• Keine Ergebnisse gefunden

3 Risikoquantifizierung im Bereich beobachteter Krebsinzidenzen

3.7 Vorgehen im Falle vorliegender Humandaten

Die Einordnung der Rolle epidemiologischer Beobachtungsstudien im Vergleich zum Tierexperiment bei der Quantifizierung von Krebsrisiken am Arbeitsplatz erfolgte be-reits in Abschnitt 1.1 und bei der Erläuterung der zu Grunde zu legenden Datenbasis (Abschnitt 1.5 (1)). Zum hier verwendeten Risikobegriff wird auf Abschnitt 1.4 verwie-sen (Risikozahl).

Die folgenden Hinweise zum Vorgehen setzen eine adäquate epidemiologische Da-tenlage voraus (für Mindestkriterien vgl. Abschnitt 7.6 dieses Leitfadens).

(1) Bei der Auswahl epidemiologischer Studien ist wie folgt vorzugehen:

Die vorhandene Studienevidenz sollte mittels einer strukturierten, sys-tematischen Literatursuche identifiziert und auf ihre Qualität und Eig-nung für die Risikobewertung geprüft werden. Prinzipien, die für die Auswahl von arbeitsepidemiologischen Studien zur Durchführung einer Meta-Analyse aufgestellt wurden, sollten hier berücksichtigt werden. Es ist im Einzelfall zu entscheiden, ob mehrere Studien für die Bewertung in einer Meta-Analyse zu einem gepoolten Schätzer zusammengefasst wer-den oder ob einzelne Studien separat bewertet werwer-den, um eine Spann-weite von möglichen Risikoszenarien angegeben zu können.

Literatur: Blair et al., 1995; Roller et al., 2006, Kap. 5.2

Generell sind analytische Studiendesigns mit individueller Expositions-einschätzung zur Risikobewertung auszuwählen. Sowohl Kohorten- als auch Fall-Kontroll-Studien können dabei zur Risikobewertung herange-zogen werden.

Die in der Arbeitsepidemiologie verwendeten beobachtenden Studiendesigns lassen sich nach absteigendem Evidenzgrad wie folgt ordnen: (1) Kohortenstudie; (2) Fall-Kontroll-Studie (FKS); (3) Querschnittstudie (QS); (4) Ökologische oder Korrelations-studie (siehe auch Glossar).

Quantitative Expositionsdaten stehen häufiger in Kohortenstudien zur Verfügung, während Fall-Kontroll-Studien in der Regel eine bessere Berücksichtigung von Stör-einflüssen (Confounding) gewährleisten (weitere Details zu den besonderen Stärken und Schwächen der Studiendesigns siehe Ahrens et al., 2008). In begründeten Aus-nahmefällen, z. B. im Falle einer in eine Kohorte eingebetteten Fall-Kontroll-Studie mit spezifischeren oder genaueren Informationen zu Exposition und/oder Endpunkt, kann eine FKS besser für eine Abschätzung von Arbeitsplatzgrenzwerten geeignet sein, als die zu Grunde liegende Kohortenstudie.

(2) Bei der Berücksichtigung von Zielparametern ist wie folgt vorzugehen:

Generell sind Maße mit Bezug zur Krebsinzidenz denen der

Krebsmorta-lität vorzuziehen, es sei denn, Inzidenz und MortaKrebsmorta-lität können aufgrund

einer hohen Letalität der Erkrankung (wie z. B. beim Lungenkarzinom) als identisch angesehen werden.

Je feiner die betrachteten Endpunkte aufgegliedert werden, umso gerin-ger ist die zahlenmäßige Besetzung der Strata. Es ist also im Einzelfall abzuwägen, ob sich verschiedene Endpunkte sinnvoll kombinieren las-sen, um die statistische Power zu erhöhen (d. h. Kombination verschie-dener verwandter Tumorentitäten zu einer Gruppe), auch wenn sich kau-sale Faktoren im Einzelnen unterscheiden können, z. B. bei Leukämien und Lymphomen, Kopf-Hals-Tumoren usw.

Es ist im Einzelfall zu entscheiden, ob vorgezogene Endpunkte, wie z. B.

biologische Marker, die als notwendige Vorstufe auf der Kausalkette zur

untersuchten Zielerkrankung angesehen werden können, als

Surrogat-parameter in die Bewertung der Studienlage aufgenommen werden

kön-nen. Ihre Einbeziehung ist sinnvoll, wenn die Demonstration eines frühen

klinischen Effektes als Warnsignal anzusehen ist.

(Warnsignale können die Einführung von Schutzmaßnahmen rechtfertigen.)

(3) Für die Berechnung der Risikozahl kann folgendermaßen vorgegangen werden:

Ein Punktschätzer für jede Expositionskategorie (z. B. Median, geometri-sches Mittel) ist die bevorzugte Angabe für die Risikoableitung.

Ist lediglich eine Expositionsrange berichtet worden (z. B. 1-9 ppm-Jahre), so kann für die Berechnung alternativ die Klassenmitte (hier 5 ppm-Jahre) zu Grunde gelegt werden. Konzentrationsangaben in mg/m

3

sollten in stoffspezifische ppm umgerechnet werden. Für diese Berech-nung zu Grunde gelegt werden dabei 240 Arbeitstage/Jahr und ein Atem-volumen von z. B. 10 m

3

pro Arbeitstag, der mit 8 Stunden veranschlagt wird (das Atemvolumen ist abhängig von der Arbeitsbelastung, 10 m

3

be-trifft z. B. eine leichte bis moderate Anstrengung)

(vgl. van Wijngaarden und Hertz-Picciotto (2004) bzw. Kap. 4.5 des Leitfadens)

Die kumulierten Konzentrationsangaben in ppm-Jahren sind danach auf den Langzeit-Mittelwert nach 40 Jahren umzurechnen.

