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Der Vertrag

Im Dokument Bulgaristik-Symposium Marburg (Seite 93-118)

Wolfgang Gesemann

DER UNIVERSITÄTSPARTNERSCHAFT ZWISCHEN SAARBRÜCKEN UND SOFIA

2. Der Vertrag

Der Vertrag ist ein Rahmenvertrag. E r hat eine Laufzeit von 3 Jahren und verlängert sich automatisch um den gleichen Zeitraum , wenn er nicht ein halbes Jahr vor Ablauf gekündigt wird. Bis zur Stunde gab es weder einen Anlaß noch den Gedanken an eine solche Kündigung.

Die Beziehungen zwischen den beiden Universitäten haben sich nicht nur wissenschaftlich ertragreich, sondern im Geiste lebendiger Freundschaft entwickelt.

Der Rahmenvertrag sieht vor, daß im Umfang von neun Personmo- naten jedes Jahr Professoren und Dozenten in beiden Richtungen ausgetauscht werden; dabei können alle wissenschaftlichen Gebiete, die in beiden Institutionen gelehrt werden, zum Zuge kommen. Bei der Durchführung wird so weitgehend wie möglich eine fachliche Ge- genseitigkeit der Aufenthalte innerhalb eines Jahres angestrebt. Der Vertrag enthält ferner die Fortsetzung des Bulgarischlektorats in Saarbrücken als ständige Einrichtung; nach Dr. R. Zlatanova und (von 1981 bis 1985) Dr. B. Velčeva ist (seit 1985) als dritte Lektorin derzeit Frau Dr. R. Nitzolova in Saarbrücken tätig. Ferner können in jedem Sommersemester zwei bulgarische Studierende (zumeist der Germanistik) in Saarbrücken studieren, während im Gegenzuge bis zu vier Studierende aus Saarbrücken ein Stipendium für den Sommer- sprachkurs in Sofìa erhalten. Schließlich enthält der Rahmenvertrag die Möglichkeit, nach gegenseitiger besonderer Absprache wissen- schaftliche oder kulturelle Sonderprojekte durchzuführen, desglei- chen Exkursionen und den Austausch von wissenschaftlicher Litera- tur oder von technischen Arbeitsmaterialien.

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Es hat sich bewährt, zur konkreten Durchführung der Zusammenar- beit für jedes Kalenderjahr ein Arbeitsprogramm zu fertigen und zu unterzeichnen. Zu diesem Zweck reist gegen Ende jedes Jahres ab- wechslungsweise eine Delegation aus Sofia nach Saarbrücken - oder vice versa. Dieses Procedere verdient gerade im wissenschaftlichen Austausch - einmal abgesehen von längerfristigen Forschungsprojek- ten - den Vorzug vor Abmachungen für größere Zeiträume. Da der ungefähre Rahmen der Zusammenarbeit stets der gleiche bleibt, läßt sich in finanzieller Hinsicht trotzdem längerfristig planen.

3. Verwirklichung

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D er nachstehende Überblick bezieht sich auf die abgeschlossenen sechs Jahre offizieller Kooperation, also den Zeitraum von 1980 bis

1986. In diesen sechs Jahren haben seitens der Universität Sofia 65 Professoren und Dozenten für die D auer von zwischen einem halben Monat und drei Monaten in Saarbrücken geweilt, umgekehrt 50 Pro- fessoren und Dozenten aus Saarbrücken in Sofia. (Hierbei sind Mehr- fachaufenthalte derselben Personen zusammengerechnet.) Darüber hinaus haben 14 Studierende der Germanisitk (Linguisten und Lite- raturwissenschaftler) je ein Sommersemester (3 Monate) in Saar- brücken verbracht und dabei in der Regel ihre Diplomarbeiten ent- weder fertiggestellt oder der Fertigstellung zugeführt; im Gegenzuge waren 25 Saarbrücker Studierende je für einen Monat zum Sprach- kurs in Bulgarien, zumeist in Sofia, einige auch in VelikoTärnovo. In dieser Statistik sind die Personen nicht enthalten, die an Sonderunter- nehmungen (s.u.) teilgenommen haben, ebensowenig die offiziellen Delegationen.

