• Keine Ergebnisse gefunden

Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

Im Dokument Florian Rödl/Raphaël Callsen (Seite 122-125)

D. Rechtliche Prüfung

V. Rechtsschutzmöglichkeiten

2. Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

Parallel besteht die Möglichkeit, die Verletzungen des Rechts auf Kollektivver-handlungen nach Art. 28 EU-GRC in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV geltend zu machen. Im Vorabentscheidungsverfahren wird über die Auslegung der Verträge befunden, und es werden die Handlungen der Or-gane der Union auf ihre Gültigkeit hin untersucht. Dies geschieht dann, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht diese Frage für die Entscheidung eines bei ihm anhän-gigen Rechtsstreits für entscheidungserheblich hält. Die Beurteilung des vorle-genden Gerichts, ob die Frage entscheidungserheblich ist, wird vom EuGH nicht überprüft.338

a) Korrektive Empfehlungen

Im Falle von Empfehlungen nach VO Nr. 1176/2011 käme die Vorlage an den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens in folgender Konstellation in Betracht: Der betroffene Mitgliedstaat hat eine korrektive Empfehlung (Art. 7 ff.

VO Nr. 1176/2011 i.V.m. VO Nr. 1174/2011) umgesetzt, hinsichtlich derer eine Verletzung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu vermuten ist. Hiergegen suchen die Kollektivvertragsparteien vor nationalen Gerichten Rechtsschutz, auch gestützt auf die vermutete Verletzung der unionsrechtlichen Garantie des

338 EuGH, 13.3.2001 – C-379/98 (PreussenElektra), Rn. 38, Slg. 2001, I-2099; EuGH, 5.12.2000 – C-448/98 (Guimont), Rn. 22, Slg. 2000, I-10663.

Rechts auf Kollektivverhandlungen, unter Umständen vor dem mitgliedstaatli-chen Verfassungsgericht.

Das befasste mitgliedstaatliche Gericht wird die Umsetzung in der Regel einer-seits anhand des nationalen Verfassungsrechts prüfen. Unabhängig davon339hat das Gericht aber zu gewärtigen, dass die Gesetzgebung des Mitgliedstaats in Um-setzung einer sanktionierten Empfehlung erfolgt ist. Aus diesem Grund handelt der Mitgliedstaat insoweit gemäß Art. 51 Abs. 1 EU-GRC in Durchführung des Unionsrechts. Seine Gesetzgebung fällt darum in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und der Mitgliedstaat hat dabei insofern die Grenzen einzuhalten, die sich aus den Garantien der EU-Grundrechtecharta ergeben, natürlich ein-schließlich Art. 28 EU-GRC.

Über den Gehalt der EU-Grundrechtecharta hat jedoch nicht das mitgliedstaatli-che Gericht abschließend zu entsmitgliedstaatli-cheiden. Die EU-Grundrechtecharta gehört zu den Verträgen, deren Auslegung dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren obliegt. Das im Anwendungsbereich des Unionsrechts befindliche mitgliedstaat-liche Recht ist darum nach den im Vorabentscheidungsverfahren einzuholenden Maßgaben des EuGH auf seine Vereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten zu überprüfen.340

Besonders herauszustellen ist an dieser Stelle, dass die Überprüfung der mitglied-staatlichen Umsetzung der korrektiven Empfehlung anhand von Art. 28 EU-GRC auch dann erfolgen kann, wenn die Empfehlung für sich genommen nicht die erforderliche Bestimmtheit hätte, um als Verletzung von Art. 28 EU-GRC zu gelten. Denn auch eine Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben unter Wahrneh-mung von Gestaltungsspielräumen erhält der legislativen Maßnahme den Charakter der Durchführung von Unionsrecht und damit die Bindung an die EU-Grundrechtecharta.

339 Zum Verhältnis von unionsrechtlichem und mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz sogleich unter VII.

340 EuGH, Große Kammer, 26.2.2013 – C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn. 19; EuGH, 18.1.1991 – C-260/89 (ERT), Rn. 42, Slg. 1991, I-2925. Allerdings muss das mitglied-staatliche Gericht seiner Vorlagepflicht auch nachkommen. Der griechische Verwal-tungsgerichtshof etwa ist 2011 in Verfahren betreffend die nationale Umsetzung von auf Art. 126 und 136 AEUV gestützten Ratsbeschlüssen zu Lohnabsenkung im öffent-lichen Dienst und Reform des Rentensystems (siehe oben C.III.1.a.) einer wohl be-stehenden Vorlagepflicht nicht nachgekommen, dazu krit.Yannakopoulos, Le juge national, le droit de l’Union européenne et la crise financière, RTD Eur. 2013, 147 ff., unter b.

b) Vereinbarung von Memoranda of Understanding

Bei der Umsetzung von MoU ist die Situation letztlich ähnlich. Allerdings bedarf es insoweit noch eines weiteren Schrittes, der bislang noch nicht zu entfalten war.