Je nach Datenlage sind unmittelbar absolute Risikomaße (z. B. kumulati-ves Risiko) oder – wenn diese nicht berichtet wurden – Maße des Relati-ven Risikos zur Exposition in Beziehung zu setzen. In der Regel werden Maße wie SMR, SIR, RR oder OR vorliegen. Zur Berechnung des Lebens-zeitrisikos der Exponierten können diese relativen Risikoerhöhungen mit einem Schätzwert für das Lebenszeitrisiko der Vergleichsgruppe, z. B.

der Allgemeinbevölkerung, multipliziert werden, sofern nicht die ausführ-liche Sterbetafelmethode verwendet wird.

Das für die Expositionsspannweite berichtete Risikomaß (RR/SIR etc.) kann mit dem kumulierten Expositionswert in einer Regressionsanalyse korreliert werden, was eine Extrapolation in den Hoch- bzw. Niedrigrisi-kobereich und Aussagen zum Risiko pro Unit-Anstieg (1 ppm) der Expo-sition ermöglicht. Somit kann das Lebenszeitrisiko in Abhängigkeit von einer gegebenen Expositionshöhe bzw. einem angenommenen Arbeits-platzgrenzwert geschätzt werden.

Nach Subtraktion des Risikos der Nicht-Exponierten (z. B. Allgemeinbe-völkerung) wird ein Schätzwert des expositionsbezogenen Exzess-Risikos erhalten.

Einschränkungen der Aussagekraft der Ergebnisse sind zu diskutieren.

Es wird somit ein Vorgehen analog zu Roller et al. (2006) und Goldbohm et al. (2006) vorgeschlagen.

Einschränkungen der Aussagekraft der Ergebnisse sind z. B. Bias, mögliches resi-duelles Confounding, Misklassifikation usw. Die Verwendung von Risikoschätzern, die für Confoundereffekte adjustiert wurden, ist anzustreben. Wegen der Modellab-hängigkeit der Adjustierung und zur Abschätzung der Stärke eines möglichen Con-founding, sollten Berechnungen adjustierter vs. nicht adjustierter Risiken möglichst einander gegenübergestellt werden.

Inkonsistente oder nicht vorhandene Dosis-Effektbeziehungen können in epidemiolo-gischen Studien häufig beobachtet werden. Aber auch in den Fällen, in denen

Stu-dienergebnisse lediglich das Vorhandensein eines Ursache-Effektzusammenhangs andeuten, können die Daten berücksichtigt werden. Abweichungen von einer erwarte-ten Dosis-Effektbeziehung und ihre möglichen Ursachen und Konsequenzen für die Risikoextrapolation sind zu diskutieren.

Es ist zu bedenken, dass der vorgestellte Ansatz Variationen des Risikos zwischen Individuen aufgrund unterschiedlicher Suszeptibilität ignoriert. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Populationen muss in jedem Einzelfall evaluiert werden. Dabei sind auch mögliche Einschränkungen der Übertragbarkeit, z.B. bei Vorliegen eines Healthy Worker Effekts, zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund einer Bewertung des Risikos von Arbeitsstoffen und der Festlegung von Grenzwerten zur Verbesse-rung des Arbeitsschutzes sind diese Überlegungen jedoch von untergeordneter Na-tur.

Bei semiquantitativen Expositionsangaben und sonst fehlenden epidemiologischen Daten kann versucht werden, ggf. durch Rückfrage bei den Autoren der Originalpubli-kationen Einstufungskriterien für Expositionsstufen zu ermitteln und dadurch eine quantitative Expositionsbewertung vornehmen zu können.

(4) Abweichungen vom Default sind in folgenden Fällen möglich:

Um die Konsistenz der Ergebnisse unter verschiedenen Voraussetzun-gen prüfen zu können, können von der kumulativen Exposition abwei-chende Expositionsmodelle (Intensität, Dauer, Expositionsspitzen, Wir-kungsschwelle) je nach Wirkprinzip ebenfalls Berücksichtigung finden, falls entsprechende Schätzer in den bewerteten Artikeln dokumentiert wurden.

In Ermangelung einer adäquaten Studienlage kann im Ausnahmefall auf die Ergebnisse von Querschnitts- bzw. Korrelationsstudien zurückgegrif-fen werden. Die Aussagekraft derartiger Studienergebnisse ist mit gro-ßem Vorbehalt und unter ausführlicher Darstellung der Limitationen zu diskutieren. Querschnittstudien und ökologische Studien sollten in aller Regel bestenfalls als Ergänzung zu tierexperimentellen Daten herange-zogen werden.

(5) Für die Extrapolation in den Niedrigrisikobereich wird auf das Vorgehen bei tierexperimentell-toxikologischen Daten verwiesen (siehe Kapitel 5).

Humandaten sollten nach Möglichkeit zur Überprüfung der Plausibilität der Extrapolationsfaktoren bei der Übertragung von Tierexperimenten auf den Menschen herangezogen werden.

4 Übertragung tierexperimenteller Daten auf den Menschen