Interessant für die Schwerpunkte der bisherigen wissenschaftlichen Kooperation ist die Statistik der Besuche in fachlicher Hinsicht, wo- bei hier jeweils der Austausch in beiden Richtungen gezählt ist. Es fanden statt:

In der Archäologie/Vor- und Frühgeschichte 23 Aufenthalte, in der Germanistik 22, in der Slavistik 17, in der Ökologie ebenfalls 17, in der Geschichte 9, in der Biologie 6, in den Wirtschaftswissenschaften 5, in der Mathematik 4, in den Fächern Romanistik, Chemie, Physiologie und Vergleichende Literaturwissenschaft je 2 Aufenthalte, in den Fä- ehern Indogermanistik, Zoologie, Sportwissenschaft und Geogra- phie je 1 Aufenthalt.

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Daraus läßt sich schließen, daß es vor allem in den wissenschaftlichen Bereichen mit hoher Aufenthaltszahl zu projektbezogener Koopera- tion kommt: Neben der gemeinsamen archäologischen Ausgrabung in Drama (s. u.) sind vor allem folgende Publikationen entw eder schon gedruckt, im Druck oder in der Vorbereitung: Ein Sammel- werk über Deutsch-Bulgarische Kulturbeziehungen zwischen 1878 und 1918; ein Sammelwerk zur Vergleichenden Landeskunde, eine Publikation über die Bedeutung der m ittleren und kleineren Wirt- schaftsbetriebe für die Wirtschaft des Landes, ferner Veröffentlich- ungen zur Stilistik und Pragmatik der Sprache sowie zu ökologischen Problemen in den beiden Ländern.

U nter den besonderen Veranstaltungen möchte ich - eher stichwort- artig - die folgenden hervorheben:

• 6. - 8.5.1981: Im Rahmen der Tage der Bulgarischen Kultur im Saarland (mit Ausstellungen, Filmen, Konzerten u .a.) findet ein wissenschaftliches Symposion statt zum Thema: ”Bedingungen und Aspekte der Reichsgründung von 681“, an dem zehn Referen- ten, je fünf aus jedem Partnerland Vorträge halten.

• 23.5. - 3.6.1981: Am I. Internationalen Bulgaristik-Kongreß in Sofia nehmen mit Vorträgen aus Saarbrücken teil: Professor Dr.

W. Gesemann, Dr. G. Michel und M agister M. Schließke; parallel weilen Präsident Müller und ich bei den offiziellen Universitätsfei- em aus Anlaß der 1300-Jahrfeier Bulgariens in Sofia.

• Im Frühjahr 1982 kommt es zu ersten Gesprächen über eine mögli- che gemeinsame archäologische Ausgrabung, im H erbst 1982 zur Geländeerkundung und Wahl eines Siedlungshügels bei Drama Bez. Jambol; für die erste bulgarisch-deutsche Ausgrabung in der Geschichte zeichnen von bulgarischer Seite Professor D r. A. Fol und Dr. Katinčarov, von deutscher Seite die Professoren R. Hach- mann und J. Lichardus verantwortlich; im Spätjahr 1983 findet die erste Grabungskampagne statt, die zu hervorragenden Entdeckun- gen führt; seither findet jedes Jahr eine weitere Kampagne statt. An ihr nehmen neben den wissenschaftlichen Leitern auch andere Fach- gelehrte teil, die sich mit ökoarchäologischen Aspekten der Ausgra- bung befassen, ferner stets zwischen 15 und 20 Studierende der Saar- brücker Universität und viele weitere Helfer und Helferinnen aus dem Dorf Drama und seiner Umgebung. Bulgarien hat die ehema- lige Dorfschule für die Ausgräber als Basis um gebaut. Für 1988 ist 82

eine erste Ausstellung der Funde in Saarbrücken geplant. Zur Vorbereitung weilten (1987) der Bürgermeister von Drama und der Leiter des Archäologischen Regionalmuseums von Jam bol in Saarbrücken.

