftensamm-lung 2347.

603 Inskriptionslisten von Ottheinrich Leiling für das Sommersemester 1932 und das Wintersemester 1932/33. UWü, ARS 2076.

604 Depenheuer, Otto: Wilhelm Laforet (1877–1959) Universitätsprofessor, Bayern.

In: Buchstab, Günter und Kleinmann, Hans-Otto (Hrsg.): In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948/49. Freiburg 2008. S. 237–244. S. 238–239.

Werte und stellen die individuelle Entfaltung eines jeden Menschen und dessen Würde ins Zentrum der geplanten Erneuerung.

Das Programm wirkt in seiner Gesamtheit durchdacht und ausgewogen, da es prägnante und pragmatische Grundlagen für eine Nachkriegsordnung formu-liert, die an manchen Stellen sogar fast visionär wirken.605 In der Rückschau be-trachtet, überschätzt es die Handlungsspielräume auf bayerischer Seite unter der US-Militärregierung völlig. Die notwendige Übereinstimmung mit den Plänen der Alliierten wird im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau zwar erwähnt, aber grundsätzlich geht das Programm von einem souverän re-gierten Nachkriegsbayern aus. Dies widersprach aber der grundlegenden For-derung der Alliierten nach einer bedingungslosen Kapitulation, die auch den FAB-Leuten bekannt gewesen sein musste.

An einigen Stellen schimmern auch geistige Muster durch, die ihre Wurzeln vor allem im 19. Jahrhundert haben. Anhand von zwei Punkten soll dies im Fol-genden exemplarisch beleuchtet werden.

Das Motiv des „Leid bringenden preußischen Militarismus“ im zweiten Punkt des Programms war in Bayern spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts ein geläufiges Paradigma. Nachdem in den 1860er Jahren nach einer heftig geführten Diskussion über die Form einer bayerischen Heeresreform das soge-nannte preußische Modell durchgesetzt wurde, manifestierte sich dieses Bild.

Es wurde nämlich ein stehendes Heer und eine sechsjährige allgemeine Wehr-pflicht eingeführt, die es nicht mehr zuließ, dass sich vor allem junge Männer aus dem Bürgertum wie bisher durch den Einsatz von gekauften Stellvertretern dem Militärdienst entziehen konnten.606 Obwohl breite Bevölkerungsschichten dieser Reform ablehnend gegenüberstanden, zog diese Veränderung doch eine Öffnung der Gesellschaft für den Gedanken einer Wehrhaftmachung Bayerns nach sich. Einem allgemeinen europäischen Wandlungsprozess folgend, verrin-gerte sich in der Folge auch in der bayerischen Gesellschaft die Distanz zwi-schen zivilem und militärischem Bereich. Gleichzeitig hielt sich das ambivalen-te Feindbild des preußischen Militarismus und wurde bis zum Ende des Zweiambivalen-ten Weltkriegs immer wieder bemüht, wenn es darum ging, negative Folgen aus allem Militärischen zu erklären. Auch mit dem Aufbau der Wehrmacht und de-ren Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg, mit der nun bayerische Soldaten erstmals nicht innerhalb einer eigenen Armee in den Krieg zogen, wurde dies fortgeführt. Im Zehn-Punkte-Programm wird dieses Erklärungsmuster ebenfalls

605 Dies gilt natürlich nur in einem gewissen Rahmen. Hier soll nicht einfach un-kritisch die spätere Sichtweise von Gerngross übernommen werden, der in einer Erin-nerungsschrift aus dem Jahr 1970 versuchte, durch die Gegenüberstellung des Zehn-Punkte-Programms mit einigen Abschnitten aus der Bayerischen Verfassung und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Rückblick zu belegen, „daß hier bereits eine geistige Vorbereitung des neuen, heutigen demokratischen Staates von der FAB ge-schaffen wurde, als noch Agonie und Apathie das zerfallene Hitler-Deutschland regier-te.“ Gerngross, Rupprecht: So war das damals 1945 mit der Freiheits Aktion Bayern FAB. Erinnerungen an eine historische Begebenheit anläßlich der 25. Wiederkehr des Tages des letzten Aufstandes gegen Hitler. München 1970. S. 18–20. Fast wortgleich auch Gerngross, Rupprecht: Aufstand der Freiheits Aktion Bayern 1945. „Fasanenjagd“

und wie die Münchner Freiheit ihren Namen bekam. Augsburg 1995. S. 105–109.

