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2.9 Das Konzept der „Flüssigkeit“

2.9.3 Nonverbale Flüssigkeitsaufgaben

Ein gutes Abschneiden bei den verbalen Flüssigkeitstests ist, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, abhängig von der Funktionsfähigkeit der linken Hemisphäre. Jones-Gotman und Milner (1977) versuchten einen Test zu entwickeln, der analog zu Thurstone’s Word Fluency Test die flüssige Produktivität erfassen kann, dabei jedoch den sprachlichen Faktor ausklammert. Dieser nonverbale Test, den sie „Design Fluency“ nannten, erforderte hauptsächliche die Verarbeitung visueller Reize, und würde damit voraussichtlich eher von der rechten, nicht-dominanten Hemisphäre abhängig sein.

In ihrer Studie untersuchten Jones-Gotman und Milner 100 Patienten mit Hirnschädigungen (fast alle Patienten unterzogen sich einer unilateralen Hirnoperation aufgrund von Epilepsie) und weitere 34 Patienten (ohne Hirnschädigungen) als Kontrollpersonen. Unter ihnen waren 13 linkshändige Personen mit linkshemisphärischer Sprachrepräsentation. Patienten, deren Sprachzentrum teilweise oder ganz in der rechten Gehirnhälfte repräsentiert ist, wurden von der Untersuchung ausgeschlossen. Der Nachweis erfolgte über den „Sodium-Amytal-Test“.

Es wurde die Fähigkeit überprüft, in einem vorgegebenen Zeitlimit möglichst viele abstrakte (bedeutungslose) Muster („designs“) zu produzieren. In der ersten Aufgabe (free condition) konnten die Versuchspersonen innerhalb von fünf Minuten alles zeichnen, was ihnen einfiel.

Voraussetzung war, daß die Zeichnungen weder reale Objekte oder Abwandlungen davon darstellten, noch durften sie in irgendeiner Form benennbar sein, wie zum Beispiel einzelne Kreise oder andere geometrische Figuren. Gekritzel („scribble“) war ebenfalls von der Bewertung ausgeschlossen. Bei der zweiten Aufgabe (fixed four-line condition) durfte die Zeichnung nur aus genau vier Linien bestehen. Ein Kreis wurde als eine Linie gewertet, ebenso wie ein Bogen; ein Winkel wurde hingegen als zwei Striche eingeschätzt. Bei dieser Aufgabe standen dem Probanden nur vier Minuten zur Verfügung. Die Einschätzung von Perseverationen gestaltete sich bei der Auswertung etwas schwierig. Folgende Richtlinien wurden vorher festgelegt: a) Zeichnungen, die durch einfache Rotation aus einer anderen entstehen, gelten als Perseveration; b) Zeichnungen, die sich nur in einem Detail von einer anderen unterscheiden, gelten als Perseveration; c) offensichtliches Gekritzel wird als Perseveration bewertet.

Als Ergebnis stellte sich heraus, daß Patienten mit rechts-frontalen oder rechts-fronto-zentralen Läsionen bei beiden Aufgaben dieses Tests am meisten beeinträchtigt waren. Es folgte die Gruppe mit rechts-temporalen oder links-frontalen Schädigungen. