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Voraussetzungen der Bevölkerungstheorie

Im Dokument Die Erfindung der Bevölkerungspolitik (Seite 40-200)

im 16. Jahrhundert

1. Bevölkerung im mittelalterlichen Politik- und Wirtschaftsdenken

Die Entwicklung menschlicher Populationen wird von den herrschenden ökonomischen, politischen und sozialen Gegebenheiten determiniert und ist somit stets menschlich beeinflusst. In der Bevölkerungsgeschichte des vor-modernen Europa steht mit dem European Marriage Pattern ein bedeuten-des Phänomen dieser Art gesellschaftlicher Prägung im Zentrum bedeuten-des Interes-ses. Demnach war die Heiratsmöglichkeit an den Besitz einer eigenständigen wirtschaftlichen Position gebunden, was zu einem hohen durchschnitt lichen Heiratsalter führte. Dieses System reagierte flexibel auf demographische Wechsellagen, indem sich die Heiratschancen im Zuge großer Mortalitäts-krisen für zuvor Stellenlose verbesserten und eine schnelle Rekuperation erfolgte1. Auch wenn solche Praktiken den Handelnden nicht unbedingt als Globalsteuerung der Fruchtbarkeit bewusst waren und selten expliziert wur-den2, muss man davon ausgehen, dass sie doch immer wieder reflektiert wurden.

Wie Peter Biller in The Measure of Multitude in beeindruckender Weise nachgewiesen hat, war genau dies im Hochmittelalter der Fall. Durch close

1 John HAJNAL, European Marriage Pattern in Perspective, in: David V. GLASS / D. E. C. EVERS

-LEY (Hg.), Population in History, London 1965, S. 101–144. Unabhängig von der langjähri-gen Diskussion um die Validität der Hajnallinie, die West- von Osteuropa trennen sollte, oder um die europäische Spezifizität des Heiratsmusters und seine Bedeutung für den Aufstieg Europas, ist für unseren Zusammenhang ausschließlich die Identifikation einer gemeineuro-päischen Praxis zur Steuerung des Bevölkerungswachstums wichtig, die eben nicht nur die Eindämmung zu Normalzeiten erlaubte, sondern auch die schnelle Wiederauffüllung nach den regelmäßig wiederkehrenden Mortalitätskrisen – und das im Prinzip ohne obrigkeitlichen Eingriff, wie Wrigley und Schofield für England gezeigt haben. Edward A. WRIGLEY / Roger S. SCHOFIELD, The Population History of England, 1541–1871, Cambridge 1981, S. 457–484.

Zur jüngeren Kritik an dem Gesamtmodell vgl. John HATCHER, Understanding the Population History of England 1450–1750, in: PaP 180 (2003), S. 83–130.

2 So zumindest Smith, der detailliert das Funktionieren der Haushaltsbildung in England seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nachzeichnet, den handelnden Personen aber eine rati-onale Determinierung ihrer Kinderzahl abspricht. Richard M. SMITH, Fertility, Economy, and Household Formation in England in Three Centuries, in: PDR 7 (1981), S. 595–633, hier S. 618f. Umgekehrt argumentiert die jüngere deutschsprachige Kritik am »Stellenprinzip«, wie es Gunther Ipsen und Gerhard Mackenroth formuliert haben, die die Vorstellung der Exis-tenz einer gesamtgesellschaftlichen demographischen Strategie ablehnt. Vgl. zusammenfas-send Georg FERTIG, Demographische Autoregulation in vorindustriellen Bevölkerungen, in:

Beiträge zur historischen Sozialkunde 3 (2000), S. 93–98. Obgleich die starke Fluktuation der vormodernen Bevölkerung die Validität des Stellenprinzips als Garant demographischer

Sta-reading kirchlicher Quellen wie Ehetraktaten und Beichtbüchern konnte er einen tiefen Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung der menschlichen Vermehrung, ihre Reflexion und die praktischen Rezepte der Problemlösung gewinnen. Während Demographiehistoriker die Geburtenkontrolle als im Mittelalter undenkbar bezeichnet haben, zeigt Biller, dass paradoxerweise das Nachdenken über Geburtenkontrolle in religiösen Quellen leichter nach-gewiesen werden kann als ihre tatsächliche Praxis3. Zum einen konstatiert er einen klaren Zusammenhang zwischen der realen demographischen Situa-tion und den kirchlichen Lehren zur Gottgefälligkeit der Ehe oder des Zöli-bates. Im späten 13. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt des mittelalterlichen Bevölkerungswachstums, waren die Lehren zu diesem Thema deutlich ehe-kritischer als noch bei Petrus Lombardus in der Mitte des 12. Jahrhunderts4. Zum anderen wertete Biller pastorale Quellen aus und konnte auch hier die verstärkte Thematisierung von Fragen der Kinderzeugung und Geburtenver-hinderung in Zeiten starken Bevölkerungswachstums feststellen. Warnun-gen vor kontrazeptiven Sexualpraktiken wurden nach den Pestwellen des 14.

