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Zur Geschichte und Theorie eines Subgenres des Dokumentarfilms

2. Verwendungsweisen von Musik im Dokumentarfilm

Im Jahr 1970 kritisierte Wim Wenders die Darstellung von Musik im Film. Für die Zerstö-rung des musikalischen Erlebnisses durch den Film machte er vor allem die „schnelle Montage der Bilder“, die „Reißschwenks und Zooms“ sowie die ständigen Überblen-dungen verantwortlich.24 Die Entfaltung der Musik als eigene Sprache im Zeitpunkt ihres Entstehens, im Idealfall „live“, werde nach Wenders geopfert zugunsten einer an-deren, der „psychedelisch gewordenen“ Filmsprache. Musik und Film entsprächen sich im modernen Musikfilm demnach keineswegs: „Das Dilemma der Musikfilme besteht also darin, eine Balance zu finden zwischen dem Rhythmus eines Songs oder einer ganzen Performance und der Dynamik ihrer filmischen Darstellung.“25

Im Musikdokumentarfilm wird Musik in mehrfacher Hinsicht zum Gegenstand der Dar-stellung. Musik ist zum einen klanglicher Bestandteil in Form der im Film verwendeten Musik, die in erster Linie aus der betrachteten Musikkultur als Filmmusik hinzugefügt wird. Unter Filmmusik wird dabei die Musik verstanden, die die Gesamtintention des Films unterstützen und zum Erleben des Films beitragen soll.26 Der Bereich der Filmmu-sik ist ein zentrales Thema der gesamten Filmgestaltung. So wird in den meisten ethno-graphischen Musikkulturdokumentationen auf Musik zurückgegriffen, die signifikant mit dieser in Verbindung steht und dadurch entsprechende Assoziationen beim Zuschauer auslöst. Jedoch ist dies nicht immer der Fall, wie etwa im Black Metal-Genrefilm „Until The Lights Take Us“ (2008) über die norwegische Szene, in dem elektronische Klänge mit einer sanften Frauenstimme die frostigen und klirrenden Eislandschaften Norwegens versinnbildlichen, aus denen heraus der Black Metal seine kalte Klangästhetik bezieht.

Ein derart kontrafaktischer Einsatz von Musik im Musikdokumentarfilm kann irritierende Wirkungen beim Betrachter auslösen und dadurch die Filmbilder be- oder hinterfragen bzw. entrücken. Die Musik wird von außen an den Film herangeführt und hat

epistemo-24 Zitiert nach: Bernd Kiefer und Daniel Schössler: (E)motion Pictures. Zwischen Authentizität und Künstlichkeit.

Konzertfilme von Bob Dylan bis Neil Young. In: Bernd Kiefer und Marcus Stiglegger (Hrsg.): Pop & Kino. Von Elvis zu Eminem. Mainz 2004 (Kiefer und Schössler 2004), S. 50-65, hier: S. 50.

25 Ebd., S. 51.

26 Vgl. Anselm C. Kreuzer: Filmmusik in Theorie und Praxis. Konstanz 2009, S. 18.

logische Wirkungen. Ton und Bild werden so gezielt in ein antagonistisches Verhältnis zueinander gestellt. Man spricht dann auch von einer „kognitiven Dissonanz“ in der Filmrezeption.27 Musik wird atmosphärisch-assoziativ. Filmmusik im Musikdokumentar-film, die sich nicht synchron aus der dargestellten Wirklichkeit der innerfilmischen Reali-tät ergibt, wie beispielsweise bei einem Live-Auftritt oder der Darstellung von Proben im Studio, bezeichnet man als „innere Realität“28: Sie entspricht einer Versinnbildlichung von Musik mit stark gestalteter Perspektive, die nicht an alltägliche Wahrnehmungsfor-men gebunden ist. Dazu gehören Zooms, GroßaufnahWahrnehmungsfor-men, Fahrten, Zeitlupe, Vogelper-spektive, die damit das Wesen der Musik zum Ausdruck bringen und sich nicht intra-diegetisch ableiten lässt. Es handelt sich hierbei um eine Form des Musikeinsatzes, die sich nicht aus dem Filmbild selbst ergibt, sondern als Untermalung, als Assoziation, als Stimmung oder Atmosphäre dem Film von außen beigefügt wird. Die „innere Realität“

der dokumentarfilmischen Musik enthebt diese von Raum und Zeit und bricht diesen für die menschliche Wahrnehmung zwingenden Zusammenhang auf.