• 11. - 14.12.1984: Wissenschaftliches Symposion zum Thema:

”Pferd und Wagen in der vorrömischen Eisenzeit Europas“ in Ot- zenhausen/Saar unter der Leitung von Professor R. Hachmann mit vier R eferenten aus Sofia, daneben Referenten aus vier weiteren Ländern.

• 17. - 22.12.1984: Konzertreise des Chors für Alte Musik der Uni- versität Sofia ins Saarland (Leitung Tania Christova und Georgi Gerganov) mit Konzerten in Welschbach, Saarbrücken, Mettlach und Zweibrücken.

• 2 5 .-3 0 .3 .1 9 8 5 : Wissenschaftliches Symposion zur Vorbereitung des Projekts: ”Bulgarisch-Deutsche Kulturbeziehungen von 1878 bis 1918“ im Haus Scheidberg/Wallerfangen mit acht Referenten aus Sofia und elf Referenten aus der Bundesrepublik und ö s te r- reich unter der Leitung der Professoren G. Markov und W. Gese- mann.

• 8. - 14.4.1985: Konzertreise des Kammerchors der Universität Saarbrücken unter Leitung von Professor W. Müller-Blattau mit Konzerten in Sofìa, Plovdiv und Jambol.

• 4. - 7.10.1986: Konzertreise des Kammerchors der Musikhoch- schule Plovdiv unter Leitung von Professor G. Kanev und K. Ce- tinjan ins Saarland und Konzert in Saarbrücken.

• 8. - 30.9.1986: Biogeographisch-ökologische Exkursion unter Leitung von Dozent Dr. P. Nagel mit 16 Studierenden ins Sofioter Becken und nach Südost-Bulgarien zur Mitarbeit bei der Drama- Ausgrabung.

• 22. - 26.11.1986: Mitwirkung an der Deutschen Kulturwoche in Sofia durch ein Germanistik-Symposion in der Universität mit drei Referenten (Professoren K. Richter, G. Sauder, G. Schmidt-Hen- kel) aus Saarbrücken.

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4 . A usblick und W erten^

Auch das laufende Jahr (1987) brachte und bringt die Fortführung der Zusamm enarbeit im üblichen Umfang der bisherigen Jahre; es läuft die fünfte Kampagne der Drama-Ausgrabung; auch ein w eiterer Konzertbesuch des Kammerchors der Musikhochschule Plovdiv hat stattgefunden, während leider der Besuch der Ragtime-Band der Universität Sofia in Saarbrücken abgesagt wurde. Erfreulich ist - als neueste Entwicklungen - daß ein Deutschlektorat mit Saarbrücker Besetzung in Sofia eingerichtet werden soll, ferner daß die Universi- tat Sofia Saarbrücken fünf Stipendien für Studierende mit einer D auer von je einem Jahr (oder alternative Nutzung der Gesamtzeit) zur Ver- fügung stellt. Was hingegen verstärkt ins Programm aufgenommen werden müßte, wäre der Austausch auch von Nachwuchswissen- schaftlern zum Zwecke der Weiterqualifikation.

Im Zusammenhang erscheint auch ein kurzer Blick auf die finanzielle Seite der Kooperation angebracht, wobei ich nur über die Saarbrücker Zahlen Aussagen machen kann. Danach haben wir in das U ntem eh- men der Zusammenarbeit mit Sofia zwischen 1980 und 1986 etwa DM 800.000,- investiert, wobei in den letzten drei Jahren (1984 bis 1986) unser Einsatz sich jeweils auf etwa DM 170.000,- beläuft. Vom Ge- samtbetrag wurden seitens der Universität Saarbrücken etwa 300.000,-, seitens des D A A D etwa DM 200.000,- aufgebracht; die restlichen DM 300.000,-stammen aus Drittm itteln, ohne die ein der- artiges Unternehmen heute nicht mehr in diesem Umfang (oder über- haupt) durchgeführt werden könnte.

