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Volkes«: Entstehung und Entwicklung eines sowjetischen Narrativs über den

Zweiten Weltkrieg

Einleitung

Wie überall in der Sowjetunion bestand die Aufgabe der Historiker in Li-tauen in der empirischen Unterfütterung der von der Partei formulierten Ver-gangenheitsversion. Geschichte diente als Instrument, um die Gegenwart in ein besseres Licht zu rücken. Die Geschichtspolitik, die sich mit dem »Großen Vaterländischen Krieg«1 beschäftigte, musste sich im unionsweit festgeleg-ten ideologischen Rahmen der marxistisch-leninistischen Lehre vom histori-schen Materialismus bewegen.2

Die Arbeit an der neuen Vergangenheitsversion war Teil des Sowjetisie-rungsprozesses, der in Litauen wie auch in allen anderen baltischen Staaten für kurze Zeit im Jahr 1940 begann und 1944 wieder aufgegriffen wurde.3 In

1 Im Folgenden wird mit diesem in der sowjetischen Erinnerungskultur tradierten Be-griff der Abschnitt des Zweiten Weltkrieges zwischen dem 22.6.1941 und dem 9.5.1945 bezeichnet.

2 Die Literatur zur sowjetischen Erinnerungskultur in Bezug auf den »Großen Vaterlän-dischen Krieg« ist umfassend und kann hier nur selektiv anhand einiger Klassiker erwähnt werden: Bonwetsch, Bernd: Der »Große Vaterländische Krieg« und seine Geschichte. In:

Geyer, Dietrich (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991, 167–181; Ders.: Der Große Vaterländische Krieg. Geschichtsbewusstsein und Geschichts-wissenschaft in der Sowjetunion. In: Geschichtsdidaktik 1985, 427–434; Tumarkin, Nina:

The Living and the Dead. The Rise and Fall of the World War II in Russia. New York 1994;

Hoffmann, Martin: Der Zweite Weltkrieg in der offiziellen sowjetischen Erinnerungs-kultur. In: Berding, Helmut/Heller, Klaus/Spreitkamp, Winfried (Hg.): Krieg und Erinne-rung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, 129–145; Weiner, Amir:

Making Sense of War: The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution.

Princeton, NJ 2002; Jahn, Peter (Hg.): Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowje-tische Erinnerungen an den Krieg 1941–1945, Berlin 2005; Scherrer, Jutta: Sowjetunion.

Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung. In: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Mainz 2004, 619–662.

3 Zur Sowjetisierung der baltischen Staaten siehe: Mertelsmann, Olaf (Hg.): The Sovietiza-tion of Baltic States, 1940–1956. Tartu 2003, Feest, David: Zwangskollektivierung im Bal-tikum. Die Sowjetisierung des Estnischen Dorfes 1944–1953. Köln/Wien 2007; Brügge-mann, Karsten: Der Wiederaufbau Narvas nach 1944 und die Utopie der »sozialistischen

der offiziellen sowjetischen Begriffssprache bedeutete Sowjetisierung nicht nur den Einsatz der sowjetischen Machtorgane, sondern auch die Implemen-tierung der sowjetischen Ideologie, Weltanschauung und Lebensart.4

Die Dynamiken und Variationen der Sowjetisierung in den neu eingeglie-derten Gebieten der UdSSR von Süd-Sachalin bis Kaliningrad bieten ein span-nendes Untersuchungsfeld, da die Sowjetmacht hier vor der Herausforderung stand, sich legitimieren zu müssen, um sich die Loyalität der Bevölkerung zu sichern. Durch die Spezifika der lokalen politischen Kader, eine multinatio-nale Gemengelage und traditionelle wie religiöse Vorprägungen war Impro-visation bei der Durchsetzung der sowjetischen Ziele erforderlich.5

Litauen sticht bei diesen Improvisationen sowohl im gesamtsowjetischen Vergleich, als auch, trotz der Parallelen zu den estnischen und lettischen Ent-wicklungen, im Kontext der spezifischen gesamtbaltischen Situation hervor.