606 Hier und im Folgenden: Mayershofer, Ingrid: Bevölkerung und Militär in Bamberg 1860–1923. Eine bayerische Stadt und der preußisch-deutsche Militarismus. Paderborn u.a. 2010. S. 124–135.

aufgegriffen, indem der Militarismus „besonders in seiner preußischen Form“

dem „bayerischen Volkscharakter“, dem „der Militarismus wesensfremd“ sei, in einer Art Sündenbockfunktion gegenübergestellt wird.

Im vierten Punkt des Programms sicherte die FAB zu: „Die Wiederherstel-lung von Ruhe und Ordnung“. Das Begriffspaar „Ruhe und Ordnung“ ist in Deutschland eng mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft, gewann also vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung und wurde bis ins 20. Jahrhundert „als Grundmuster reaktionären Herrschens und Regie-rens etablier[t]“.607

„Ruhe und Ordnung“ waren vor allem in Krisenzeiten wie beispielsweise während der Revolutionszeit 1918/19 in aller Munde. Einerseits ging es darum, den Bürger zur richtigen Verhaltensweise in der Krise aufzufordern; er sollte vor allem Ruhe bewahren. Andererseits war es aber auch ein Versprechen, das die sich jeweils legitimiert sehende Staatsmacht gab, indem sie versicherte,

„Ruhe und Ordnung“ zu bewahren beziehungsweise wiederherzustellen. Die politischen Lager rangen um die Definitionsmacht. Die Seite, die einen Wechsel forderte, musste dazu natürlich zwangsläufig den vorausgegangenen Zustand als beunruhigendes Chaos darstellen und umgekehrt mussten die Machthaber die andere Seite als schädliche Chaoten anprangern.

In der besonderen Situation im April 1945 enthielt diese Forderung nicht nur staats- und gesellschaftstheoretische Implikationen, sondern bezog sich ganz unmittelbar auf die konkrete Lage des Gemeinwesens. Die weitgehenden Auf-lösungserscheinungen waren für jeden offensichtlich. Der näher rückende Krieg stellte für die Bevölkerung eine tagtägliche Bedrohung dar, sei es beispielsweise durch die regelmäßigen Luftangriffe und deren Folgen oder durch die Versor-gungskrise. Auch wenn das NS-Regime versuchte, weiterhin geordnete Verhält-nisse vorzutäuschen, waren im Laufe des Aprils 1945 die Zeichen des Zerfalls gerade auch im militärischen Bereich im südbayerischen Straßenbild nicht mehr zu übersehen. Die FAB griff zu dieser Zeit sicherlich sehr bewusst sowohl in ihrem Zehn-Punkte-Programm als auch im Rahmen der Rundfunkübertragun-gen, die später dargestellt werden, das Diktum von „Ruhe und Ordnung“ auf.

Sie grenzte sich damit zum einen positiv gegen die bestehenden Verhältnisse ab. Zum anderen versprach man dadurch programmatisch auch schon für die Zukunft, dass man eingreifen werde, sollten „verantwortungslose Elemente“

versuchen, „chaotische Zustände herbeizuführen“. Nicht nur in diesem Punkt war das Programm sicherlich auch Ausdruck der Sehnsucht der leitenden Mit-glieder. Der Inhalt war gleichzeitig so weit gefasst, dass man hoffen konnte, die Vorstellungen möglichst vieler Adressaten zu integrieren und anzusprechen.

Möglicherweise liegt hierin die Wirkmacht der Rundfunkaufrufe begründet, über die auch das Zehn-Punkte-Programm verbreitet wurde. Es reagierten näm-lich verhältnismäßig viele Menschen – wie später noch gezeigt wird – auf die Rundfunkaufrufe durch konkrete Aktivitäten.

