• Keine Ergebnisse gefunden

W EITERWIRKENDE T ENDENZEN

Im Dokument Theorie Bilden (Seite 58-64)

Mit dem Spannungsverhältnis von Vernunft und Herrschaft sind Perspektiven und Risiken des Prozesses der Aufklärung benannt. Der Widerspruch von Macht und Wissen wirkt fort. Wissen ist einerseits Prämisse von Freiheit, andererseits Instrument von Herrschaft. Der Spruch »Wissen ist Macht!« ist im Deutschen ein geflügeltes Wort, das auf den englischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626) zurückgeht. Sein Bestreben, den Menschen in einen höheren Stand sei-nes Daseins zu bringen, drückte sich 1597 in seinen »Meditatiosei-nes sacrae« in der Formulierung »Nam et ipsa scientia potestas est« (Denn die Wissenschaft

selbst ist Macht.) aus. In der englischsprachigen Fassung von 1598 lautete der Satz: »For knowledge itself is power« (Denn Wissen selbst ist Macht.).

Diese hoffnungsvolle, weil anspornende These gibt der Wissensaneignung eine wichtige Aufgabe bei der Beseitigung unbegründeter Herrschaft. Diese naive, weil nur halb richtige Illusion hat Wilhelm Liebknecht (1826-1900) in sei-ner berühmten Dresdesei-ner Rede 1872 »Wissen ist Macht – Macht ist Wissen«

(Liebknecht 1968, 49-95) kritisiert. Der Vorsitzende der aufstrebenden Sozial-demokratie unterstellt die These »Wissen ist Macht!« den Gegnern:

»Ja, im Munde unserer Gegener und gegen uns angewandt, zur Widerlegung des von uns, von der Sozialdemokratie ver fochtenen Satzes, dass die Haupttätigkeit des Arbeiters sich auf die Umgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhält-nisse zu richten habe und dass die ausschließliche Ver folgung von Bildungszwecken für die Arbeiter nichts sei als eine zeitraubende Spielerei, welche weder dem einzelnen noch dem Ganzen zum Vor teil reicht.« (Liebknecht 1968, 58)

Die Macht kann den Zugang zum Wissen kontrollieren und seinen Gebrauch limitieren und verdrehen. »Das Wissen ist unter dem Verschluß der Herrschen-den, den Beherrschten unzugänglich, außer in der Zubereitung und Verfäl-schung, die den Herrschenden beliebt.« (Ebd. 59)

Damit verweist Liebknecht darauf, dass der Zugang zum Wissen beschränkt wird durch bestehende Machverhältnisse. Er vertritt die Forderung, die Arbei-terklasse solle die politische Macht erringen und die Schranken beseitigen, die großen Teilen der Bevölkerung den Zugang zu Wissen, Bildung und Kultur ver-wehrten. Liebknecht zieht den Schluß:

»Wir müssen hinwegschreiten über Staat und Gesellschaft. Verzichten wir auf den Kampf, auf den politischen Kampf, so verzichten wir auf die Bildung, auf das Wissen.

›Durch Bildung zur Freiheit‹ das ist die falsche Losung, die Losung der falschen Freun-de. Wir antwor ten: Durch Freiheit zur Bildung! Nur im freien Volksstaat kann das Volk Bildung erlangen. Nur wenn das Volk die politische Macht erkämpft, öffnen sich ihm die Pfor ten des Wissens. Ohne Macht für das Volks kein Wissen! Wissen ist Macht! – Macht ist Wissen!« (Ebd. 94)

In dieser dialektischen Formel lassen sich die Erfahrung der Arbeiterbewegung mit der Aufklärung verdichten. Gesellschaftsreform und Bildungsreform stel-len eine Einheit her, die mit bloßer Wissensaneignung nicht gesichert werden kann.

