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Im Dokument Pflanzen, Spitzen und Kontur (Seite 53-76)

in some aspects of modern life outside the usual womanly pursuits of stitchery, draw-ing, and painting in watercolors.“148

Obwohl Rosenblum die ökonomische und künstlerische Bedeutung von Frauen in der Fotografie herausstreicht, bleibt eine Erörterung derselben bis auf wenige Aus-nahmen ein Desiderat der Fotografiehistoriografie.149 Wenn eine Besprechung von Frauen im Feld der Fotografie des 19. Jahrhunderts in der Forschung bislang über-haupt stattfand, so wurden zumeist einige wenige bekannte Vertreterinnen genannt;

davon abgesehen griff man auf vorherrschende Kategorisierungen und Stereotypen zurück.150 Grundlegend für diese Geschichtskonzeption ist die mangelnde beziehungs-weise schwer zu erschließende Quellenlage, das Konzept von Fotografie als Kamera-fotografie und die sich nach wie vor an „männlich“ kodierten Kategorien der Kunst-geschichte orientierenden Fotografiehistoriografie und Kunstmarkt. Demzufolge wurden anonyme, vernakuläre und von Frauen gefertigte Fotografien zumeist nur selten in Anthologien der Fotografiegeschichte aufgenommen; nicht zuordenbare Fotografien und Fotogramme sprach man der Einfachheit halber und kunsthistori-schem Usus gemäß einem „Kreis“ oder einer „Schule“ eines meist männlichen Urhe-bers zu.

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Ein innerhalb der Forschung zu kameraloser Fotografie mittlerweile gut erarbeitetes Beispiel stellt das Œuvre von Anna Atkins dar. Spätestens seit den Studien Larry Schaafs und Carol Armstrongs ab den 1980er Jahren und der fotohistoriografischen Erweiterung des Feldes vor dem Hintergrund des Poststrukturalismus, erkannte man die Bedeutung der englischen Fotografin als prominenter Vertreterin weiblicher Lichtbildkunst im 19. Jahrhundert.151 Der Fokus der Analyse ihres Werkes galt einer wissenschaftshistorischen Perspektivierung. „Weiblich“ konnotierten Alltagsprakti-ken des Sammelns, Archivierens und Arrangierens in Alben schenkte man zum damaligen Zeitpunkt hingegen kaum Beachtung.

Anhand der Erörterung ihrer Arbeiten lassen sich jedoch zentrale Fragestellun-gen der Rezeption kameraloser Fotografie aufrollen, die ich nachfolFragestellun-gend ausführen werde: Welche Möglichkeiten bot jenes zum damaligen Zeitpunkt noch junge Ver-fahren im Feld der Botanik gegenüber vergleichbaren Illustrationsformen? Inwiefern

148 Rosenblum 1994, S. 40.

149 Vgl. dazu: Matzer 2012.

150 Exemplarisch dafür: Martin Sandler, Against the Odds. Women Pioneers in the First Hundred Years of American Photography, New York 2002.

151 Schaaf 1985; Armstrong 1998. Vgl. dazu ebenfalls: John Wilson, The Cyanotype, in: Pritchard 1990, S. 19–25; Ware 1999.

ließen sich die medialen Abbildungsmodalitäten des Fotogramms mit zeitgenössi-schen botanizeitgenössi-schen Darstellungskonventionen vereinbaren beziehungsweise welcher visuelle „Zugewinn“ konnte damit verbucht werden? Kann andererseits ein kritisches Potenzial in der Verwendung kameraloser Fotografie im Rahmen der Diskussion einer „natürlichen“ Pflanzensystematik erkannt werden? Welche Rolle spielte es zudem, sich als weibliche Forscherin eines noch jungen Mediums wie des Fotogramms zu bedienen? Kann andererseits im Œuvre Atkins’ in formaler Hinsicht ein Ansatz einer ästhetisch-ornamentalen Auseinandersetzung und somit eine erste Etappe in Richtung künstlerischer Verwendung erkannt werden?