Jahrhunderts wieder fallen gelassen, da sie nach Billers Interpretation nicht mehr notwendig waren, weil sie vom Kirchenvolk nicht mehr angewendet wurden5. Die Reflexion über Bevölkerungsgröße und -dichte und den Ein-fluss demographischer Faktoren auf die ideengeschichtliche Entwicklung hat auch Peter Brown betont. Im Ideal der Keuschheit, das sich im spätantiken Christentum entwickelte und das vielen Aussagen der Bibel widerspricht, sieht er eine Antwort auf die herrschende Überbevölkerung in den (Wüsten-) 5HJLRQHQ9RUGHUDVLHQV]XMHQHU=HLW௘6.

Es ist kein Zufall, dass sowohl Biller als auch Brown ihre Erkenntnisse an kirchlichen Dogmen festmachen, denn nur hier wurde das Thema Bevöl-kerung, wenn auch indirekt, überhaupt thematisiert. Die religiös geprägten Diskurse über Politik und Wirtschaft enthalten kaum Hinweise darauf. Bei den Wirtschaftslehren des Mittelalters lag dies in ihrer Struktur begründet, waren sie doch den religiösen Bedürfnissen angepasst. Gelehrte Theologen behandelten ökonomische Probleme nach ihren spezifischen Kriterien. »Not surprisingly, medieval economic ideas are heavily imbued with questions of ethics and morality, with the motives rather than the mechanics of economic life«7. Die mittelalterlichen Lehren hatten vor allem mit Fragen des Geldes zu

bilität tatsächlich unterminiert, stellen die empirischen Erkenntnisse der historischen Demo-graphie zu Heiratsalter und der davon abhängigen Fruchtbarkeit weiterhin einen entscheiden-den Baustein zum Verständnis der vormodernen Gesellschaft dar.

3 Peter BILLER, The Measure of Multitude, Oxford 2000, S. 3.

4 Ebd., S. 114, 129.

5 Ebd., S. 204f.

6 Peter BROWN, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München 1991.

7 Diana WOOD, Medieval Economic Thought, Cambridge 2002, S. 1.

tun, sei es der Preisgestaltung oder des Zinsnehmens, bei denen es in einem Geschäft zwischen zwei Menschen um die richtige moralische Handhabung des komplizierten Mediums Geld ging. Roscher verweist zwar darauf, dass Nikolaus von Oresme die Notwendigkeit des Handels in seiner berühmten Münztheorie mit der gewachsenen Bevölkerung rechtfertige8, doch bezieht sich dies auf das Wachstum der Menschheit im Zuge der Heilsgeschichte.

Der eigentliche Grund für die Notwendigkeit des Handels liegt bei Ore-sme in der Verteilung der Menschen auf die unterschiedlichen Länder, die Gott mit jeweils anderen natürlichen Gaben ausgestattet hatte9. Das Beispiel der Münz- und Handelstheorien zeigt, dass die scholastische Wirtschafts-lehre explizit auf die Probleme einging, die der ökonomische Wandel des hohen und späten Mittelalters verursachte10. Die Bevölkerungsfrage gehörte jedoch nicht dazu. Die Nichtbeachtung des Themas Bevölkerung ergibt sich aus dem grundsätzlichen Wesen dieser Wirtschaftslehre, wie Odd Langholm sie definiert: »While modern economics is dominated by social and utilita-rian arguments, scholastic economics was mainly deontic, and its focus was personal«11.

Auch die politischen Denker des Mittelalters beschäftigten sich selten mit der Bevölkerungsgröße, trotz des gewaltigen Bevölkerungswachstums des 13. Jahrhunderts und der zeitgleichen Rezeption der aristotelischen Poli-tik. Diese führte nicht zu einer Integration der aristotelischen Überlegungen zur optimalen Staatsgröße in die christlich-aristotelische Scholastik. Ledig-lich Bartolus de Saxoferrato (1313–1357) nahm in De Regimine Civitatis wie Aristoteles an, dass man über die beste Form der Regierung nicht ohne Kenntnis der Größe der in Frage stehenden Respublica entscheiden könne.