Musik ist zum anderen visuell-thematischer Gegenstand des Musikdokumentarfilms.

Es handelt sich hierbei um Fragen der Transformation eines klanglichen in ein bildliches Medium. Form- und Gestaltungsfragen von Visualisierungen der Musik sind kunstge-schichtlich notorisch und deren Entsprechung immer wieder diskutiert worden.29 Zwi-schen Musik und Bild besteht demnach eine enge innere Beziehung, die Gattungs-grenzen beider künstlerischer Artikulationsformen werden durch Transmedialisierungen zunehmend aufgelöst.30 So kann Musik symbolisch über Musikinstrumente, etwa die E-Gitarre oder das Mischpult, über bedeutsame Personen und Orte dargestellt wer-den, die unmittelbar zur Erzeugung von Musik, einem spezifischen Genre von Musik gehören. Diese stehen dann stellvertretend für eine Szene, eine Kultur, einen musikhis-torischen Zeitabschnitt oder eine bestimmte Art von Musik. Musik wird damit subjektiv oder gegenständlich im Filmbild verortet. Darüber hinaus gibt es auch andere transfor-mative Sinnentsprechungen der Musikdarstellung, etwa wenn die Schrifteinblendungen auf den Texttafeln in „Slide Guitar Ride“ (2005) den Schwingungen von Gitarrenseiten nachgeahmt werden. Musik kann aber auch als „äußere Realität“ im Filmbild erschei-nen. Dieser Einsatz von Musik entspricht der menschlichen Seh- und Hörerfahrung, die Einheit von Zeit und Raum bleibt erhalten. Es wird mit einem Minimum an film-technischer Gestaltung gearbeitet.31 Es besteht eine synchrone Ton-Bild-Relation wie beispielsweise bei der Darstellung eines Live-Konzerts. Der Einsatz von Musik unter diesem Aspekt ergibt sich gegenständlich aus der filmischen Abbildung und wird nicht aus dem Off an das Filmbild von außen herangeführt.

Während die „äußere Realität“ des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes die Wahrneh-mungsseite des Rezipienten als sinnliches Erkennen und rationales Erfassen berührt, bezieht sich die „innere Realität“ des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes auf die

27 Ebd., S. 20. Zur kognitiven Dissonanz siehe auch Leon Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford 1957.

28 Norbert Jürgen Schneider: Handbuch Filmmusik II. Musik im dokumentarischen Film. München 1989 (Schneider 1989), S. 23 ff.

29 Vgl. Peter Weibel: Von der visuellen Musik zum Musivideo. In: Veruschka Bódy und Peter Weibel (Hrsg.): Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo. Köln 1987 (Weibel 1987), S. 53-164, hier: S. 53.

30 Vgl. Ursula Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik. Bild-Musik-Sprache-Körper. Köln u.a. 2008 (Brandstätter 2008), S. 168 ff.

31 Vgl. Schneider 1989, S. 23.

Erlebnisseite als emotionale Einfärbung des Wahrgenommenen.32 Letztere ist deshalb die ungleich schwerer zu gestaltende Seite des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes:

„Bezüglich der ‚inneren Realität‘ eines Films ist die Musikfrage nur komplex zu beant-worten. ‚Innere Realität‘ ist kein nebuloser [sic!] Freiraum subjektiver Eigenwilligkeiten, wo jede Musikverwendung erlaubt ist (da die kontrollierenden Kriterien für das ‚Innen’

des Filmautors anscheinend fehlen). ‚Innere Realität‘ ist der Ort, an dem mit Nachdruck die Frage nach der Authentizität (der Glaubwürdigkeit, Echtheit) von Musik zu stellen ist“.33 Während also die „äußere Realität“ der Filmmusik an der alltäglichen Wahrneh-mung unseres Gehörsinns orientiert ist und damit realitätsnah ohne Probleme rezipiert werden kann, spricht die „innere Realität“ der Filmmusik unsere Fantasie und unser Assoziationsvermögen an. Musik fungiert in dieser Hinsicht als (kontrapunktisches) Er-kenntnismedium selbst, dessen Erkenntniswert sich erst aus dem Verhältnis zum Inhalt des Filmbildes ergibt.