Bei der Untersuchung der litauischen Sowjetisierung wird in dieser Arbeit der Fokus auf die Nachkriegsjahrzehnte ausgeweitet. Hier wird Sowjetisierung also als ein langfristiges Projekt betrachtet, das die politischen, wirtschaft-lichen und kulturellen Praktiken beeinflusste. Der Fragestellung der Arbeit entsprechend, werden im Folgenden vor allem die Kultur- und Geschichts-politik im sowjetischen Litauen verstärkt in den Fokus genommen. Es wird dabei im Besonderen um Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung, sym-bolpolitische Umgestaltung des Raumes, Denkmalpolitik und festliche Insze-nierungen gehen.

Die bisherige Forschung arbeitete das langsame Tempo des Sowjetisierungs-prozesses, den Zugriff auf die alten (»bürgerlichen«) Eliten und die Förderung der lokalen Kader als Gemeinsamkeiten für die 1940 annektierten estnischen, litauischen und lettischen Gebiete heraus. In allen drei baltischen Republiken

Stadt«. In: Narva und die Ostseeregion/Narva and the Baltic Sea Region. Narva 2004, 81–103. Aus der Moskauer Sicht siehe dazu: Zubkova, Elena: Pribaltika i kreml’ 1940–1953.

Moskva 2008 und Kantor, Julija: Pribaltika: Vojna bez Pravil (1939–1945) Sankt Peterburg 2011. Zum ost- und mitteleuropäischen Kontext siehe die kürzlich erschienene Studie von Applebaum, Anne: Iron Curtain. The Crushing of Eastern Europe 1944–1956. Doublegate 2012. Applebaum verwendet hier den Begriff Sowjetisierung in Bezug auf die Transfor-mation aller Bereiche des Lebens nach dem sowjetischen »top down« Muster in der DDR, Polen und Ungarn. Demgegenüber betont die zuletzt erschienene Studie von Violeta Da-voliūtė die Handlungsformen und -optionen der lokalen Eliten in Litauen und untersucht die Aneignung des Sowjetischen durch litauische politische Akteure als »hausgemachte Sowjetisierung«. Siehe: Davoliūtė: The Making and Breaking of Soviet Lithuania.

4 Vgl. auch: Mertelsmann: The Sovietization of Baltic States, 9; Stephen Kotkin zeigte die Propagierung der Sowjetisierung als »not only formally or administratively, but as deep inculcation of a new socialist way of life«. Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as Civilization. Berkeley 1995, 34.

5 Mertelsmann: The Sovietization of Baltic States, 10. 

wurde durch den Rückgriff auf die folkloristische Komponente der nationa-len Kultur – beispielsweise in unionsweit bekannten Tanz- und Gesangsfesti-vals – neben dem Stolz auf den Sozialismus auch der nationale Stolz geför-dert.6 Diese Politik trug ihren Teil dazu bei, dass die baltischen Republiken, die in der Nachkriegszeit als Problemzone wahrgenommen worden waren, zu Vorzeigerepubliken, ja zum westlichen »Schaufenster« der Sowjetunion avancierten.7

Während der Perestroika hatte der litauische nationale Diskurs die Sow-jetisierung als gewaltsame Russifizierung, als Kolonisierung oder auch als genozidale Politik in der okkupierten Litauischen Republik diskutiert und bewertet. Diese Definitionen flossen auch in deutlich später erschienene wis-senschaftliche Abhandlungen ein.8 Verstärkt wurde diese Perspektive durch die Wiederauflage von Werken, die in der Nachkriegszeit im westlichen Exil erschienen waren.9 Die Russen galten als Herrscher und dominierende Na-tion, die Litauer als unterdrücktes, verfolgtes Volk ohne die Möglichkeit einer eigenständigen kulturellen Entwicklung. Die Sowjetisierung wurde hier aus-schließlich als ein von der Staatsspitze gelenktes Projekt verstanden, an dem neben Russen höchstens litauische »Sowjetkollaborateure« beteiligt gewesen seien und dem die Gesellschaft, die Intelligenzija und die Kirche durchweg

6 Hier vor allem die jüngst erschienene Studie von Davoliūtė (The Making and Breaking) zu Litauen sowie Forschungen von Odeta Mikštaitė: Mikštaitė, Odeta: Der »Singende Stali-nismus«: Zur Entstehung der Massenkultur auf dem Gebiet der Folklore in der Litauischen SSR. In: Forschungen zur Baltischen Geschichte 8 (2013), 192–214 sowie Clemens, Walter C.:

Comparative Repression and Comparative Resistance. In: Mertelsmann: The Sovietization of the Baltic States, 19–42.