Die Aufklärer waren sich der durch Herrschaft festgelegten Grenzen ihres Wirkens sehr wohl bewusst. Wer zu weit ging, wurde gemassregelt, gedemütigt, inhaftiert, mit Schreibverbot belegt. Immer wieder zeigte der »aufgeklärte Ab-solutismus« sein wahres Gesicht als Despotismus.

Abbildung 16: Wilhelm Liebknecht (Photographie aus den 1870er Jahren)

In Einzelfällen ging der Staat Bündnisse gegen die Kirche ein, um deren Macht zu begrenzen, wie z.B. in Preussen unter Friedrich II. Gleichzeitig blieb die Kir-che aber wesentliKir-che Stütze der Herrschaftsverhältnisse. Als der Offenbarungs-glaube erodierte, lieferte der Deismus ein illustres Reservat. Die Spaltung von Realität und Transzendenz begründete auch die Trennung der Herrschaftsbe-reiche von Wissen und Glauben. Die Religionskritik hörte beim Glauben an einen allmächtigen Gott auf.

Durch die Weltreisen wurde Europa mit anderen Religiositäten konfrontiert.

Kulturelle Perspektiven der Völker der Welt tauchten aus dem Dunkel auf. Die Selbstverständlichkeit der Überlegenheit der Zivilisation in Europa wurde mit dem Bild des »edlen Wilden« konfrontiert. Darin stecken bis heute die Wurzel in der Kritik am Eurozentrismus.

Die moderne Wissenschaft begann ihren Siegeszug. Ihre technologische Nutzung liefert die Grundlage gegenwärtiger Lebensweise bis hin zu Herstel-lung immer neuer Güter, die ihre Märkte suchen, bis hin zum sich weltweit verbreitenden Konsumismus.

Die Libertät der Bürger allerdings verkümmert immer mehr zur Freiheit des Konsumenten, zwischen Waren wählen zu können. Die Bevölkerung spaltet sich in kaufkräftige und in wachsende prekäre Teile. Das Menschenrecht der Freiheit trennt sich von Gleichheit und Gerechtigkeit.

Das gilt auch für den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. Adressaten wer-den zu Kunwer-den und unterliegen dem »Matthäusprinzip«, nach dem wer viel hat auch mehr bekommt. Träger werden zu Anbietern auf einem zunehmend einzelwirtschaftlich regulierten Markt. Konsequenz ist fortbestehende, sogar

wieder zunehmende Selektivität beim Zugang zu Lerninstitutionen. Bildungs-armut breitet sich aus. Die Teilhabe an »Lebenslangem Lernen« ist beschränkt durch Fehlen der materiellen, besonders der finanziellen Prämissen.

Wir erleben ein Zeitalter der Ökonomie, nicht der Bildung. Wo diese hoch-gehalten wird geht es um einsatzfähige und verwertbare Kompetenzen. Die großen Konzerne und Banken kalkulieren mit dem Bankrott ganzer Staaten.

Damit wird das Soziale auf Kosten der Mehrheit geschwächt und riskiert.

Gleichzeitig und im Widerspruch dazu steigt der Stellenwert von Bildung für die Einzelnen. Schon die Protagonisten der Aufklärung wussten, dass die Entfaltung der Person nur möglich ist über individuelle Bildung. Aneignung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens ist zwar nicht ausreichend aber unverzichtbar, wenn Partizipation und Demokratie nicht aufgegeben werden sollen.

In der Epoche der Aufklärung werden Probleme relevant, die bis heute die Grund-linien der Gesellschaftsentwicklung bestimmen. Mit der Idee der Bildung wer-den Prinzipien formuliert, wie mit wer-den entstehenwer-den Spannungen umgegangen werden kann. Die gesellschaftlichen Widersprüche zwischen Vernunft und Herr-schaft, Privatem und Öffentlichem, Wissen und Macht, Rationalität und Religiosi-tät, Universalismus und Relativismus, Realität und Fiktion spannen das Feld auf, in dem das Ich sich in Gegensatz zur Welt stellt und sich zu bestimmen versucht.