Im Alter von circa 44 Jahren begann Anna Atkins sich mit der Technik des Fotogramms zu beschäftigen und gestaltete das erste – gemeinhin bekannte – mit kameralosen Fotografien illustrierte Sammelwerk, das oftmals irrtümlich als erstes

„Fotobuch“ bezeichnet wird. Durch die eigenhändige Herstellung und die private Weitergabe ist es jedoch von einem Verlagsmedium grundlegend zu unterscheiden, worauf noch näher eingegangen werden soll. Über ihren Vater, John George Children, Chemiker, Mineraloge, Mitglied der Royal Society sowie Leiter der Abteilung für Zoo-logie und Naturgeschichte am British Museum in London, hatte Atkins Zugang zu wissenschaftlichen Kreisen der viktorianischen Gesellschaft. Persönlichen Kontakt pflegte sie sowohl zu Talbot als auch zu Herschel, wodurch sie aus erster Hand über Forschungsergebnisse zur Fotografie unterrichtet wurde.152 Bereits 1841 schenkte Children seiner Tochter eine Kamera aus dem Hause Andrew Ross. Ob sie damit auch Aufnahmen herstellte, lässt sich nicht nachweisen.153

Wie viele Töchter und Ehefrauen der viktorianischen Ära unterstützte Atkins ihren Vater durch die Anfertigung wissenschaftlicher Illustrationen, so zum Beispiel durch Zeichnungen von Muscheln für Childrens 1823 erschienene Übersetzung von Lamarcks Genera of Shells.154 Atkins’ vordergründiges Forschungsinteresse lag im Bereich der Botanik, einem wie bereits erörtert zum damaligen Zeitpunkt für Frauen gesellschaftlich sanktionierten wissenschaftlichen Betätigungsfeld.155 Dabei galt die

152 Bereits kurz nach seiner öffentlichen Verlautbarung zur Fotografie sandte Talbot eine Ver-sion seines Textes sowie einige Fotografien an Children. Siehe dazu: Schaaf 1985, S. 25.

153 Ebenda, S. 26.

154 John George Children, Lamarck’s Genera of Shells, in: The Quarterly Journal of Science, Lit-erature, and the Arts, 1822–1824 (mehrteiliger Artikel). Neben Zeichnung und Aquarell wid-mete sie sich ebenfalls der Lithografie, siehe dazu: Schaaf 1985, S. 23f.; Armstrong 2004, S. 97ff. Zur Rolle der weiblichen wissenschaftlichen Zuarbeit im Familienkreis, siehe: Ann Shteir, Botany in the Breakfast Room. Women and Early Nineteenth-Century British Plant Study, in: Pnina Abir-Am/Dorinda Outram (Hg.), Uneasy Careers and Intimate Lives. Women in Sciences 1789–1979, New Brunswick 1987, S. 31–43.

155 1839 wurde Atkins in die „Botanical Society of London“ aufgenommen, eine Vereinigung, die Frauen als Mitglieder anerkannte. Zu Frauen im Feld der Botanik siehe: Shteir 1996; dies. 1997;

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Beschäftigung mit den Formen der Natur dem weiblichen Geschlecht auf unter-schiedliche Weise zuträglich. Sowohl „Weiblichkeit“ als auch „Natur“ und mit ihr die Botanik verband man mit Attributen von Reinheit, Schönheit und Unschuld, die stark von der „männlich“ kodierten Domäne der Kultur und Geistigkeit abwichen.156 Bota-nik galt darüber hinaus als „elegant home amusement“, das nicht wie im Falle der Insektenkunde Tötung und Präparierung erforderte, sondern auf einfache Weise in der Frauen zugeschriebenen Sphäre des häuslichen Bereichs ausgeübt werden konnte.157 Zahlreiche Autoren betonten zudem die dafür notwendige Genauigkeit und Fingerfertigkeit, die Frauen ganz im Gegensatz zu Männern „von Natur aus“