Die obigen Ausführungen hatten ergeben, dass die Kommission bei der konstitu-tiven Mitwirkung an den MoU eine sich aus Art. 125 Abs. 1 Satz 2, 136 Abs. 3 Satz 2 AEUV ergebende Verpflichtung einlöst. Dadurch fällt ihr Mitwirkungs-handeln in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Gleiches gilt für den Emp-fängerstaat als Vertragspartei der Finanzhilfenvereinbarung, dessen Bestandteil das MoU bildet. Indem sich der Mitgliedstaat auf die in den MoU vorgesehenen Auflagen verpflichtet, erfüllt er dieselbe unionsrechtliche Verpflichtung wie die Kommission aus Art. 125 Abs. 1 Satz 2, 136 Abs. 3 Satz 2 AEUV. Dieser Zusam-menhang setzt sich in der Umsetzung fort.

Aus diesem Grund handelt der Mitgliedstaat bei der Umsetzung der Auflagen aus einem MoU in dem nach dem hier vertretenem Standpunkt über Art. 136 Abs. 3 Satz 2 AEUV eröffneten Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die EU-Grund-rechtecharta kommt neben dem mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz zur Anwen-dung, damit auch Art. 28 EU-GRC. Bei einer gerichtlichen Überprüfung der umset-zenden Gesetzgebung durch das mitgliedstaatliche Gericht stellt sich darum die Frage, ob die Umsetzung gegen die Garantie aus Art. 28 EU-GRC verstößt. Die ent-sprechende Frage hat das befasste Gericht dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen.

Diesem Befund scheint indessen die EntscheidungSindicato Bancário do Nortedes EuGH aus dem Jahr 2013 direkt zu widersprechen.341Der EuGH hatte die Vorlage des Arbeitsgerichts für offensichtlich unzulässig erklärt. Jedoch hatte das Arbeits-gericht Porto den hier dargelegten Zusammenhang, der anknüpfend an Art. 125 Abs. 1 Satz 2 AEUV und Art. 136 Abs. 3 Satz 2 AEUV die Umsetzung der Auflagen aus MoU mit dem ESM als ein Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts erweist, nicht entfaltet. Dementsprechend hat sich der EuGH hiermit auch nicht auseinandergesetzt.342 Doch das portugiesische Arbeitsgericht hatte auch keinen Zusammenhang der Maßnahmen zu dem mit Portugal abgeschlossenen MoU her-gestellt. Vielmehr war entgegen Art. 94 lit. c VerfO dem EuGH überhaupt kein Zusammenhang zum Unionsrecht dargelegt worden343, so dass sich der EuGH für offensichtlich unzuständig erklärte. Auf dieser Grundlage ist die Kammerentschei-dung des EuGH nicht aussagekräftig mit Bezug auf die hier vertretene Position.

341 EuGH, 7.3.2013 – C-128/12 (Sindicato Bancário do Norte), Rn. 8 ff. (der nur auf fran-zösisch oder portugiesisch verfügbaren Entscheidungsgründe); skeptisch darum Seifert,SR 2014, 14, 26.

342 Eine Antwort auf diese Frage zu geben könnte und würde der EuGH auch, anders als im FallSindicato Bancário do Norte, nicht einer Kammer überlassen.

343 EuGH, C-128/12 Sindicato Bancário do Norte (Fn. 341), Rn. 12.

Abschließend ist auch hier noch zu bemerken, dass die Feststellung einer Verlet-zung von Art. 28 EU-GRC durch das mitgliedstaatliche Recht die Wirksamkeit des MoU nicht berührt. Es kann aber auch in diesem Fall als sicher gelten, dass der ESM auf der entsprechenden Auflage nicht mehr bestehen würde.

3. Ergebnis

Verletzungen des Rechts auf Kollektivverhandlungen nach Art. 28 EU-GRC so-wohl durch korrektive Empfehlungen des Rates als auch durch das konstitutive Mitwirkungshandeln der Kommission an MoU können mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV angegriffen werden. Klagebefugt sind neben dem betroffe-nen Mitgliedstaat auch die mitgliedstaatlichen Kollektivvertragsparteien.

Auch die mitgliedstaatliche Gesetzgebung, die der Umsetzung von korrektiven Empfehlungen und Auflagen in MoU dient und welche von den Kollektivver-tragsparteien oder anderen Akteuren vor den mitgliedstaatlichen Gerichten an-gegriffen wird, kann im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV der Überprüfung durch den EuGH im Hinblick auf eine Verletzung von Art. 28 EU-GRC unterstellt werden.

Im Dokument Florian Rödl/Raphaël Callsen (Seite 122-125)