»Identität« – als hier auftauchende Problemkategorie – beruht auf der An-nahme, dass menschliche Wesen ein grundsätzliches Interesse daran haben, sich selbst als ›eins‹ zu verstehen: sowohl im Sinne einer Kontinuität ihrer Bio-graphie, als auch im Sinne der Unterschiedenheit von anderen. Identität ist nicht vorgegeben, sondern zu erzeugen. In einem solchen theoretischen Kon-text kann man Bildung begreifen als einen lebensgeschichtlichen Vorgang, in dessen Verlauf die Individuen sich bemühen, Identität herzustellen. Sie eignen sich Kultur an und entfalten dabei ihre Persönlichkeit. In diesem Prozess ent-steht in der individuelle Biographie mögliche Identität. Bildung in diesem Sinn kann es nur geben in modernen Gesellschaften, in denen der Ort, die Stellung und der Lebenslauf der Einzelnen nicht festgelegt sind.

Die Inhalte einer solchen Bildung bestimmen sich nicht aus einem zeitlo-sen Kanon, sondern historisch konkret angesichts der gegenwärtig sich stellen-den Probleme. Bildung heißt demnach, diejenigen Kompetenzen zu erwerben, um Probleme zu verstehen, die eigene Position dazu zu finden, entsprechende Entscheidungen zu treffen und handelnd einwirken zu können. Das zentrale Bildungsproblem, die Perspektive der Entfaltung von Persönlichkeit, ist dem-nach gebunden an die Gewinnung von Souveränität für das eigene Leben. Man kann – wie Klafki es tut – die sich stellenden Perspektivfragen auch als »Schlüs-selprobleme« von Bildung aufgliedern. Bildung heißt demnach, diejenige Kom-petenz zu erwerben, um die Ursachen solcher für die weitere gesellschaftliche Entwicklung zentralen Probleme zu verstehen, die eigene Position dazu zu finden, entsprechende Entscheidungen treffen zu können und handelnd ein-wirken zu können.

Die Struktur unserer Weltsicht ist durch unauflösbare Spannungen, gegen-läufige Entwicklungen und vielfältige Verwerfungen gezeichnet. Sie kennzeich-nen den Widerspruch von Vernunft und Herrschaft (2.1), indem sie verweisen auf das grundlegende Verhältnis von Macht und Wissen, wie es in unterschiedlicher Weise von Bacon einerseits und von Liebknecht andererseits artikuliert worden ist.

Die Französische Revolution hat die Herrschaftsfrage bis an ihre Grenze getrie-ben. Aber sie hat die resultierenden Probleme keineswegs gelöst. Die Auswüchse der Rousseauschen Ideen bei Robespierre, Danton und Saint-Just und die immer wie-der zitierte Gegenüberstellung von volontè de tous und volontè general ließen die konkreten Konsensbildungsprozesse unbelichtet, für die Condorcet den Begriff der Öffentlichkeit stark gemacht hatte. Diese spielt auch in der aktuellen Form mas-senmedialer Öffentlichkeit und um den Stellenwert »öffentlicher« Wissenschaft (Faulstich 2006) im politischen Diskurs und Konflikt eine wichtige Rolle (2.2).

Die Spannungen der Aufklärung lösen weiter Fragen aus nach der Akzep-tanz wissenschaftlichen Wissens und der Ordnung unseres Wissens der Welt (2.3). Sie knüpfen einerseits an die enzyklopädischen Ideale der Aufklärer um Diderot an, sie setzen sich aber fort bis zu Foucault und Deleuze/Guattari als

»postmoderne« Umgangsweise mit Wissen.

Immer noch bleibt die Frage nach den Grenzen des Wissens und der Be-ziehung von Wissen und Glauben (2.4) virulent ausgehend von einer Zweiwel-tenannahme, wie sie der Deismus kreierte und die sich bis in die modernste Physik fortsetzt.