In kleineren Städten sei die Regierung durch die Bürgerschaft sinnvoll, auch wenn es in großen Reichen notwendig sein könne, die Königsherrschaft ein-zuführen. Damit setzte er sich von der Annahme Thomas von Aquins ab, dass die Monarchie immer die beste Form der Regierung sei12. Aristoteles’

bevölkerungspolitische Konzepte berührte er nicht. Thomas selbst behan-delte Bevölkerungsfragen im Kontext von Ehe und Zölibat. Zweifellos sei

8 ROSCHER, Geschichte, S. 25.

9 Nicolas VON ORESME, De mutatione monetarum Tractatus / Traktat über Geldabwertungen, übers. v. Wolfram BURCKHARDT, Berlin 1999, S. 3.

10 Sehr eingehend zur scholastischen Wirtschaftstheorie die Werke Langholms, sowohl auf der Basis wissenschaftlicher Traktate als auch praktisch-pastoraler Quellen. Odd LANGHOLM, Eco-nomics in the Medieval Schools. Wealth, Exchange, Value, Money and Usury according to the Paris Theological Tradition, 1200–1350, Leiden 1992, hier S. 566. Vgl. auch ders., The Mer-chant in the Confessional. Trade and Price in the Pre-Reformation Penitential Handbooks, Lei-den 2003. Als Einführung Francesca SCHINZINGER, Ansätze ökonomischen Denkens von der Antike bis zur Reformationszeit, Darmstadt 1977, S. 66–83.

11 LANGHOLM, Economics, S. 593.

12 Vgl. Quentin SKINNER, The Foundations of Modern Political Thought, Bd. I, Cambridge 1978, S. 53.

die kinderreiche Ehe löblich, doch die Vermehrung der Menschheit sei eine Pflicht aller und nicht des Einzelnen. Daher reiche es aus, wenn sich ein Teil der Menschen dieser Aufgabe widme und damit die Art erhalte, wäh-rend andere für die genauso wichtige Aufgabe der geistigen Erhaltung der Menschheit ein zölibatäres Leben führten13. Erst die politische Theorie der Renaissance setzte sich mit der Bevölkerungstheorie der antiken Philoso-phen auseinander. So bestritt etwa Francesco Patrizi (1413–1494) in De insti-tutione reipublicae die von Aristoteles eingeführte Notwendigkeit, die Zahl der Menschen im Gemeinwesen zu begrenzen. Dieser Versuch sei widerna-türlich und auch nicht notwendig, erklärte der Humanist im Jahrhundert nach der großen Pestwelle. Falls es an einem Ort zu viele Menschen geben sollte, müssten sich eben einige eine neue Heimat suchen14.

Außerhalb der politisch-philosophischen Betrachtungen wurde die Bevöl-kerungsgröße in zwei aufeinander bezogenen Bereichen als Thema entdeckt.

Dies ist zum einen, weiterhin auf der diskursiven Ebene, das wachsende Genre der Stadtbeschreibungen bzw. des Städtelobs.

Wenn man die größeren Stadtbeschreibungen des 13. und 14. Jahrhunderts [...] im ein-zelnen durchsieht, so erkennt man neben den tradierten Einteilungsmustern etwas Neues, das diesen Texten wo nicht die Form, so doch die Fülle gibt. Es handelt sich da um keine Anleihe aus der literarischen Tradition, hat offenbar überhaupt keinen im engeren Sinne literarischen Ursprung, sondern hat sich wahrscheinlich im weiteren Zusammenhang mit den Erfordernissen der Stadtverwaltung entwickelt. Das sind sta-tistische Angaben. Das bloße Auflisten und Aufzählen städtischer Daten, Fakten, Ein-richtungen macht in einigen Descriptiones einen quantitativ erheblichen Anteil aus15. Besonders deutlich wird das neue Interesse an zahlenmäßigen Informationen in einer Beschreibung Mailands aus dem späten 13. Jahrhundert, die neben Daten zu Handel, Handwerk und Lebensmittelverbrauch auch eine Bevöl-kerungsstatistik beinhaltet. Demnach zählte Mailand einschließlich seiner /DQGJHELHWH(LQZRKQHU௘16.