Schließlich ist Musik neben ihren klanglichen Qualitäten ein sprachlich-diskursives The-ma des Musikdokumentarfilms. Einerseits erfolgt die Diskursivierung auf der visuellen Ebene über die eingesetzten Bilder, andererseits über die narrativen Sprach- und Deu-tungsmuster der Experten. Die Diskurse müssen anschlussfähig an das Vorwissen der Rezipienten gebunden sein, um sie für diesen verstehbar zu machen. In dieser Hinsicht wird Musik zum besprochenen, letztlich rationalisierten Gegenstand. In der dokumen-tarfilmischen Reflexion einzelner Kulturen, Szenen oder Bands werden Interpretationen und Mythen durch Experten festgeschrieben und visuell domestiziert. Diese Experten entscheiden durch die ihnen zuerkannte Authentizität in hohem Maße über Entwick-lungsperspektiven und zeitliche/räumliche Ursprungserlebnisse in Musikkulturen und sie dominieren den herrschenden Diskurs. Insofern wird in derartigen Darstellungen nicht auf die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Musik oder Musik als Sprache rekurriert, wie es die ästhetische Theorie tut,34 sondern rein auf deren begriffliche Wahrnehmung und Rekonstruktion. Kulturgeschichtlich oder szenespezifisch orientierte Musikdoku-mentarfilme mit informativem und aufklärerischem Gehalt unterwerfen dabei ihren Ge-genstand, die Musik, den diskursiv-sprachlichen Ausdeutungsweisen und rauben die-ser dadurch ein Stück weit ihren sinnlichen bzw. auratischen Gehalt: „Die weitgehend automatisierte Wahrnehmung, die auf die begriffliche Identifikation von Gegenständen und Eigenschaften zielt, führt letztlich zum Verschwinden der Welt und ihrer sinnlichen Anschauung. Aufgabe der Kunst ist es, die konventionalisierten Sichtweisen aufzu-brechen und damit die Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmung zu ermöglichen.“35 Während frühere Musikkulturen Wert auf ausgefeilte visuelle Umsetzung innerer surrea-listischer Erlebniswelten legten und damit einen wichtigen Wesenszug von Musikkultu-ren der 1960/70er Jahre aufzeigten, sind heutige Musikerlebniswelten in hohem Maße kommerzialisiert und rationalisiert.36 Dies hat zur Folge, dass kulturgeschichtliche oder ethnographische Musikdokumentarfilme heutzutage über die einzelnen Genregrenzen hinweg nach ähnlichen narrativen Diskursmustern aufbereitet werden, um ein möglichst breites Publikum zu adressieren. Ob nun in „We Call It Techno“ (2008) oder „Heavy

32 Vgl. ebd., S. 28 f.

33 Ebd., S. 28.

34 Vgl. Brandstätter 2008, S. 165 f.

35 Ebd., S. 106.

36 Helmut Voullième: »..and Rock goes Online and CD-ROM – Rockmusik und interactive Medien. In: Dieter Baacke (Hrsg.): Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998, S. 421-438, hier: S. 421 f.

Metal: Louder Than Life“ (2006): Beide Filme arbeiten mit ähnlichen chronologischen Mustern, Experteninterviews, Schnitten und Narrativen der historischen Darstellung.

Beim musikdokumentarischen Film über die Techno-Szene kommt hinzu, dass diese ursprünglich eine bewusst bilderlose Musikkultur verkörperte, die auch die Autorschaft in der Musik negierte. Mittlerweile hat sich aber auch diese Überzeugung offenbar ge-wandelt und neben dem genannten „We Call It Techno“ (2008) eine weitere, rein nar-rative Dokumentation wie „The History of Electronic Music“ (2006) hervorgebracht, die in hohem Maße diese Musikkultur durch Experteninterviews subjektiviert. Im folgenden Abschnitt werden nun die Wurzeln des musikdokumentarischen Filmbildes dargestellt.