Als Fazit läßt sich sagen, daß wir - nicht zuletzt ich selbst - die Zusam- m enarbeit mit Sofia - vielleicht gerade wegen der damit verbundenen Mühen - noch keinen Augenblick bereut haben. Neben dem wichti- gen wissenschaftlichen Ertrag, der ein Stück Bewährung und Ent- wicklung der für die Zukunft unabdingbar notwendigen Internationa- lität der Wissenschaft darstellt, haben sich insbesondere auch viele freundschaftliche menschliche Beziehungen zwischen den beiden Partnern ergeben, auf die keine Seite mehr verzichten will. So kann man der Kooperation der beiden Universitäten Sofia und Saarbrük- ken nur wünschen: ad multos annos!

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W olfgang K essler

HISTORISCHE BULGARISTIK

IN D ER BU N D ESREPU BLIK DEUTSCHLAND

1. Abgrenzung

Wenn man über Bulgaristik spricht, denkt man in der Bundesrepublik Deutschland, dem deutschen Wissenschaftsverständnis entspre- chend, zunächst einmal an Literatur- und Sprachwissenschaft, viel- leicht noch an Volkskunde, nicht aber an historische Forschung. Die Slavistik ist hier ausschließlich philologisch orientiert, nicht aber der

”Komplex wissenschaftlicher Disziplinen“ , als den sie die sowjetische und der größere Teil der osteuropäischen Forschung versteht1. Als hi- storische Bulgaristik bezeichnen wir hier die Forschungen zur Ge- schichte des bulgarischen Volkes und Bulgariens, organisatorisch also den Teil der Geschichtswissenschaften, der sich innerhalb des enge- ren Fachgebietes der Osteuropäischen oder - an wenigen Hochschul- Standorten - der Südosteuropäischen Geschichte2 mit bulgarischen Fragen beschäftigt. Damit gehört sie zugleich in den regionalen For- schungskomplex der Südosteuropaforschung, die - wesentlich stär- ker als die übrige Osteuropaforschung - über einen durch das regio- naie Forschungsinteresse bestimmten eigenen institutioneilen Zu- sammenhang verfügt3.

Historische Bulgaristik ist ein Teilgebiet der Geschichte Südosteuro- pas, die - trotz aller programmatischer Äußerungen4 - bis heute nicht so recht institutionalisiert ist, wozu sicherlich die Skepsis der übrigen H istoriker gegenüber institutionalisierten Regionalisierungen inner- halb des Faches ”Geschichte“ beigetragen hat. Dabei ist selbst ein Fach wie Geschichte Südosteuropas, das nach dem herrschenden deutschen Verständnis den Raum des historischen Ungarn und die bis ins 18./19. Jahrhundert vom Osmanischen Bereich beherrschten Ge- biete des europäischen Südostens (einschließlich der rumänischen G ebiete) umfaßt, in seiner Gesamtheit eigentlich ”unvertretbar“,5 kann doch niemand auch nur andeutungsweise die gesamte Fülle der historischen Forschungen in Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Bui- garien, Griechenland, Albanien und - mit Einschränkungen - der Türkei verfolgen. Im Unterschied zur historischen Forschung der

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zelnen südosteuropäischen Länder hat die Geschichte Südosteuropas den G esam traum im Auge, verfolgt historische Erscheinungen und Entwicklungen vergleichend oder systematisch aus der europäischen Perspektive, ergänzt also im Idealfall die Forschungen zu den einzel- nen Staats- oder Nationalgeschichten und stellt zugleich deren Ergeb- nisse in einen größeren historischen Zusammenhang.