Die Existenz dieser Daten in italienischen Stadtbeschreibungen deutet auf den zweiten Bereich zunehmender Thematisierung von Bevölkerungsgrößen hin: das Wachstum der administrativen städtischen Statistik17. Solche

Daten-13 Victor BRANTS /ތpFRQRPLHSROLWLTXHDX0R\HQ$JH(VTXLVVHGHVWKpRULHVpFRQRPLTXHVSUR-IHVVpHVSDUOHVpFULYDLQVGHV;,,,eHW;,9e siècles, New York 1970 [ND der Ausg. 1895], S. 237.

14 Ebd., S. 236f. Vgl. auch ROSCHER, Geschichte, S. 141.

15 Hartmut KUGLER, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters, Mün-chen / Zürich 1986, S. 150.

16 Die Zahl aus »De magnalibus urbis Mediolani« (1288) von Bonvesin della Riva. Vgl. ebd., S. 150.

17 Vgl. Attilio Bartoli LANGELI, Strategie documentarie. La documentazione in registro come strumento di governo, in: Ders. u.a. (Hg.), Il Governo della Città. Modelli e pratiche (secoli

sammlungen, zumeist zu Steuerzwecken angelegt, waren nicht auf italieni-sche Städte beschränkt, dort erreichte die Systematisierung solcher Aufnah-men aber im späten Mittelalter eine neue Stufe18. Gerade im 15. Jahrhundert begann die Einführung und weite Verbreitung direkter Steuern in den italie-nischen Stadtstaaten, für die im Gegensatz zu indirekten Steuern häufig sta-tistische Aufnahmen erforderlich waren19. Die berühmteste Statistik dieser Art, die zudem über eine einzelne Stadt hinausgeht, ist der ab 1427 anläss-lich einer Steuerreform angelegte florentinische Catasto. Die Aufnahme von circa 60.000 Haushalten mit über 260.000 Bewohnern und deren beweg-lichem und unbewegbeweg-lichem Vermögen ist so genau und ausführlich, dass aus diesen Daten die umfangreichste demographische Sozialstudie angelegt wer-GHQNRQQWHGLHIUGDVVSlWH0LWWHODOWHUH[LVWLHUW௘20. Der statistische Empiris-mus der italienischen Städte gemeinsam mit der humanistischen Rezeption der bevölkerungstheoretischen und -politischen Aussagen der Antike bildete den Nährboden für die Entwicklung der neuzeitlichen Bevölkerungstheorie im Italien des 16. Jahrhunderts.

2. Italienische Bevölkerungstheorie im 16. Jahrhundert

Die italienische Bevölkerungstheorie des 16. Jahrhunderts entwickelte sich als Teil der aufkommenden politischen Theorie des Machtstaates und der internationalen Staatenkonkurrenz21. Die Bevölkerungsgröße geriet dabei zu einer Maßeinheit der Stärke des jeweiligen Staates oder Fürsten, wenn auch vorerst nur zu einem indirekten Maß. Dies ist die entscheidende Entwick-lung, die später auch in Deutschland nachvollzogen wurde, vor der die Frage der älteren dogmengeschichtlichen Erforschung der Bevölkerungstheorie an Bedeutung verliert. Jene Historiker hatten ausschließlich untersucht, in wel-chem Verhältnis ältere Autoren zu Malthus stünden, also ob sie ein dauer-haftes Bevölkerungswachstum befürworteten oder dessen Grenzen betonten

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18 Vgl. für ähnliche Aufnahmen August MEITZEN, History, Theory, and Technique of Statistics, in: AAAPS 1 (1891), S. 1–237, hier S. 15–18.

19 Jean-Claude HOCQUET, City-State and Market Economy, in: Richard BONNEY (Hg.), Economic Systems and State Finance, Oxford 1995, S. 81–100, hier S. 86.

20 David HERLIHY / Christiane KLAPISCH-ZUBER, Les Toscans et leurs familles. Une étude du cata-sto florentin de 1427, Paris 1978.