7 Zubkova, Elena: Problemnaja zona: osobennosti sovetizacii respublik Baltii v poslevoennye gody. 1944–1952. In: Bordjugov, Gennadij (Hg.): Novyj mir istorii Rossii, Moskva 2001, 355–374 und Mertelsmann: The Sovietization of Baltic States, 13.

8 Diese Richtung ist in den Arbeiten der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zentrums für Genozid- und Widerstandsforschung vertreten, siehe Studien zur Sowjetisierung unter dem Begriff »Okkupation«: Lietuva 1940–1990. Okupuotos Lietuvos Istorija. Vilnius 2007;

Streikus, Arūnas (Hg.): Lietuvos kultūra sovietinės ideologijos nelaisvėje. Vilnius 2005;

Okupacija ir aneksija: pirmoji sovietinė okupacija: 1940–1941. Vilnius 2006; oder un-ter dem Begriff »Genozid«: Lietuvos gyventoju genocidas. 1939–1941. Vilnius 1999; siehe auch: Kuodytė, Dalia/Tracevskis, Rokas. The Unknown War: Armed Anti-Soviet Resist-ance in Lithuania in 1944–1953. Vilnius 2004; Kasparas, Kestutis: Lietuvos karas. Kaunas 1999; Anušauskas, Arvydas: Rainių tragedija. 1941 m. birželio 24–25 d., Vilnius 2000, so-wie kürzlich erschienen: The Real History of Lithuania in the 20th Century. Vilnius 2013.

In neueren Ansätzen wird die Sowjetisierung ausgehend von Ansätzen der post colonial studies gedeutet: Annus, Epp: Between arts and politics: A postcolonial view on Baltic cul-tures of the Soviet era. In: Journal of Baltic Studies Nr. 47/1 (2016), 1–13, sowie weitere Auf-sätze in dieser Zeitschriftenausgabe.

9 Eine große Bedeutung hatte die Wiederauflage der Publikation von Mikolas Römeris:

Römeris, Mykolas. Lietuvos sovietizacija 1940–1941: Istorinė sovietizacijos apžvalga ir konstitucinis jos įvertinimas. Augsburg 1949 [Vilnius 1989].

Widerstand geleistet hätten.10 Erst eine neue Generation litauischer Historiker nach der Jahrtausendwende erforschte und beschrieb die Grauzonen zwischen Widerstand und Kollaboration im Prozess der Sowjetisierung.11 Die neuen An-sätze halfen zu zeigen, dass die Sowjetisierung in Litauen mehr als nur Verfol-gung und Kontrolle bedeutete. Das vorher vorherrschende Erklärungsmodell wurde ausgeweitet durch Fragen nach der gesellschaftlichen Beteiligung an der Sowjetherrschaft in politischen und wirtschaftlichen Strukturen und den Identifikationsangeboten, die nicht zuletzt von den litauischen Eliten aus dem Ideologie- und Kulturbereich ausgearbeitet wurden.12

Im Kulturbereich liefen die Sowjetisierungspraktiken zweigleisig: Zum einen waren sie darauf ausgerichtet, die Sowjetmacht in Litauen durch die ih-rer Ansicht nach richtige Geschichtsversion und die Ideologie des proleta-rischen Internationalismus zu legitimieren; zum anderen förderten sie auch die litauische nationale Kultur und Sprache – allerdings immer als Teil eines gesamtsowjetischen Identitätsverständnisses. Wie Rüdiger Ritter zutreffend formulierte, war die Berücksichtigung eines Nationskonzepts damit das »tro-janische Pferd« der Sowjetisierung in Litauen.13 An einem eigenständigen, se-paraten litauischen Nationalismus war den Sowjets keineswegs gelegen, im Gegenteil.

