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von Raphaela Tampe

Im Dokument 12 | 2017 Dezember | 4,90 € (Seite 24-28)

Kinderzeichnungen erzählen davon, wie das Kind unbewusst in seinen Leib einzieht.

Die Zeichenentwicklung lässt sich in drei Malphasen einteilen, die mit dem Ausgestalten der Leibessysteme zusammenhängen.

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FRÜHE KINDHEIT

2017|Dezember erziehungskunst Wesen in die Umgebung ausgebreitet«, schreibt Helga

Zumpfe in ihrem »Tagebuch der kleinen Kinder«.

Es werden in diesen ersten Bewegungsspuren zwei Urfor-men sichtbar: die Gerade und die Gebogene. Michaela Strauss spricht in »Von der Zeichensprache des kleinen Kin-des« von »Bauelementen der frühkindlichen Zeichnung«, die sich als eine »kreisende, spiralige und eine sich auf- und abbewegende Kraft« gestalten. Aus der kreisenden, spirali-gen Kraft formt sich der Kreis und aus Hin- und Her-Pen-deln zwischen Oben und Unten, Rechts und Links das Kreuz. Der Kreis »erscheint zuerst als ein mühsames Zu-sammenbinden einer ›krummen Linie‹«, beschreibt Mar-gret Constantini in einem Beitrag in dieser Zeitschrift. Das Schließen des Kreises ist ein wesentlicher Vorgang, es ist Ausdruck einer ersten Ich-Wahrnehmung. Um das dritte Le-bensjahr vollzieht sich ein Bewusstseinswandel und ein

ers-tes Selbstbewusstsein leuchtet auf im Kind, das beginnt,

»Ich« zu sich zu sagen.

Es empfindet Innen und Außen, es grenzt sich mit dem Kreis von seiner Umgebung ab. Dabei entsteht ein seeli-scher Innenraum, von dem aus das Kind nun die Welt er-tastet.

Das Kreuz entsteht aus Pendelschwüngen: ein Sich-Finden und Orientieren auf der Erdenwelt. Die Pendelbewegungen verdichten sich bald in ein Oben-Unten (Vertikale) und Rechts-Links (Horizontale). In der Verbindung dieser Him-melsrichtungen vereinen sich diese Kräfteströme im Kreuz.

An diesen Zeichnungen wird sichtbar, wie das Kind von einem rotierenden, schwebenden Raumgefühl, von einem träumenden Unterbewusstsein zu einem ersten Ich-Erleb-nis und einer ersten Ich-Wahrnehmung in der

Kreuzungs-mitte findet.

Jeschua, 1.5 Jahre: kreisende Wirbelbewegungen, Pendelschwünge, Sturzflüge, Ankommen auf der Erde

Keona, 3,5 Jahre: Kopffüßler 24_25_26_27_EK12_2017_EK 09.11.17 15:03 Seite 25

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FRÜHE KINDHEIT

erziehungskunst Dezember|2017

Zweite Malphase: Leib erfühlen und Ordnen

Das Haus – schon als kosmisches Kugelhaus (Strauss) im Kreis erscheinend – ist eine Art Selbstempfindung des Kin-des. Aus der Kreisform wachsen Sinnesfühler heraus: Das Kind ertastet von seinem Leibeshaus aus die Welt. Diese Ge-bilde werden Kopffüßler genannt.

Diese »Fühler« werden bald zu Andeutungen der Arme, Kopfhaare und Beine, die anfangs alle noch wie Anhängsel am »Kopf« stecken. Erst allmählich formt sich unter dem Kopf ein Leib, die Arme wandern unter den Kreis und set-zen am Leib an.

Parallel entsteht aus den Pendelbewegungen der »Holz-mensch«, wie ihn Inge Brochmann in »Die Geheimnisse der Kinderzeichnungen« beschreibt. Die Urbewegungs-kräfte, die in Kreis und Kreuz sichtbar geworden sind, sind zusammenhängende, ordnende Formkräfte; sie verbinden sich in der menschlichen Gestalt und kommen im Erfühlen der eigenen Leiblichkeit zum Ausdruck. In der leiblichen Gestaltung des rhythmischen Systems teilen sie sich als strö-mende, kreisende und geometrische Formen mit. Die Kreis-kraft findet ihren Ausdruck in sogenannten Organ- oder Atemformen, »Lunge und Herz erscheinen in beweglichen, spiralförmigen und runden Formen« (Brochmann); das

Kreuzprinzip zeigt sich in statischen, geometrischen Ele-menten, die mit der Ausgestaltung der Wirbelsäule und allem, was im Körper dem Fließend-Strömenden Halt und Form gibt, zu tun hat.

Dritte Malphase: Leib erfühlen und erstes Abbilden

In der dritten Malphase arbeitet unser »unsichtbarer Archi-tekt« die Gliedmaßen und das Stoffwechselsystem durch.

Arme, Finger, Füße und Beine werden betont und es tau-chen Formen auf, die an Stoffwechselorgane erinnern.