21 Aus der unendlichen Literatur zur Entwicklung der italienischen politischen Theorie des 15.

und 16. Jahrhunderts vgl. neben der im Folgenden genannten Literatur als Überblick Maurizio VIROLI, From Politics to Reason of State. The Acquisition and Transformation of the Language of Politics, 1250–1600, Cambridge 1992.

und somit die berühmten malthusianischen checks vorwegnahmen. Gerade hier schnitten einige italienische Autoren des 16. Jahrhunderts »gut« ab, da sie scheinbar im Sinne von Malthus über diese Grenzen nachdachten. Die Refle-xion über die zukünftige Entwicklung der Bevölkerung und über die Folgen eines starken Wachstums erwuchs jedoch nicht aus einer Furcht vor Überbe-völkerung, sondern aus einer neuen Wertschätzung der Bevölkerungszahl als Machtmittel. Die Analyse der Bevölkerungsthesen Giovanni Boteros wird zeigen, dass gerade der Wille, die Bevölkerung durch eine aktive Politik zu vermehren, auch zur Untersuchung der Grenzen führte.

Neben die Beschäftigung mit den Machtmitteln des eigenen Staates trat vermehrt der Vergleich mit den direkten Nachbarn und den übrigen europä-ischen Mächten hinzu. Cornel Zwierlein hat zuletzt gezeigt, wie sich im 16.

Jahrhundert eine empirische Politikbetrachtung in Italien mit einem refle-xiven Blick verband, der die eigene Situation und jene der Anderen jeweils von außen bzw. von oben betrachtete und im Verhältnis zu allen übrigen Akteuren bewertete. Die sprechende Metapher für dieses Verfahren war die Waage, auf der die Stärken der Kontrahenten objektiv abgewogen wur-den22. Auf diese Weise konnten alle politisch ausschlaggebenden Kriterien vergleichend gemessen werden: die Stärke oder Schwäche der Position von einzelnen mächtigen Männern in innerstaatlichen politischen Konflikten;

auf zwischenstaatlicher Ebene die aktuelle diplomatische, finanzielle und militärische Stärke von Staaten oder, für unseren Zusammenhang wich-tig, das Potential dieser Mächte, das unter anderem von der Bevölkerungs-zahl abhing. Ein Beispiel für eine solche Abwägung der Gesamtstärke der Mächte findet man in Traiano Boccalinis (1556–1613) satirischer Darstellung der Welt, in der die Herrscher ihre Gebiete tatsächlich nacheinander auf eine Waage legen müssen und mit Lorenzo de Medici, dem Meister der Waage, streiten, wenn diese nicht das erwünschte Ergebnis anzeigt. Lorenzo antwor-tet auf die spanischen Zweifel an der Genauigkeit seiner Waage, indem er die Kriterien aufzählt, die auf sie einwirken: »dann allein die menge und guter will der Unterthonen / der Länder fruchtbarkeit und daß sie fein beysamen ligen / dz seye die rechte schwere / die eine Wag schnellen machen«23.

Diesen Satz kann man als Fazit der italienischen Beschäftigung mit dem Thema Bevölkerungsgröße im 16. Jahrhundert auffassen. Deren

Entwick-22 Cornel ZWIERLEIN, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhun-dert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, München 2006, S. 148f.

23 Traiano BOCCALINI, Politischer Probierstein auß Parnasso, o.O. 1616, S. 43. Zu den Übersetzun-gen und der Rezeption von Boccalinis »Ragguagli« in Deutschland vgl. Roberto DE POL, Der Teufel in Parnasso. Boccalinis Ragguagli in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in:

Alberto MARTINO (Hg.), Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert, Amsterdam 1990, S. 109–131.

lung ist bisher nicht eingehend analysiert worden. Pierre Reynauds La Thé-orie de la population en Italie du XVIe au XVIIIe siècle bietet trotz des Titels praktisch keine Einsichten zum 16. und 17. Jahrhundert, ebenso wenig die noch ältere Darstellung Achille Sinigaglias24. Auch in der vorliegenden Arbeit kann keine erschöpfende Untersuchung der italienischen Bevölkerungstheo-rie geleistet werden, stattdessen werden anhand von Machiavelli die prägen-den Themen hervorgehoben und anschließend mit dem Werk Boteros ein Höhe- und Endpunkt der italienischen Bevölkerungstheorie analysiert, das in Deutschland intensiv rezipiert wurde.