Wie überall in der Sowjetunion war die Sowjetisierung untrennbar mit einer

»Kulturrevolution« verknüpft. Bereits im August 1940 verkündete Mečislovas Gedvilas, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der LSSR, auf der Versammlung der litauischen Lehrer: »Diese Revolution führt dazu, dass wir

10 Siehe z. B.: Streikus, Arūnas: The Resistance of the Church to Soviet Regime from 1944 to 1967. In: Anušauskas, Arvydas (Hg.): The Anti-Soviet Resistance in the Baltic States. Vil-nius 1999, 84–121.

11 Švedas, Aurimas: Matricos nelaisvėje. Sovietmečio lietuvių istoriografija (1944–1985).

Vilnius 2009 [Englische Fassung: In the Captivity of the Matrix. Soviet Lithuanian Historiography, 1944–1985. New York 2014]; Grybkauskas, Saulius: Sovietinė nomen-klatūra ir pramonė Lietuvoje 1965–1985 metais. Vilnius 2011; Davoliūtė, The Making and Breaking of Soviet Lithuania; Ivanauskas, Vilius: Sovietinis režimas ir kultūrinės no-menklatūros kaita vėlyvuoju sovietmečiu Lietuvoje. Rašytojų aplinkos atvejis. In: Poli-tologija, 4/2010, 53–84; Safronovas, Vasilijus: Kampf um Identität. Die ideologische Aus-einandersetzung in Memel/Klaipėda im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2015.

12 Zunächst haben diese Fragen Taagpera und Misiunas aufgeworfen, siehe: Misiunas, Ro-mualdas/Taagepera, Rein: The Baltic States, Years of Dependence, 1940–1990. Berkeley 1993. Tiefergehende Studien sind neueren Datums: Davoliūtė, Violeta: The Making and Breaking of Soviet Lithuania; Mikštaitė, Odeta: Sowjetische Karriere für nationale Kul-tur? Zum Verhältnis von Sowjetisierung und Konstituierung nationaler Kultur am Bei-spiel des Wirkens herausragender Kulturfunktionäre der Stalin- und Chruščev-Ära in der Litauischen SSR. In: Studia Maritima, Nr. XXV (2012), 239–254; sowie Autobiografie von Jokūbonis, Gediminas: Kai žaidė angelai. Atsiminimai. Vilnius 2009.

13 Ritter, Rüdiger: Prescribed Identity. The Role of History for the Legitimation of Soviet Rule in Lithuania. In: Mertelsmann: The Sovietization of the Baltic States, 85–110, hier 98–101.

unsere Werte überdenken. Das, was gestern ehrwürdig gewesen ist, erscheint heute als niedrig und verachtenswert, was gestern schön war, ist heute absto-ßend. Alles ist radikalen Veränderungen unterworfen.«14

Praktisch bedeutete dies die Propagierung des proletarischen Internatio-nalismus verknüpft mit der offenen Verachtung gegenüber der »verwesen-den alten Welt«, also dem Westen. In dieser Ideologie gab es keinen Platz für nationale und religiöse Werte. Gleich im ersten Jahr der Sowjetmacht in Li-tauen wurden aus den Museen Werke religiösen Inhalts entnommen und vernichtet.15

In der Historiografie richtete sich die »Kulturrevolution« primär auf die Umgestaltung des in der Zwischenkriegszeit gängigen Šapoka-Narrativs.16 Spätestens seit dem Jahr 1936, als der Historiker Adolfas Šapoka zusam-men mit vier weiteren Kollegen seine paradigmatische historische Synthese