gegeben sei.158 Spätestens mit Ende des 18. Jahrhunderts verfestigte sich die Botanik neben der Zeichenkunst, dem Handarbeiten und Musizieren zu einem „female accomplishment“, weshalb junge Frauen der viktorianischen Ära nicht nur Pflanzen sammelten, sie in Herbarien oder Alben ablegten und ordneten, sondern auch Illus-trationen anfertigten sowie didaktische Handbücher verfassten.159 Für die metapho-rische Zuschreibung von „Frau“ zur „Natur“ waren physiologische Aspekte ausschlag-gebend, so unter anderem die weibliche Gebärfähigkeit.160 Durch diese veranschlagte Dichotomie der Geschlechterordnung und ihre synchrone „Naturalisierung“ ergab sich im gleichen Zuge eine Vergeschlechtlichung des Wissenschaftszweiges Botanik, dem unter anderem John Lindley, Professor der Botanik an der Universität London, durch eine Definition des Feldes als „occupation for the serious thoughts of man“

abseits des „amusement for ladies“ entgegenzutreten versuchte.161 Ungeachtet dessen stellten die Forschungsarbeiten zahlreicher viktorianischer Botanikerinnen einen wichtigen Teil der wissenschaftlichen Praxis dar, deren Ergebnisse zumeist in Publi-kationen ihrer männlichen Kollegen einflossen.162

Im Zuge ihrer botanischen Auseinandersetzung stand Atkins dank der Vermitt-lung ihres Vaters in regem Briefverkehr mit William Hooker.163 Zu ihrer eigenen Wis-senschaftspraxis zählte die Anlage eines Herbariums, welches heute in Form von Einzelblättern zur jeweiligen Spezies in mehreren britischen Institutionen verwahrt

Bernard Lightman, Depicting Nature, Defining Roles. The Gender Politics of Victorian Illus-tration, in: ders./Shteir 2006, S. 214–239.

156 Vgl. dazu: Ortner 1972, Bovenschen 2003; Parker 2010; Deuber-Mankowsky 2009.

157 Vgl. dazu: Shteir 1996, S. 35ff.

158 So unter anderem: Anonym, Botanical Studies Recommended to Ladies, in: Gentleman’s Magazine, Bd. 71, Tl. 1, 1801, S. 198–200, zit. n. Shteir 1996.

159 Vgl. dazu: Shteir 1996, S. 35ff.

160 Vgl. dazu: Ortner 1972.

161 John Lindley, An Introductory Lecture Delivered in the University of London on Thursday, 30.

April 1829, London 1829, S. 17.

162 Vgl. dazu: Shteir 1987, 1996.

163 Vgl. dazu: Schaaf 1985, S. 24.

wird.164 Ab 1843 druckte Atkins vorwiegend Naturobjekte auf fotochemischen Wege ab, in dem sie sich Sir John Herschels 1842 veröffentlichten Cyanotypieverfahrens bediente.165 Wie Schaaf feststellte, handelte es sich bei jener Technik um ein „enter-tainment“, welches in der Familie Herschel oftmals ausgeübt wurde.166 Zur Herstel-lung bestrich man gewöhnliches Schreibpapier mit Kaliumferricyanid sowie Ferri-ammoniumcitrat, belegte es mit unterschiedlichen getrockneten und gepressten botanischen Objekten sowie einer Glasscheibe und belichtete es anschließend im Freien unter Sonnenschein. In einem letzten Schritt wurde das Papier mit Wasser behandelt, wodurch die unbelichteten Stellen die Papierfärbung behielten und die belichteten sich kobaltblau färbten. Im Unterschied zu Talbots fotochemischen Ver-fahren diente somit lediglich reines Wasser als Fixiermittel. Damit fiel Herschels Methode vergleichsweise günstig und auch besonders lichtstabil aus. Wenngleich sie in der Anfangszeit kaum Verwendung fand, wurde die Cyanotypie vor allem ab den 1870er Jahren aufgrund ihrer geringen Kosten zur Vervielfältigung von Büchern, Architekturzeichnungen und Kopien jeglicher Art eingesetzt.167