In der Falte des Vorhangs zwischen Idee und Realität einer von Wissen-schaft gestützten Aufklärung auf dem Weg zu lebensentfaltender Bildung tritt eine Scheinwelt auf. Die Literatur ersetzt durch Fiktion, was real nicht lösbar scheint – als Hoffnung auf Freiheit oder als Erniedrigung durch die Herrschaft (2.5). Im Schauspiel finden unruhige Geister ihren Tanzplatz. Die Unerträglichkeit despotischer Herrschaft und Willkür wird von Lessing im Trauerspiel bei »Emilia Galotti« beweint, im Lustspiel bei »Minna von Barn-helm« ausgelacht. Karl Philip Moritz hat diese Theatersucht selbst nacherlebt.

Erst Brechts »episches Theater«, das durch Verfremdung Reflexion anregen will, hat versucht die Unmittelbarkeit der Gefühle durch Vernunft aufzufangen.

Die Fiktion wurde ergänzt durch das Exotische. Gleichzeitig hat sich – gegenwärtig besonders befördert durch die Globalisierungsdiskussion – die Vorstellung der »einen Welt« als ökonomische Unterwerfung unter einen triumphierenden Kapitalismus durchgesetzt. Die Beziehung der Kulturen, wie sie in den Weltreisen und militärischen Expeditionen des 17. Jahrhundert, die Entdeckungs- und Eroberungsreisen (2.6), massiv aufbrachen, setzen sich fort. Der Imperialismus der Markterschließung und -sicherung wird kaum noch verhüllt hinter scheinbar humanitären Argumenten. Der Verweis auf die Einhaltung der Menschenrechte ist zum Kampfmittel geworden.

Umgekehrt findet sich das Rousseausche Motiv der Reinheit des

Ursprüng-lichen wieder in der Eurozentrismuskritik, welche die Beziehung der Völker der Welt problematisiert. Ganze Länder und Erdteile werden vom im Nordwesten gestiegenen Wohlstand ausgeschlossen.

Neu stellt sich auch die Frage, wen wissenschaftliches Wissen überhaupt er-reicht. Volksaufklärung ohne Volk (2.7) war schon ein Problem der ersten Auf-klärung und wird durch die massenmediale Öffentlichkeit noch bis ins Extrem gesteigert. Die »doppelte Selektivität« der Erwachsenenbildung setzt sich fort, indem sie nur einen Teil ihrer Adressaten erreicht und diese milieuspezifisch diskriminiert werden.

Die Medien der Aufklärung mussten sich auch erst entwickeln. Die techni-schen Voraussetzungen des Buch- und Zeitschriftenwesens waren seit Johan-nes Gutenberg (1400-1468) im Wesentlichen bekannt und hatten in den Flug-schriften Martin Luthers (1483-1546) auch eine erste Hochwelle erreicht, die im 30jährigen Krieg brach. Erst langsam konnte sich das Druckereiwesen im Strom eines sich verbreitenden Marktes erholen (2.8). Ohne kaufkräftiges und lesekundiges Publikum und engagierte Schriftsteller und Verleger wäre Auf-klärung noch enger geblieben.

Zentral für alle Aufklärungsbemühungen ist die Spannung von Aufklärung und Bildung (2.9), da alle gesellschaftliche Entwicklung nicht vorangeht ohne die Entfaltung der Einzelnen. Zunächst war vorrangig die Entwicklung der Kinder gemeint. Aber schon in der Intention der Volksaufklärung steckte das Paradox, dass die Kinder das Lesen für die Eltern übernahmen. Gedanken der Weiterbildung spielten bei den Philanthropen schon eine Rolle und sie wurden durch ähnliche Motive wie heute vorangetrieben: ökonomische Brauchbarkeit und kulturelle Mündigkeit.

Im Dokument Theorie Bilden (Seite 58-64)