»Geschichte Litauens«17 herausgab, lässt sich für das Litauen der Zwischen-kriegszeit von einem konsolidierten historischen Narrativ sprechen. Dieses schuf ein selektives Modell der litauischen Geschichte, das Nation als histori-scher Kategorie einen exkludierenden und defensiven Charakter zuwies. Das Ziel dieser Bemühungen war es, die litauische Geschichte vom Einfluss an-derer Historiographien zu »säubern« bzw. zu »retten«.18 Als roter Faden der Erzählung diente das Motiv der litauischen Staatlichkeit, ihrer Entwicklung in der Vergangenheit und die stete Bedrohung ihrer Existenz. Litauen erhielt in diesem Geschichtsbild für die Epochen der nationalen Unselbständigkeit, also von der Gründung der Polnisch-Litauischen Union 1569 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918, die Rolle einer »belagerten Festung«, umgeben von drei »historischen Feinden«: Deutschen, Russen und Polen.19 Die Ver-drängung und Stigmatisierung des Šapoka-Narrativs sollte zu einer der ersten Aufgaben der sowjetischen Geschichtsschreibung werden. Damit verknüpft waren die Bemühungen der Kommunistischen Partei, die Zuständigkeit für die Historiographie von den Historikern an ihre eigenen ideologischen In-stanzen zu übertragen.

14 Zitiert in Darbo Lietuva vom 15.8.1940. Sämtliche Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin.

15 Vgl. Lietuva 1940–1990, 129.

16 Švedas: Matricos nelaisvėje, 156 f.

17 Vgl. Šapoka, Adolfas: Lietuvos Istorija. Kaunas 1936. Siehe auch die englischsprachige Ausgabe: Šapoka, Adolfas: Lithuania Through the Ages. Toronto 1948. Als E-Book unter:

http://www.partizanai.org/index.php/red-a-sapoka-lietuvos-istorija (zuletzt 13.4.2016).

18 Vgl. auch Švedas: Matricos nelaisvėje, 184.

19 Dieses Konzept wurde in der Zeit der litauischen Unabhängigkeitsbewegung wieder auf-gegriffen, siehe z. B. Jurginis, Juozas: Šapokos istorijos apžvalga. In: Literatūra ir menas, 18.4.1988, 11. Noch 2005 wurde Šapoka zu den zehn wichtigsten Autoren Litauens ge-zählt. Siehe z. B.: Dešimt svarbiausiu lietuvių autorių, URL: http://www.delfi.lt/archive/

desimt-svarbiausiu-lietuviu-autoriu.d?id=6670411 (zuletzt 13.4.2016)

Das Kulturleben unterlag in Litauen wie auch in anderen Sowjetrepubliken den zuständigen Strukturen der Kommunistischen Partei: dem Zentralkomi-tee der Kommunistischen Partei Litauens und dem Volkskommissariat der Aufklärung und Kultur; später dem Kulturministerium. Die entscheidende Rolle spielte das Zentralkomitee, das vom Institut für Parteigeschichte bei dem ZKKPL20 sowie von primären Parteiorganisationen in Zeitungen, Betrie-ben, Museen usw. in seiner Arbeit an der ideologisch richtigen Deutung der Vergangenheit unterstützt wurde.21 Die wichtigsten kulturpolitischen Ent-scheidungen traf das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (Bolsche-wiki) Litauens.22 Eine besonders wichtige Entscheidungskompetenz lag beim Sekretär des ZK, der für die Ideologiearbeit verantwortlich war (bis 1948 hatte Kazys Preikšas diesen Posten inne, nach ihm Vladas Nunka).23 Die Kontrolle über die Realisierung der ideologischen Direktiven leistete der ihm unterge-ordnete Rat der Volkskommissare der LSSR und ab 1946 der Ministerrat der LSSR. Ihm unterstand das Komitee für Kultur und Aufklärung, das die Ar-beit der Museen, Bibliotheken und Kulturklubs leitete. Vor Ort oblag die Kon-trolle des ideologischen Inhalts den Abteilungen für Kultur und Aufklärung, den städtischen Komitees der KP(b)L sowie den zuständigen Parteisekretären für kulturelle Aktivität. In der direkten Nachkriegszeit wurde die kulturelle Kreativität von höheren Vertretern der Roten Armee »unterstützt«, die als Be-rater der Kulturbildungseinrichtungen eingesetzt wurden.24

Erklärtes Ziel der Arbeit an der Geschichte war, gemäß sowjetischem Mus-ter, die Erziehung im »Geiste des Sowjetpatriotismus und des proletarischen Internationalismus«.25 Da nach 1944 kaum etablierte Historiker in Litauen geblieben waren, stand die neue Regierung vor der Aufgabe, die akademi-schen Strukturen von Grund auf neu aufbauen zu müssen.26 Eine wichtige Rolle spielten dabei Historiker wie Juozas Žiugžda und Juozas Jurginis, deren Karrieren sich während der Zwischenkriegszeit noch auf den schulischen Ge-schichtsunterricht beschränkt hatten.