Während einer Periode von circa zehn Jahren – zwischen 1843 und 1854 – brachte Atkins das in Eigenregie gedruckte Serienwerk Photographs of British Algae. Cyanotype Impressions in zwölf einzelnen Teilen mit weit über 400 Abzügen heraus und ver-schickte es an einen ausgewählten Personenkreis aus renommierten Botanikern sowie an wissenschaftliche Institutionen wie der Linnaean Society oder den Royal Botanic Gardens in Kew.168 Der Großteil der darin abgedruckten Pflanzen stammte aus Atkins’ eigenen Sammlungen. Fehlende Spezies wie zum Beispiel exotische Algen-pflanzen konnte sie mit Hilfe ihres Netzwerks botanisierender Freunde und Kollegen ergänzen, die ihr wahrscheinlich Proben zur Verfügung stellten.169 In Bezug auf das Sammeln und die botanische Auseinandersetzung mit Farn- und Algenpflanzen kann Atkins’ Werk in den Kontext der viktorianischen Freizeitbeschäftigung des

„Botanisierens“, aber auch des „victorian fern craze“ gestellt werden.170 Eine beson-164 1865 übergab Atkins ihr Herbarium dem British Museum als Schenkung. Heute wird es unter

anderem im Natural History Museum London und den Royal Gardens in Kew aufbewahrt.

165 Kurz nach der Veröffentlichung seines Cyanotypieverfahrens sandte Herschel eine Kopie sei-ner Schrift an Children, vgl. Herschel 1842. Zudem standen beide Familien in einem freund-schaftlichen Verhältnis, vgl. dazu: Schaaf 1985, S. 27.

166 Schaaf 1985, S. 27. 1840 zog Herschel mit seiner Familie nach Kent und damit in die direkte Nachbarschaft Anna Atkins’.

167 Zudem war der Zugang zum Verfahren der Cyanotypie nicht durch patentrechtliche Restrik-tionen beschränkt, vgl. dazu: Schaaf 1985, S. 28, 30; Ware 2004.

168 Vgl. dazu: Schaaf 1985; Ware 2004 S. 106f.

169 Vgl. dazu: Schaaf 1985, S. 31.

170 In England zählten vor allem Frauen zu den Hauptvertreterinnen der botanischen Wissens-vermittlung. Autorinnen verfassten für Leserinnen zumeist „leicht verständliche“ Bücher in Form von Briefen und Konversationen. Siehe dazu: Bernard Lightman, Depicting Nature,

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dere Bedeutung kommt ihrem Werk nicht nur aufgrund seiner zeitlich vor Talbots The Pencil of Nature datierbaren Anfertigung zu, sondern auch durch die Herstellung in Eigenregie sowie die gänzlich in Cyanotypie gehaltenen handschriftlichen Text- wie Bildseiten, wodurch ein Zusammenhang zu privaten Sammelalben gesehen wer-den kann. Zudem vergegenwärtigen Atkins’ blau-weiße Cyanotypien aufgrund ihrer Farbigkeit den ursprünglich maritimen Herkunftsort der Algenpflanzen und greifen darüber hinaus das bekannte farbliche Spektrum der in England beliebten „Wedge-wood-ware“ auf.171

Bereits in der handschriftlichen Einleitung in Cyanotypie umreißt Atkins aktu-elle Problemfelder der botanischen Illustration, die Potenziale kameraloser Fotogra-fie sowie den allgemeinen Verwendungszweck ihres Werkes: „The difficulty of making accurate drawings of objects so minute as many of the Algae and Conferva, has indu-ced me to avail myself of Sir John Herschel’s beautiful process of Cyanotype, to obtain impressions of the plants themselves, which I have much pleasure in offering to my botanical friends.“172

