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1. Einleitung

1.2 Verlaufsformen der MS

Ein besonderes Merkmal der MS ist, dass ihre Verlaufsform eine große Vielseitigkeit aufweist (Bitsch und Brück 2002). Bei der „malignen“ MS sind die Patienten von Beginn an von motorischen und sensorischen Beeinträchtigungen geplagt, während die an der „benignen“ Form Erkrankten oft nicht einmal bemerken, dass eine MS vorliegt (Pittock et al. 2004).

Seit 1995 sind von der Nationalen MS-Gesellschaft der USA (NMSS) die Verlaufsformen festgelegt worden (Lublin et al.1996a). Eine Zuordnung zu diesen Verlaufsformen über eine MRT-Untersuchung (McDonald Kriterien) ist jedoch nicht möglich (Chen et al. 2007). Verschiedene biologische oder genetische Marker zu definieren, ist Inhalt der aktuellen MS-Forschung (Zuvich et al. 2009).

Bei den Verlaufsformen handelt es sich um

1. den rezidivierend-remittierenden Verlauf (RRMS), 2. den primär progredienten Verlauf (PPMS),

3. den sekundär progredienten Verlauf (SPMS).

1.2.1 Der rezidivierend-remittierende Verlauf (RRMS)

Die RRMS ist gekennzeichnet durch ein wiederholtes Auftreten von Schüben. Ein Schub ist eine kurze Episode neurologischer Fehlfunktionen, die:

- mindestens 24 Stunden anhält,

- mit einem Zeitintervall von ≥ 30 Tagen zum Beginn vorausgegangener Schübe auftritt,

- nicht durch Änderungen der Körpertemperatur (Uhthoff-Phänomen) oder im Rahmen von Infektionen erklärbar ist,

- sich in der Regel vollständig zurückbildet, oder nur geringe Symptome zurücklässt, die sich jedoch nicht weiter verschlechtern (Chan et al. 2008).

Zurückbilden bedeutet in diesem Fall, dass die Integrität der Bluthirnschranke wieder hergestellt wird, der Entzündungsprozess nachlässt, und die Schäden der Myelinscheiden vom Körper repariert werden (Zajicek 2005). Wenn neu aufgetretene Beschwerden über 6 Monate persistieren, sinkt die Rückbildungswahrscheinlichkeit auf unter 5 % (Ellison et al. 1994).

Bei den Symptomen handelt es sich um sensorische und motorische Beschwerden.

Die Schübe können Tage und Wochen, aber auch bis zu Monaten andauern. Wird die Krankheit nicht behandelt, liegt die initiale Schubrate bei ca. 1,8 pro Jahr, in den Folgejahren nimmt sie kontinuierlich ab (Tremlett et al. 2008).

Die schubförmige Verlaufsform ist die häufigste und tritt bei 85% aller Patienten auf.

Ein großer Anteil dieser Patienten entwickelt jedoch in einem Zeitraum von ca. 10 bis

15 Jahren einen sekundär progredienten Krankheitsverlauf (s.u.) (Weinshenker et al.

1989).

1.2.2 Der primär progrediente Verlauf (PPMS)

Rund 15% aller MS-Patienten leiden unter der primär progredienten Verlaufsform (PPMS). Es treten hier keine Schübe auf, sondern die Patienten zeigen von Beginn an eine Vielfalt an neurologischen Symptomen, die nur leichten Schwankungen unterliegen und sich durch eine graduelle Verschlechterung auszeichnen. Eine häufige Symptomatik sind spastische Lähmungserscheinungen der Extremitäten (80% der Patienten mit PPMS). 15% zeigen Ataxie und Koordinationsschwierigkeiten, ferner treten sensorische und motorische Einschränkungen sowie Fatigue, Schmerzen und Blasenbeschwerden auf.

Pathohistologisch ist auch für diese Verlaufsformen ein Verlust der Myelinscheiden vorzufinden. Die Reparaturfähigkeit in Form von partieller Remyelinisierung erweist sich in diesen Fällen jedoch deutlich eingeschränkter als bei anderen Verlaufsformen.

Die genaue Pathogenese ist unbekannt, erwiesen ist bei 90% eine erhöhte intrathekale Synthese von IgG-Antikörpern, Autoantikörpern und das Vorkommen oligoklonaler Zellpopulationen im Liquor (Messmer Uccelli 2009).

MRT-Untersuchungen weisen weniger Gadolinium-anreichernde Läsionen auf. Die Diagnose lässt sich nicht allein aufgrund eines MRT-Befundes stellen, sondern nur in Zusammenhang mit der individuellen Krankengeschichte des einzelnen Patienten und einem Bestehen der Symptome über einen Zeitraum von einem Jahr. Das Auftreten oligoklonaler Banden im Liquor muss nicht zwingend in jedem Einzelfall vorliegen.