20 Das Institut für Parteigeschichte beim ZK KPL, die Zweigstelle des Instituts für Marxis-mus-Leninismus beim ZK KPdSU in Moskau, gegründet 1946, erforschte die revolutio-näre Vergangenheit Litauens und veröffentlichte klassische Werke des Marxismus-Leni-nismus auf Litauisch. Das Institut gab den »Umriss der Geschichte der KP Litauens«

heraus, das als Grundlage für die sowjetlitauische Geschichtsschreibung diente.

21 Lietuva 1940–1990, 444; Švedas: Matricos nelaisvėje, 38–62.

22 Im Folgenden als ZK KP(b)L abgekürzt. Nach 1952 trug die Kommunistische Partei Litau ens den Namen KPL, ohne den Zusatz (b) für »Bolschewiki«.

23 Lietuva 1940–1990, 128–131, 281–288, 363–371.

24 Siehe z. B die Entstehungsgeschichte des Kaunasser Kriegsmuseums im Kapitel 2.

25 Švedas: Matricos nelaisvėje, 323.

26 Švedas, Aurimas: Vortrag »The features of the great Lithuanian historical narrative« am Forum Geschichtswerkstatt Europa. am 18.9.2010. Unveröff. Manuskript.

Die meisten der sich nun etablierenden Historiker arbeiteten am Institut für Parteigeschichte oder standen mit ihm in Verbindung. Hier publizierten sie auch grundlegende Werke, Enzyklopädien und Geschichtslehrbücher.27 Den allgemeinen Methoden der sowjetischen Geschichtsschreibung folgend, hatten sich auch die litauischen Historiker an der vorgegebenen Geschichte des Klassenkampfes und an einer Periodisierung nach dem Muster des his-torischen Materialismus zu orientieren.28 Praktisch bedeutete dies, dass Kate-gorien aus dem Geschichtsdenken der Gegenwart, dem historischen Materia-lismus, auf die Epochen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Anwendung fanden. Begriffe wie Volk, Nation und Werktätige gingen neu in die Beschrei-bung militärischer Auseinandersetzungen des 14. und 15. Jahrhunderts ein oder erfuhren in der Geschichtsschreibung der polnisch-litauischen Auf-stände im 19. Jahrhundert eine sozialistische Umdeutung.29 Alle Auseinan-dersetzungen in der Geschichte wurden zu sozialen, zu Klassenfragen erklärt.

Die Rekonstruktion der Geschichte bestand aus einer Verschmelzung von Methodologie und Ideologie. Dabei war die erstere der letzteren untergeord-net, sodass alle Epochen, historischen Porträts und Prozesse im ideologischen Rahmen der marxistisch-leninistischen Theorie präsentiert wurden.30

Die russische Geschichte erhielt einen wichtigen Platz innerhalb der His-toriographie der einzelnen Sowjetrepubliken. Als fortschrittliche Kraft ge-deutet, markierte sie die Grundlage und den Ausgangspunkt für die spätere Integration anderer Gebiete in die UdSSR. Auch die neue Geschichte Litau-ens sollte unter dem Paradigma des »sukzessiven Fortschrittes« geschrieben werden.31 Die Darstellung der moralisch-politischen Einheit des Sowjetvolkes als – trotz des Zarenregimes – ungebrochene Tradition stellte die Weichen für

27 Wie zum Beispiel: Jurginis, Juozas: Lietuvos TSR istorija. Kaunas 1957; Ders.: Lietuvos TSR istorija. VII–IX Klasei. Kaunas 1969; Ders.: »Istorija« in: Mažoji lietuviškoji tarybinė en-ciklopedija. Vilnius 1969, Bd. 1. Ders.: Lietuvos valstiečių istorija. Vilnius 1978; Paleckis, Justas: Tarybų Lietuvos kelias. Vilnius 1947; Žiugžda, Juozas: Lietuvos TSR Istorija. Bd. 1.