Nicht nur mit dem Thema „Ruhe und Ordnung“ knüpfte der Verfasser an das – wenn auch in jungen Jahren – selbst miterlebte Ende des Ersten Weltkriegs und zeitgenössische Eindrücke an. Im nächsten Abschnitt wird hinterfragt, ob man

607 Hier und im Folgenden: Lindenberger, Thomas: Ruhe und Ordnung. In: François, Etienne und Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte II. München 2. durchge-sehene Auflage 2002. S. 469–484. S. 471.

möglicherweise auch mit dem Versuch, Epp für die Aushandlung eines Waf-fenstillstands mit den Alliierten zu gewinnen, von dessen Image als Freikorps-führer profitieren wollte. Dieser war federführend an der Niederschlagung der Revolution in München beteiligt gewesen und galt deshalb in weiten Teilen der Bevölkerung als Mann der „Ruhe und Ordnung“.

Das Urteil Hildebrand Trolls aus dem Jahr 1981, das Zehn-Punkte-Programm habe eine „starke bayerisch-partikularistische Komponente“, erscheint nicht zu-treffend.608 Und auch „separatistische Bestrebungen“, die Dieter Weiß 2007 mit den Zielen der FAB in Verbindung bringt, sind im Programm nicht zu erken-nen.609 Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass Urteile über die politische Ausrichtung der FAB oft nicht auf Basis ihrer Programmatik gefällt werden, sondern eher auf Angaben aus Berichten der US-Behörden zurückzuführen sind.

So stellt Peter Kock 1982 fest: „Falsch ist lt. Leiling die Angabe im OSS-Be-richt, daß die FAB ‚für einen späteren Zeitpunkt’ die ‚Unabhängigkeitsprokla-mation für Bayern vorbereitet’ habe. Offenbar brachten US-Beobachter die FAB öfters in die Nähe des Separatismus.“610

Weitere Gesichtpunkte einer zukünftigen, neuen gesellschaftlichen Ordnung fehlen ganz. Troll moniert deshalb beispielsweise, dass es keine genauen Anga-ben zur kommenden Wirtschaftspolitik gemacht habe.611 Abgesehen vom Fehlen solch konkreter Konzeptionen ist auch augenfällig, dass in keinem Punkt expli-zit auf die unzähligen Opfer und Verfolgten des NS-Regimes eingegangen wird.

Das Zehn-Punkte-Programm enthält vor allem Anhaltspunkte zu den Plänen und Zielen der leitenden Köpfe der FAB. Man wollte mittels eines Aufstands einen Machtwechsel herbeiführen, nach dem Abschluss eines Waffenstillstan-des mit den Alliierten einen Regierungsausschuss einsetzen und auf Basis Waffenstillstan-des Zehn-Punkte-Programms eine demokratisch legitimierte Verfassung Bayerns schaffen. Diese Pläne konnten nach dem Scheitern des Aufstands nie praktisch umgesetzt werden.

Waffenstillstand oder Kapitulation?

Das erste Ziel des Aufstands sollte der Umsturz und Machtwechsel in Bayern sein. In einem zweiten Schritt war – folgt man dem dritten Punkt des

Zehn-608 Troll, Hildebrand: Aktionen zur Kriegsbeendigung im Frühjahr 1945. In: Broszat, Martin u.a. (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit. Band 4/C: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. München 1981. S. 645–689. S. 664.

609 Weiß, Dieter J.: Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955). Eine politische Biographie. Regensburg 2007. S. 324.

610 Kock, Peter Jakob: Bayerns Weg in die Bundesrepublik (= Studien zur Zeitge-schichte 22). München 2. Auflage 1988 (zugl. Diss. München 1981). S. 97, Fußnote 295.

Diese falsche Verknüpfung geht höchstwahrscheinlich auf eine Studie zurück, die An-fang Mai 1945 durch die Publicity & Psychological Warfare of Headquarters 12th Army Group veröffentlicht wurde. Diese Studie mit dem Titel „Bavarian Separatists“ basiert auf Aussagen, die von zwei FAB-Mitgliedern und einem Mitglied der separatistisch ausgerichteten Bayerischen Heimatbewegung abgegeben wurden. Annex B „Bavarian Separatists“ of Publicity & Psychological Warfare of Headquarters 12th Army Group 11.05.1945. IfZ, Fh 54.