Es ist hier nicht der O rt, eine kritische Bestandsaufnahme dieser For- schung bezüglich Bulgariens zu versuchen. Es können nur Grundzüge skizziert werden, was umso leichter ist, als Emanuel Turczynski vor vierzehn Jahren bereits einen Überblick gegeben h at.6 Nicht unbe- rechtigt scheint allerdings der Versuch, einmal den Bedingungsrah- men von Forschungen zur bulgarischen Geschichte in der Bundesre- publik Deutschland zu skizzieren, wobei wir die Zeitgeschichte seit 1945, die - mit prim är aktuellem Bezug - vor allem von den Zeit- Schriften Südosteuropa (herausgegeben vom Südost-Institut, Mün- chen) und Osteuropa (herausgegeben von der Deutschen Gesell- schaft für O steuropakunde, Berlin) verfolgt wird, ebenso außer acht lassen wie A rbeiten zur Ur- und Frühgeschichte sowie zur klassischen A ntike, dem Arbeitsgebiet der Alten Geschichte.7

II. Voraussetzungen

Das Interesse an Bulgarien beginnt in der deutschen Wissenschaft be- reits im 18. Jahrundert.8 Im 19. Jahrhundert verschieben sich politi- sehe Perspektive und Erkenntnisinteresse.9 Mit der Unabhängigkeit Bulgariens wird der neue Staat Gegenstand des aktuellen politischen Interesses, Gegenstand historischer Forschung im engeren Sinne, d.h. außerhalb slavistischer und byzantinistischer Interessen, wird er im Deutschen Reich noch lange nicht. Die historische Südosteuropa- forschung hatte - abgesehen von der Byzantinistik und der Osmani- stik - bei Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Schwerpunkte außer- halb des G ebiets der Bundesrepublik Deutschland. Einzig das 1930 gegründete M ünchener Südost-Institut10 hätte einen gewissen organi- satorischen Rahm en bieten können, doch blieb seine Ausrichtung un- ter der Leitung von Frits Valjavec ( t 1959) weitgehend auf das histori- sehe Ungarn konzentriert.

Das Bulgarieninteresse der deutschen Öffentlichkeit wurde - ähnlich wie das Südslaveninteresse generell11 - an bestimmten historischen

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Knotenpunkten wie dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 oder den Balkankriegen12 immer wieder aktualisiert. In Zeiten des politi- sehen und insbesondere des militärischen Bündnisses zwischen dem Deutschen Reich und Bulgarien entstanden neben Reiseberichten zahlreiche geographische, ethnographische und philologische For- schungen (z.B. aus der Schule Gustav Weigands)13. Die deutsche Balkangeographie profitierte geradezu vom Ersten Weltkrieg: ”Die Erforschung der Balkanhalbinsel ist in den drei Jahren 1916-18 mehr gefördert worden als in Jahrzehnten vorher. Mochten die Studien in Serbien und Bulgarien nur wirtschaftlichen Interessen oder Spezial- fragen gewidmet sein“, in anderen, weniger erforschten Landschaf- ten waren Grundlagenforschungen möglich14. Es entstand eine reiche Publizistik,15 die zwar einerseits Propaganda war, andererseits aber auch zum gegenseitigen Wissen beigetragen hat16. Die historische Forschung im engeren Sinne über Bulgarien fand jedoch - die weni- gen Dissertationen insbesondere bulgarischer Studenten17 spielten hierbei keine Rolle - außerhalb der Reichsgrenzen, in Wien, statt, wo Konstantin Jireček die Grundlagen der modernen bulgarischen Ge- schichtsforschung legte18 und später Alois Hajek in ihrer Wirkung wichtige Bücher über die bulgarische Geschichte schrieb.18

Wenn wir von der Ur- und Frühgeschichte sowie der antiken Periode der Geschichte des bulgarischen Raumes absehen, ist sonst mit Aus- nähme weniger Dissertationen19 kaum ein historischer Buchtitel eines deutschsprachigen Verfassers zu nennen, der wissenschaftlich genannt werden dürfte. Die Bulgarienforschung unter der national- sozialistischen Herrschaft bedürfte insgesamt einer eingehenderen Analyse.20

ІП. Die Entwicklung seit 1945

Nach 1945 sind es zum einen Arbeiten aus dem Umfeld der Byzantini- stik, die Aspekte der mittelalterlichen Geschichte Bulgariens be- leuchten,21 zum anderen Untersuchungen zur bulgarischen Geschieh- te vor allem seit der Wiedererrichtung des bulgarischen Staates 1878.