Vilnius 1953, Ders.: Lietuvos TSR Istorija. Bd. 2. Vilnius 1963, Ders.: Lietuvos TSR Istorija.

Bd. 3. Vilnius 1965; Lietuvos Tarybų Socialistinė Respublika. Istorija. In: Mažoji lietu-viškoji tarybinė enciklopedija. T. 3. Vilnius 1968.

28 Vgl. z. B. zur Darstellung der Geschichte in den sowjetischen Schulbüchern: Lyons, Graham (Hg.): The Russian Version of the Second World War. The History of the War as Taught to Soviet School Children. London 1976 und Damerau, Reinhard: Polnische Ge-schichte in sowjetischen Schulbüchern. In: Osteuropa 24 (1974), 419–433.

29 Der Aufstand 1863/64 sollte als Ergebnis der »revolutionären Situation« 1859–1861 so-wie als Bestandteil der »Revolution« 1863–1864 in Polen und Weißrussland und damit als gemeinsamer Kampf der Polen, Litauer und Weißrussen gegen den Zarismus und die Großgrundbesitzer gedeutet werden. Vgl. Sitzungsprotokoll des ZK der KPL 1963. LYA, F.1771, ap. 218 b. 134, l. 3 f., hier wurden Feierlichkeiten zum hundertsten Jubiläum des Aufstands angeordnet.

30 Švedas: Matricos nelaisvėje, 321.

31 Ritter: Prescribed Identity, 92.

die Geschichtsschreibung in den Republiken. Die Zwischenkriegszeit als Pe-riode des jungen litauischen Nationalstaates wurde in dieser Perspektive als dunkel, faschistisch und bourgeois stigmatisiert.32

Diese ideologischen Vorgaben beeinflussten auch die Quellenarbeit, die nun methodisch weitgehend unsauber ausfallen musste. Ein Markenzeichen der sowjetischen Geschichtswissenschaft war die Umdeutung bzw. Unter-schlagung von Tatsachen für das politisch geforderte Narrativ. Problematisch war dabei, dass zwar vorgegeben war, dass sowjetische Historiker die mar-xistische Theorie auf alle historischen Untersuchungen anwenden mussten.

Da allerdings kein konkreter Index verbotener historischer Inhalte existierte, hing positive oder negative Kritik vom Willen der Parteiführung in Vilnius oder Moskau ab. Historiker versuchten als Konsequenz, methodologische und ideologische Fehler durch Selbstzensur zu umgehen.33

Das Kapitel diskutiert im Folgenden zunächst die Grundlinien der sowjeti-schen Kulturpolitik in den ersten Nachkriegsjahren. Es fragt danach, wie sich die Wechselbeziehungen zwischen Moskau und Vilnius gestalteten und wer die wichtigsten Akteure auf dem Feld der Kulturproduktion waren. Es un-tersucht die Grundlagen der sowjetischen Geschichtspolitik in Bezug auf die deutsche Besatzung Litauens und schildert die wichtigsten Akteure, Dynami-ken, Motive und Funktionen der Kriegserinnerungskultur.

Das Kapitel diskutiert im Folgenden zunächst die Grundlinien der sowjeti-schen Kulturpolitik in den ersten Nachkriegsjahren. Es fragt danach, wie sich die Wechselbeziehungen zwischen Moskau und Vilnius gestalteten und wer die wichtigsten Akteure auf dem Feld der Kulturproduktion waren. Es un-tersucht die Grundlagen der sowjetischen Geschichtspolitik in Bezug auf die deutsche Besatzung Litauens und schildert die wichtigsten Akteure, Dynami-ken, Motive und Funktionen der Kriegserinnerungskultur.