611 Troll, Hildebrand: Aktionen zur Kriegsbeendigung im Frühjahr 1945. In: Broszat, Martin u.a. (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit. Band 4/C: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. München 1981. S. 645–689. S. 664.

Punkte-Programms – der Abschluss eines Waffenstillstands geplant, der dann nach weiteren Verhandlungen mit den Alliierten in einen Friedensschluss mün-den sollte. Im Bericht von Leiling und Gerngross, der kurz nach dem Kriegs-ende verfasst wurde, ist allerdings die Rede von einer Kapitulation, die von Reichsstatthalter Epp erklärt werden sollte.612 Auch das Zehn-Punkte-Programm beginnt im ersten Absatz mit den Worten: „Nach der Kapitulation des bayeri-schen Staates ist die Regierungsgewalt auf die Freiheitsaktion Bayern überge-gangen“. Hier ist aber die Kapitulation des NS-Regimes gemeint. Betrachtet man die am Ende dieses Kapitels behandelten Rundfunkaufrufe, fiel auch dort das Wort Kapitulation nur in einem französischsprachigen Aufruf, der – wie sich zeigen wird – unabhängig von den federführenden FAB-Mitgliedern spontan vom Sprecher selbst entworfen worden war. Das Wort Kapitulation wurde also vor allem in den Quellen, die in der Rückschau von der Aktion berichteten, ver-wandt. Vergleicht man die beiden Begriffe Waffenstillstand und Kapitulation, so haben diese ganz unterschiedliche Bedeutungen: Ein Waffenstillstand bezeich-net die Vereinbarung über das Schweigen der Waffen bis zu einem Friedens-vertrag. Eine Kapitulation stellt dagegen eine vertragliche Vereinbarung dar, mit der die kapitulierenden Seite die Kampfhandlungen meist einstellt und ihre Truppen in die Kriegsgefangenschaft des überlegenen Gegners gibt. Die Alliier-ten forderAlliier-ten seit der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 obendrein eine bedingungslose Kapitulation. Dies bedeutete, dass sowohl die militärische als auch die politische Macht in die Hände der Sieger übergehen sollte. Dem weite-ren Text des Zehn-Punkte-Programm zufolge war jedoch geplant, dass nach der Übernahme der politischen Macht durch einen Regierungsausschuss das Volk durch Wahl über eine neue Verfassung abstimmen sollte, was somit ebenfalls nicht den alliierten Bedingungen entsprach.

Es ist davon auszugehen, dass die leitenden FAB-Mitglieder durchaus von der Forderung der Alliierten nach einer bedingungslosen Kapitulation wussten und dass diese wohl auch aufgrund der Kriegssituation unausweichlich war. An-dererseits wollten sie wahrscheinlich wegen ihres militärischen Ethos und ver-mutlich auch in Erinnerung an die in der Weimarer Zeit erbittert geführten Dis-kussionen um einen sogenannten Dolchstoß am Ende des Ersten Weltkrieges, vor sich und der Bevölkerung nicht als „Kapitulierende“ dastehen. Erst nach dem Ende des Krieges und unter der Regie der US-Militärregierung, die nach der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen installiert wurde, erschien es den Berichtenden offenbar sinnvoll, ihr ursprüngliches Ziel dem tatsächlichen Verlauf entsprechend umzuformulieren.

Wie sahen aber die konkreten Pläne der federführenden FAB-Leute für einen solchen Waffenstillstand aus und vor allem, wer sollte sie auf deutscher Seite verantworten? Im Bericht aus dem Jahr 1945 beschrieben Leiling und Gern-gross den geplanten Ablauf folgendermaßen: „Durch diese beiden Einsätze [Festnahme des Oberbefehlshabers für Süddeutschland und des Gauleiters von München-Oberbayern] wäre die militärische und politische Gewalt im restli-chen Bayern ausgeschaltet worden. Der einzige Repräsentant des Staates wäre

612 Freiheits-Aktion Bayern 1945. Verfasser: Dr. Rupprecht Gerngross und Dr. Ott-heinrich Leiling o.D. (circa 15.06.1945). BayHStA/Abteilung IV, Handschriftensamm-lung 2347.