2.1 Machiavelli:

Bevölkerung als Machtmittel

Niccolò Machiavelli (1469–1527) ist nicht nur die prägende Gestalt des poli-tischen Denkens des 16. Jahrhunderts, er war auch schon immer ein ›Lieb-ling‹ der Dogmengeschichte der Bevölkerungstheorie. Mal ist er »the first to express ideas of modern tone on population«25, mal beweist er »vues sou-vent très exactes sur la population«26. Diesen Ruhm verdankt er der Tatsache, dass er die Grenzen des Bevölkerungswachstums explizit benannte. Selbst für Jacqueline Hecht gehört er damit zu den »précurseurs directs« von Mal-thus27. Es ist schon erwähnt worden, wie die Demographiegeschichte jeden Autor in einen imaginären Dialog mit Malthus gestellt und so die Beurtei-lung des jeweiligen Beitrags zum Bevölkerungsdenken verzerrt hat. Nir-gendwo wird dies so deutlich wie bei Machiavelli. Denn der Florentiner war weder Malthusianer noch standen Fragen der Bevölkerungsentwicklung im Zentrum seines Werkes. Dass er dennoch einen Platz in der Geschichte der Bevölkerungstheorien einnimmt, hat einen ganz anderen Grund: Machia-velli reflektierte als Erster die Vor- und Nachteile einer großen oder kleinen Bevölkerungszahl, indem er die jeweiligen macht- und sicherheitspolitischen Auswirkungen gegeneinander abwog. Obgleich er die antiken und zeitge-nössischen Gegenargumente als wichtig und bedenkenswert anerkannte, ent-schied er sich letztlich zugunsten der möglichst großen Bevölkerung.

Am eindrücklichsten formulierte Machiavelli seinen Standpunkt in den Discorsi: »Wer eine Stadt zu einem großen Reich machen will, muß ihre Ein-wohnerzahl soviel wie möglich vermehren. Denn ohne Überfluß an

Men-24 Pierre REYNAUD/DWKpRULHGHODSRSXODWLRQHQ,WDOLHGX;9,eDX;9,,,e siècle (les précurseurs de Malthus), Lyon 1904. Achille SINIGAGLIA, La teoria economica della popolazione in Italia, in: Archivo giuridico 26 (1881), S. 120–172.

25 STANGELAND, Doctrines, S. 92.

26 REYNAUD, Théorie, S. 18.

27 HECHT, Imagination, S. 332.

schen wird es ihm nie gelingen, die Stadt groß zu machen«28. Dafür gebe es zwei Wege, einen gütigen, bei dem die Stadt den Fremden geöffnet werde und einen gewalttätigen, bei dem die umliegenden Städte zerstört und ihre Einwohner zur Einwanderung in die Siegerstadt gezwungen würden. Rom habe beide Verfahren erfolgreich angewandt, nur aus diesem Grund habe es so mächtig werden können. Als Gegenbeispiele dienten dem Florenti-ner die Stadtstaaten Athen und Sparta, die quantitativ klein geblieben seien und daher zum Untergang verdammt waren. Ebenso wenig wie ein dünner Stamm einen starken Ast halten könne, hätten sie die von ihnen eroberten Reiche behaupten können. Das Motto, dass nur eine volkreiche Stadt eine große Macht werden könne, durchzieht die Discorsi wie ein roter Faden.

Darüber hinaus betonte Machiavelli, dass dieser Wille zur Macht die Exis-tenzgrundlage einer Stadt sein sollte. Zwar hatte auch die geringe Größe Spartas ihren Vorteil. Dessen politische Stabilität und über 800jährigen Bestand, den Machiavelli rühmend erwähnte, führte er neben den guten Gesetzen Lykurgs direkt auf die geringe Bevölkerungszahl und die konse-quente Abschließung gegenüber Fremden zurück29. Man müsse also zwi-schen den Vor- und Nachteilen abwägen: die zur Expansion notwendige Machtbasis könne nur eine große Bevölkerung sein, die aber qua definiti-onem immer unruhig sei; Stabilität verheiße nur die kleine Stadt, die sich

Darüber hinaus betonte Machiavelli, dass dieser Wille zur Macht die Exis-tenzgrundlage einer Stadt sein sollte. Zwar hatte auch die geringe Größe Spartas ihren Vorteil. Dessen politische Stabilität und über 800jährigen Bestand, den Machiavelli rühmend erwähnte, führte er neben den guten Gesetzen Lykurgs direkt auf die geringe Bevölkerungszahl und die konse-quente Abschließung gegenüber Fremden zurück29. Man müsse also zwi-schen den Vor- und Nachteilen abwägen: die zur Expansion notwendige Machtbasis könne nur eine große Bevölkerung sein, die aber qua definiti-onem immer unruhig sei; Stabilität verheiße nur die kleine Stadt, die sich

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