Für die unterschiedlichen Behandlungsmethoden (s.h. 1.3, S.11) liegt die Zielsetzung in der Verzögerung der Progression und der damit verbundenen Erhöhung der Lebensqualität der Patienten.

1.2.3 Der sekundär progrediente Verlauf (SPMS)

Besteht zu Beginn der Erkrankung eine schubförmige Verlaufsform der MS (RRMS), die nach längerer Dauer in eine schleichende Form übergeht, liegt die so genannte sekundär progrediente Form (SPMS) vor. Nach 5 Jahren Krankheitsverlauf tritt dies bei ca. 10 %, nach 10 Jahren bei 25% und nach 30 Jahren bei 75% der Patienten mit RRMS auf (Messmer Uccelli 2009). Gemittelt erfolgt der Übergang nach zehnjähriger Krankengeschichte. Je jünger der Patient zum Zeitpunkt der Primärmanifestation ist, desto länger dauert es, bis das SP-Stadium erreicht wird. Eine hohe Anzahl von Schüben innerhalb der ersten beiden Krankheitsjahre ist oft mit rascherer Progredienz verbunden (Weinshenker 1998; Lublin et al. 2003).

Der Übergang von der RRMS in die SPMS kann zur Zeit noch durch keinen immunologischen Marker angezeigt werden. Zur Diagnosesicherung hat daher die individuelle Krankengeschichte eine besondere Bedeutung.

1.2.4 Das klinisch isolierte Syndrom (CIS)

Das erste klinische Ereignis (Schub), das auf eine MS hinweist, nennt man Clinically Isolated Syndrom (CIS).

Bei 46% der CIS-Fälle treten Läsionen im Rückenmark auf, die meist zu sensorischen Symptomen führen. Bei 21% ist der Sehnerv betroffen. Bei 23% treten multifokale Symptome auf, die auch den Hirnstamm und die Hirnhemisphären betreffen können. 80% der Menschen mit einem auffälligen MRT entwickelten nach 20 Jahren eine klinisch bestätigte MS (Messmer Uccelli 2009). Je mehr Läsionen die Tomographie zeigt, desto größer ist diese Wahrscheinlichkeit und ebenfalls das Risiko, eine frühe Phase der sekundären Progression zu erreichen.

Um Differentialdiagnosen auszuschließen, gehört nach aufgetretenem CIS eine Liquoruntersuchung zum heutigen Standard. Das Auftreten oligoklonaler Banden zeigte hierbei eine Sensitivität von 91%.

Eine Behandlung wird bereits in diesem Vorlaufstadium der MS empfohlen (Jacobs et al. 2000; Comi et al. 2001).

1.2.5 Der Expanded Disability Status Scale (EDSS)

Der Schweregrad der jeweiligen MS-Form lässt sich definieren nach dem Expanded Disability Status Scale, kurz EDSS, der den Grad der Behinderung eines Patienten klassifiziert. Die Einstufung des Patienten erfolgt nach Untersuchung folgender Funktionssysteme des zentralen Nervensystems:

- Pyramidenbahn: Motorik und Willkürbewegungen (zum Beispiel Lähmungen) - Kleinhirn: Bewegungskoordination und Gleichgewicht (Ataxie, Tremor, …)

- Hirnstamm: Funktionen wie Augenbewegungen, Gefühl und Motorik des Gesichts, Schlucken (Sprachstörungen,…)

- Sensibilität (eingeschränkter Berührungssinn) - Blasen- und Mastdarmfunktionen

- Sehfunktion (eingeschränktes Gesichtsfeld)

- zerebrale Funktionen: Gedächtnis, Konzentration, Stimmung (Wesensveränderung, Demenz)

- andere Funktionen (bisher nicht genannte Befunde, die mit der MS zusammenhängen, zum Beispiel Schmerzen oder Einschränkungen des kardiovaskulären Systems) (Kurtzke 1983).

Der Untersucher stuft den Patienten für das jeweilige Funktionssystem in eine Graduierung von 0= normal bis 5= völliger Funktionsverlust ein. Die so ermittelten Werte werden kombiniert mit einer „Bewertung für Mobilität und Einschränkungen im täglichen Leben“ und schließlich der EDSS-Skala zugeordnet. Hier bedeutet 0=

„keine neurologischen Defizite“ und 10= „Tod infolge Multipler Sklerose“. Ab Punkt 4 werden die Mobilitätsdefizite mit einbezogen, ab Punkt 7 der Grad der Pflegenotwendigkeit des Patienten (Zajicek 2005). Die Skala ist seit 1983 ein Maßstab, um Veränderungen im Krankheitsverlauf abzubilden, Therapieentscheidungen adäquat treffen zu können und einheitliche Standards für Studien zu schaffen (Kurtzke 1983). Jedoch ist neben anderen Faktoren in Ermangelung zu stellen, dass konjunktive Fähigkeiten und die Beurteilung der Lebensqualität hier nicht einbezogen werden und die Skala sehr

„erbarmungslos“ berechnet wird (Zajicek 2005).