Es handelte sich demnach um Blätter in Cyanotypie, die Atkins als Präsent für ihre botanisch interessierten Freunde vorsah. Damit wird gleichermaßen der Kon-text der viktorianischen Geschenkkultur eröffnet, die in Form von teilweise hand-gefertigten Büchern und Alben, freundschaftliche Verbundenheit bezeugten. Vor allem die Handschrift, wie sie zahlreiche Seiten in Atkins Album füllt, wurde als Zei-chen der persönliZei-chen Erinnerung gewertet und lässt sich insofern mit Freund-schaftsbüchern und Autografensammelalben vergleichen.173 An vorderster Stelle der Geschenkgabe stand nicht der monetäre Wert, sondern die persönliche Widmung als Ausdruck der Zuneigung, wodurch Geschenkbücher zwischen Familien auch als

„social currency“ eingesetzt wurden.174 Im Hinblick auf die weibliche Autorschaft jenes Sammelwerks kann mit Jill Rappoport argumentiert werden, dass Frauen in einer stark reglementierten Gesellschaft durch Geschenkgaben bedeutende Beziehungen und soziale Verbindungen aufbauen konnten.175 Durch die Schenkung ihres Sammel-werks an prominente Vertreter und Institutionen der Botanik schuf sich Atkins ihr

Defining Roles. The Gender Politics of Victorian Illustration, in: ders./Shteir 2006, S. 214–239.

Spätestens ab 1830 versuchte John Lindley, Professor für Botanik an der Universität London, Botanik als Wissenschaftsform von populären Phänomenen abzugrenzen und damit ein

„respektables“ Forschungsgebiet zu etablieren, siehe dazu: Shteir 1996, 1997.

171 Vgl. dazu Kap. Paradigma der Negativität - Paradigma der Bildlichkeit.

172 Anna Atkins, Photographs of British Algae. Cyanotype Impressions, 1843–53, Teil 1 (Oktober 1843).

173 Vgl. dazu: Dickinson 1996.

174 Vgl. dazu Atkins Widmungen in den an Herschel und Talbot gerichteten Ausgaben: Schaaf 1985, S. 41. Zur viktorianischen Geschenkkultur siehe: Dickinson 1996.

175 Rappoport 2012.

eigenes wissenschaftliches Netzwerk, mit dem sie fortan in regem Austausch stand und von dem sie wertschätzende Anerkennung erhielt.

Aus oben angeführtem Zitat lässt sich zudem ablesen, dass Atkins die Hand-zeichnung durch ein mechanisches Verfahren abzulösen suchte, welches, wie bereits am Naturselbstdruck erörtert, den vermeintlichen Anspruch auf Objektivität und Naturwahrheit gewährleistete. Damit setzte sie die Argumentationslinie Talbots sowie zahlreicher Rezensenten des fotografischen Silbernitratverfahrens fort, die dem Medium Fotogramm aufgrund der direkt von den Pflanzenproben abgenomme-nen Abdrucke Authentizität und Detailtreue zusprachen. In Bezug auf die medialen Vor- und Nachteile photogenischer Zeichnungen vermerkt sie weiter:

„I hope that in general the impressions will be found sharp and well defined, but in some instances / such as the Fuci / the thickness of the specimens renders it impossible to place the glass used in taking Photographs sufficiently close to them to ensure a perfect representation of every plant. Being however unwilling to omit any species to which I had access, I have preferred giving such impres-sions as I could obtain of these thicker objects, to their entire omission […].“176 Mit dieser Aussage wiederum eröffnet sie mehrere Problemfelder, die kurz skizziert werden sollen. Bei den meisten ihrer ganzseitig und blattfüllend arrangierten Algen-pflanzen, welche durch einen mitkopierten, handschriftlichen Vermerk der jeweili-gen Spezies zuordenbar sind, markiert der weiße Abdruck in Fotogrammtechnik nicht nur die gegen den blauen Grund begrenzende Umrisslinie, sondern er lässt zudem feinste Binnendetails sichtbar werden. In botanischer Manier faltete Atkins größere Pflanzenproben, sodass Blattunter- sowie -oberseite visualisiert wurden, positionierte Spezies aufgrund ihrer Größe quer am Bildträger, trocknete Algen-pflanzen auf einer dünnen Schicht transparenten Papiers, das sie mitabdruckte, oder brachte teilweise auch den Wurzelteil zur Abbildung (Abb. 69).177 Darüber hinaus wur-den die Pflanzen mit handschriftlich notiertem lateinischen Namen auf durchsichti-ger Folie ihrem Referenten zugeordnet. In einigen Fällen wählte die Botanikerin zwei oder mehr Algenpflanzen derselben Art aus, die sie in teilweise ornamental anmu-tende Schemata brachte. Die Art und Weise, wie Atkins Algenpflanzen am Blatt arrangierte und abdruckte, weicht damit grundsätzlich nicht von botanischen Dar-stellungskonventionen ab. In einigen Fällen jedoch stand sie vor dem Problem der

176 Atkins 1843 (Teil 1).

177 Eine Abweichung von der botanischen Praxis lässt sich in der fehlenden Markierung des Fundortes bzw. -datums festmachen, wie es in botanischen Handbüchern und Herbarien üblich war. Zudem fehlen Angaben, ob die dargestellte Algenpflanze zur Gänze oder nur ein Teil derselben abgebildet wurde.

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69 Anna Atkins, Alaria esculenta, Cyanotypie, 1844/45, aus dem Album: „Photographs of British Algae. Cyanotype Impressions“, Part XII, New York Public Library.

medialen Abbildungsbeschränkungen des Fotogramms, die sie in oben genanntem Zitat anhand der Pflanzengattung der „Fuci“ anspricht: Voluminöse Spezies konnten nur schwer mit einer Glasplatte fixiert werden, wodurch die botanischen Objekte teils unscharfe photogenische Zeichnungen lieferten. Wie bereits am Beispiel von Talbots Bestrebungen, das Fotogramm für den Bereich der Biologie zu etablieren, auf-gezeigt wurde, entsprach es der botanischen Darstellungskonvention, charakteristi-sche Details aus mehreren Pflanzen zusammenzuführen, entcharakteristi-scheidende Merkmale hervorzuheben und verschiedene Stadien einer Pflanze in eine Abbildung, zumeist eine handgefertigte Zeichnung, zu überführen. Zunehmend wurde ebenfalls Wert auf die Darstellung mikroskopischer Schnitte und auf Farbgebung gelegt.178 Klinger beschreibt diese Illustrationstendenz als „unnatürliche Montage“, die keine „Indivi-dual-“ sondern „Idealporträts“ von Pflanzenarten schuf, indem singuläre Pflanzen aus mehreren Individuen illusioniert wurden. Diese Montagearbeit stellte jedoch eine 178 Siehe dazu Kap. Natur als Bild – Bilder der Natur.

70 Anna Atkins, Codium bursa, Cyanotypie, aus dem Album: „Photographs of British Algae. Cyanotype Impressions“, Part III, New York Public Library.