Die Studie Joachim von Königslöws über Fürst Ferdinand von Bulga- rien setzt eine Reihe älterer, eher publizistischer, Arbeiten über den

”deutschen“ Herrscher auf Bulgariens Königsthron fort.22 Roland Schalters Frankfurter Dissertation untersucht die bulgarische Politik 1878-1887 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des deutschen

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Reiches.23 In die Zeit vor 1878 greift die im Rahmen eines in Berlin unter Leitung von N orbert Reiter geführten Forschungsprojekts ent- standene Bestandsaufnahme über die wichtigsten kulturellen Aspek- te der bulgarischen Nationalbewegung von Radina Springbom zu- rück,24 die ihrer Orientierung nach doch eher slavistisch zu nennen ist, auch wenn Kultur und Politik in der Periode der ”nationalen Wie- dergeburt“ kaum zu trennen sind.

In den siebziger Jahren sind - nach der Entspannung der politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Bulgarien - einige wichtige Dissertationen in Angriff genommen worden. Wolfgang-Uwe Friedrich hat ”Bulgarien und die Mächte 1913-1915“25 analysiert, Hans-Joachim Hoppe die bui- garisch-deutschen Beziehungen unter nationalsozialistischen Vor- Zeichen untersucht,26 die erste Monographie zur jüngeren Geschieh- te nach Helmut Heibers Aufsatz über den Tod des Zaren Boris27 und einigen einschlägigen Beiträgen von Wolf Oschlies (s.u.). Stefan Troebst, der vor allem in den Südost-Forschungen regelmäßig die neuere Literatur seines weiteren Arbeitsgebietes eingehend rezen- siert, hat sich systematisch mit der Rolle der IM RO befaßt.28 Z ur ma- zedonischen Frage vor dem Ersten Weltkrieg liegen - wenn auch nicht aus der bulgarischen Perspektive und mit unterschiedlichem Ni- veau - drei neuere Dissertationen vor, wobei die A rbeit Fikret Ada- nirs in der deutschen Kritik eindeutig als die grundlegende angese- hen wird.29 Die Auseinandersetzungen zwischen Serbien bzw. dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und Bulgarien um Mazedonien stehen auch im Mittelpunkt der - nicht unbedingt über- zeugenden - M ünchener Disssertation Roswitha Bauers über den deutschen sozialdemokratischen Politiker und Südosteuropapublizi- sten H erm ann W endel.30 Für den außenstehenden Historiker, der von ihm fremden und im Grunde fernstehenden Konflikten leicht so verwirrt wird, daß er die Problematik meidet, ist Stefan Troebsts Analyse der bulgarisch-jugoslawischen Historikerkontroverse um Ma- zedonien erhellend,31 die im Rahmen eines von der Stiftung Volkswa- genwerk geförderten Projekts ”Die Interdependenz von Historiogra- phie und Politik in O steuropa“ unter der Leitung von Professor Dr.

G ünther Stökl (Köln) entstanden ist, dessen Umfeld auch Hans-Joa- chim Hoppes Darstellung der bulgarischen Geschichtswissenschaft ent- stam m t.32 Zwei Dissertationen zu bulgarischen Themen waren nach

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den Angaben des Jahrbuchs der historischen Forschung 1984 in Ar- beit.33

Es fällt auf, daß entweder - wie bei Friedrich, Hoppe und zum Teil bei Troebst - von vorhandenen Aktenbeständen zur deutschen auswärti- gen Politik ausgegangen wird, oder aber ein klassisches Konfliktfeld der europäischen Geschichte untersucht wird.34 Die G eneration der zuletzt vorgestellten Autoren, die in gar keiner Kontinuität mehr zur instrumentalisierten Südosteuropaforschung der Jahre 1933-1945 zu sehen ist,35 hat sich diese Themen aus eigenem Interesse gewählt, und es ist bezeichnend für die derzeitige Situation, daß die innovativen Ansätze für die historische Bulgaristik in Disserationen und nicht in staatlich oder öffentlich geförderten Forschungsprojekten zu finden sind. Es ist privates, nicht staatliches oder politisches Interesse, das die Autoren motiviert.