Steuerräder sind eine besondere Ausdrucksform. Sie er-scheinen vermutlich als Empfindung des Sonnengeflechts.

Beim Steuerrad gehen die Taststrahlen nicht wie beim Kopf-füßler nach außen, sondern bleiben innerhalb des Kreises:

»So tasten sie nun den eigenen seelischen Innenraum aus«, vermutet Zumpfe.

Was nun erfühlt wird sei »ein anfängliches Wahrnehmen des eigenen Befindens und das Verbundensein mit seiner eigenen Leiblichkeit«. Der Lebenssinn, Befindlichkeitssinn, richtet seine feinen Tastempfindungen nicht mehr nur auf den Umkreis, sondern auf sich selber. Dem Lebenssinn wird das Sonnengeflecht (Steuerrad) zugeordnet. Mit der sich entfaltenden inneren Vorstellungskraft sind die Bilder

Jeschua, 5 Jahre: Erdenkraft und Himmelskraft Jarno, etwa 7 Jahre: »Steuerrad-Bild«

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FRÜHE KINDHEIT

2017|Dezember erziehungskunst gegen Ende der dritten Malphase von dem geprägt, was das

Kind durch seine Sinne von der Außenwelt wahrnimmt.

Nach der Durchgestaltung des Leibes wird ein Teil der Ätherkräfte für Denk-, Bewusstseins-, und Vorstellungs-kräfte frei. Das abbildende Malen verstärkt sich in den Auf-zeichnungen des Kindes und das leibgebundene Malen aus unbewussten Tiefen heraus versiegt. Die noch schweben-den Gestalten kommen auf der Erde an, das Leibeshaus ver-liert seine Leibgebundenheit und wird zum Haus, in dem Menschen wohnen. Die Bäume wurzeln im Erdreich und der Himmel wird zur Heimat der Sonne, der Sterne und des Mondes. Es zeigt sich deutlich in den Zeichnungen, wie weit das Kind auf der Erdenwelt und in seinem Erdenleib angekommen ist.

Es ist nachempfindbar, dass eine Erschütterung des Leibes in den Zeichnungen erscheint; an Schmerz und an Heilung sind die Lebenskräfte beteiligt.

Kinderzeichnungen geben Einblick in Vorgänge des Selbst-erlebens und Selbstäußerns. Es ist faszinierend, mehrere Bilder eines Kindes zu betrachten. Dabei kann das Gefühl entstehen, dass sich in ihnen neben ihrer Leibesentwick-lung auch noch etwas wahrnehmen lässt, was eindeutig über das Erfühlen des physischen Leibes hinausreicht:

»Dass ein Kind Erlebnisse und Wesensbegegnungen hat,

die uns Erwachsenen längst verloren gegangen sind, die es uns aber mitteilen will in Wort oder Bild« (Zumpfe 2000).

Kinderzeichnungen muss man mit innerer Wertschätzung begegnen, erahnend, was sich in ihnen zum Ausdruck bringt. Aus Leibestiefen spricht sich das Kind unbewusst aus und kann es selbst noch nicht erfassen. Das Kind danach zu fragen, was es zu malen gedenkt, stört nur – die Antwort liegt im Verborgenen. Das kleine Kind wird durch das Fra-gen aus dem unbewussten Schaffensprozess gerissen und zur Unzeit zur Reflexion gedrängt.

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Zur Autorin:Raphaela Tampe ist Studentin im Anerkennungsjahr am Waldorferzieherseminar in Stuttgart.

Literatur: U. Staudenmaier: Fragen an Kinderzeichnungen, in:

Erziehungskunst, (10) 2015

I. Brochmann: Die Geheimnisse der Kinderzeichnungen. Wie können wir sie verstehen?Stuttgart 2000

M. Constantini: Kinderzeichnungen, Erziehungskunst (12) 2006 M. Strauss: Von der Zeichensprache des kleinen Kindes. Spuren der Menschwerdung, Stuttgart 1983

H. Zumpfe: Aus dem Tagebuch der kleinen Kinder. Ein Blick in die Kleinkindzeichnungen, Borchen 2002

H. Zumpfe: Aus dem Tagebuch der kleinen Kinder. Kinderzeichnungen als Symptome der Entwicklung, in: Erziehungskunst (9) 1999 Jeschua, 5 Jahre: Ein Himmel, an dem die Sonne scheint, eine Erde, auf

der das Gras wächst, und ein Erdreich, in dem die »Wichtelmännlein«

wohnen.

Jeschua, 5 Jahre: nach einem Wassererlebnis im Frühling 24_25_26_27_EK12_2017_EK 09.11.17 15:03 Seite 27

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AUS DEM UNTERRICHT

Biografiearbeit kann auch an schwierigen oder gar scheiternden Biografien sinnvoll und entwicklungsfördernd sein, wie Bernd Kettel am Beispiel des Lebens von Christiane F. zeigt.

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