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konkrete Anforderung an botanische Abbildungen dar, da jene Abbildungen vielmehr als „Modelle“ lesbar sein sollten.179

Mit Hilfe der Technik des Fotogramms ließen sich demgegenüber nur flache, singuläre und damit unter Umständen mangelhafte Spezies abdrucken. Wie bereits am Beispiel des Naturselbstdrucks erläutert, versuchte man diesen Umstand durch Manipulationen an der abzudruckenden Pflanze zu umgehen. Inwieweit auch Atkins Präparationsmaßnahmen in Anspruch nahm, kann am Beispiel der runden, auch Meerball genannten Algenpflanze „Codium bursa“ exemplifiziert werden (Abb. 70). Um einen flächigen Abdruck dieser maritimen Pflanze herzustellen, musste Atkins sie sehr wahrscheinlich pressen und trocknen beziehungsweise eventuell eine Schnittebene

179 Kärin Nickelsen, Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern. Bilder von Pflan-zenarten im 18. Jahrhundert, in: Staffan Müller-Wille (Hg.), Sammeln – Ordnen – Wissen.

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Preprint 215), Berlin 2002, S. 13–30, hier S. 14, 22.

71 Anna Atkins, Lichina confinis, Cyanotypie, aus dem Album: „Photographs of British Algae. Cyano-type Impressions“, Part XII, New York Public Library.

abnehmen, um damit den Druckvorgang überhaupt zu ermöglichen.180 Für erstge-nannte Version spricht die abgebildete Einrissstelle am unteren Ende der ballförmigen Algenpflanze, die womöglich im Zuge der Pressung entstanden ist. Ein weiteres Bei-spiel der photogenischen (Un)-Abbildbarkeit stellt eine Cyanotypie aus dem zwölften Serienteil der Photographs of British Algae dar (Abb. 71). Auf blauem Untergrund finden sich in der Bildmitte circa fünfzehn kleinere, nicht näher definierbare weiße Objekte, welche allein durch die Beschriftung ihrem Referenten, der Algenpflanzengattung der Lichina confinis, zuordenbar sind. Ohne indexikalischen Verweis und somit lediglich als Spuren zu identifizieren geraten jene Darstellungen zu einem formlosen, nicht näher identifizierbaren „Etwas“. Das Fotogramm als Medium einer bildlichen Evidenzproduktion verhilft in diesem Beispiel hingegen zur Beglaubigung des Dar-stellungsgegenstands: Photogenische Zeichnungen werden von den Naturobjekten selbst abgenommen und gelten als wahrheits- und maßstabsgetreue Repräsentation beziehungsweise Ersetzung des Repräsentanten. Als Verfahren der „Nicht-Interven-tion“ garantieren kameralose Fotografien die Objektivität der Darstellung. Das Foto-gramm als Medium ist in seiner Beweisführung insofern tautologisch zu betrachten.

Atkins versuchte daher auch die Möglichkeiten und Grenzen der photogenischen Zeichnung in Cyanotypie auszuloten.

In der Einleitung der Photographs of British Algae erwähnt Atkins William Harveys 1841 erschienenes Standardwerk Manual of British Algae als taxonomisches Referenz-werk dafür, sich grundsätzlich jenes Ordnungssystems zu bedienen beziehungsweise ihren von der Verfügbarkeit des Materials abhängigen Versuch, von diesem Klassifi-kationsschema abzuweichen.181 So schreibt sie:

„I have taken the Tribes and Species in their proper order when I was able to do so, but in many cases I have been compelled to make long gaps, from the want of the plants that should have been next inserted and in this first number, I have intentionally departed from the systematic arrangement that I might give spec-imens of very various characters as a sample.“182

Damit legte Atkins nicht nur einen sehr persönlichen und weniger auf enzyklopä-dische Vollständigkeit ausgelegten Sammelband vor, sondern sie thematisierte auf medialem Wege gleichzeitig die taxonomischen Schwierigkeiten von Ordnungssyste-180 Diese Präparationspraxis entsprach dem botanischen Usus und stellte keinen Widerspruch

zum Argument „von der Natur selbst abgenommen“ dar, siehe dazu: Habel 2010; Klinger 2010.

181 William Harvey, A Manual of British Algae. Containing Generic and Specific Descriptions of

181 William Harvey, A Manual of British Algae. Containing Generic and Specific Descriptions of

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