Was sonst zu nenen wäre, sind Gelegenheitsarbeiten wie Tagungsbei- träge usw. So sind es vor allem Slavisten, die über eher kulturhistori- sehe Themen schreiben, gelegentlich Wolfgang Gesemann36 und häu- figer Horst Rohling,37 der allerdings hauptberuflich Bibliothekar ist und für seine Forschungen nur seine Freizeit zur Verfügung hat. Eher aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht hat Theodor Zotschew auch historische Daten zusammengetragen.38 Ein Pädagoge wie der un- wahrscheinlich schreibaktive Wolf Oschlies,34 dessen publizistischen Aktivitäten wir auch ein Lehrbuch der makedonischen Sprache40 ver- danken, hat gelegentlich historische Themen behandelt.41 Die Volks- kunde hat im Rahmen eines von Klaus und Juliane Roth an der Mün- chener Universität geleiteten Forschungsprojekts vielleicht am Ran- de der Historie das Wesentlichste geleistet.42

Daneben sind es Jubiläen, die auch an Bulgarien denken lassen, bei denen dann der bulgarische Part von bulgarischen Historikern über- nommen wird, so etwa das Hundertjahrgedenken des Berliner Kon- gresses von 1878.43 Die Europäische Bibliographie zur Osteuropafor- schung, von der zuletzt der 8. Band für das Berichtsjahr 1982 herausge- kommen ist, verzeichnet vollkommen realistisch für die deutschspra- chigen Veröffentlichungen zur Geschichte Bulgariens mehrheitlich die Namen bulgarischer Historiker, und auch die Mitteilungen des Bui- garischen Forschungsinstituts in Österreich, dieses wichtige bulgari- stische Organ, hat nur ausnahmsweise für die neuere Geschichte Mit­

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arbeiter aus der Bundesrepublik Deutschland, selbstverständlich aus dem Kreis der schon genannten.

VI. ForsdMBgHttuüo•

H at die literatur- und sprachwissenschaftliche Bulgaristik in der als eigenes Hochschulfach weitaus stärker als die - nur als historisches Teilfach bestehende - Geschichte Ost- und Südosteuropas etablierten Slavistik einen institutionalisierten Rahm en, der zumindest eine ge- wisse Q uantität an Forschung sicherstellt, so bleibt die historische Bulgaristik völlig am Rande des historischen Randfaches Osteuropäi- sehe Geschichte, das - nehmen wir die Forschungsschwerpunkte der Hochschullehrer - sich immer mehr auf eine Geschichte Rußlands und der Sowjetunion reduziert.

Die Beschäftigung mit bulgarischen Themen entspringt dabei keiner übergeordneten ausgleichenden oder steuernden Wissenschaftspla- nung, sondern einzig dem persönlichen Interesse des einzelnen Histo- rikers. Die Konzeption der südosteuropäischen Geschichte als Gan- zes, die die Mehrheit der Südosteuropahistoriker in der Bundesrepu- blik Deutschland vertritt, kann freilich nur durchgehalten werden, wenn die einzelnationale bzw. einzelstaatliche Forschung ausrei-

Die Beschäftigung mit bulgarischen Themen entspringt dabei keiner übergeordneten ausgleichenden oder steuernden Wissenschaftspla- nung, sondern einzig dem persönlichen Interesse des einzelnen Histo- rikers. Die Konzeption der südosteuropäischen Geschichte als Gan- zes, die die Mehrheit der Südosteuropahistoriker in der Bundesrepu- blik Deutschland vertritt, kann freilich nur durchgehalten werden, wenn die einzelnationale bzw. einzelstaatliche Forschung ausrei-

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