dann noch der Reichsstatthalter General von EPP. Er war also zuständig, die Kapitulation für Bayern durchzuführen.“613

Rolle des Reichsstatthalters von Epp

Ob Epp allerdings überhaupt berechtigt gewesen wäre, eine Kapitulation beziehungsweise einen Waffenstillstand zu erklären, ist fraglich. Der völker-rechtlichen Definition nach stellen beide Vorgänge eine Vereinbarung zwischen den Befehlshabern gegnerischer Streitkräfte dar. Im militärischen Bereich aber hatte Epp in seiner Funktion als Reichsstatthalter überhaupt keine Kompeten-zen, auch wenn er seit dem Ersten Weltkrieg den Rang eines Generals inne-hatte und 1938 ehrenhalber zum Führer des Infanterie-Regiments 61 ernannt worden war. Zu klären ist gleichwohl, ob er als Reichsstatthalter dennoch etwa im Rahmen von Notstandsverordnungen legitimiert gewesen wäre, die Macht in Bayern zu übernehmen und die noch nicht besetzten Teile Bayerns an die Alliierten zu übergeben. Die deutschen Reichsstatthalter wurden zwar nach der Machtübernahme 1933 als Aufsichtsinstanz über den Landesregierungen instal-liert, bereits im Jahr 1934 waren aber sämtliche Hoheitsrechte der Länder an das Reich übergegangen. Außerdem zogen in Bayern nach und nach die Gau-leitungen immer mehr Kompetenzen an sich. Im Januar 1935 wurde das Zweite Reichsstatthaltergesetz erlassen, das die Reichsstatthalter als „ständige Vertreter der Reichsregierung“ definierte. Ihre Aufgabe sollte es sein, „für die Beobach-tung der vom Führer und Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu sorgen“.614 Epp war allerdings der einzige Reichsstatthalter, der nicht gleichzei-tig auch Gauleiter in seinem Bereich war. Seine Kompetenzen beruhten somit lediglich auf dem Reichsstatthalter-Gesetz von 1935.615 Dieses Gesetz enthielt keine Regelungen für den Ausnahmefall. Das Reichsstatthaltergesetz erlaubte es Epp also auch nicht, in besonderen Krisensituationen, den Notstand auszu-rufen616 beziehungsweise die staatliche Macht in seiner Hand zu bündeln und staatliche Funktionen auszuüben. Auch auf staatsrechtlicher Ebene hatte Epp somit nicht die Befugnis, über eine Kapitulation oder einen Waffenstillstand zu verhandeln. Die politische und militärische Situation im Frühjahr 1945 war al-lerdings unübersichtlich und vor allem von personellem Wandel bestimmt. Da-her erscheint die Wahl Epps als möglicDa-her Verhandlungsführer aus der Perspek-tive der FAB-Aktivisten durchaus nachvollziehbar. Zudem gab es offenbar fast keine Alternative. Die FAB-Mitglieder hatten nämlich – wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt – zwar viele Kontakte innerhalb der militärischen Kreise, diese beschränkten sich aber auf den Wehrkreis VII. Und auch innerhalb dieses Rahmens wurden gewisse Hoffnungen, die in General Kriebel als

Befehlsha-613 Freiheits-Aktion Bayern 1945. Verfasser: Dr. Rupprecht Gerngross und Dr. Ott-heinrich Leiling o.D. (circa 15.06.1945). BayHStA/Abteilung IV, Handschriftensamm-lung 2347.

614 Reichsstatthaltergesetz vom 30.01.1935, Reichsgesetzblatt 1935 I. S. 65–66.

615 Rebentisch, Dieter: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfas-sungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945 (= Frankfurter Historische Ab-handlungen 29). Stuttgart 1989. S. 248.

616 So wie Himmelreich die Pläne Caracciola-Delbrücks wiedergab, setzte dieser auf die Erklärung eines „Staatsnotstandes“. Bericht von Dr. Josef Himmelreich vom 16.04.1948. IfZ, ZS/A4/5.

Im Dokument Die Freiheitsaktion Bayern (Seite 159-200)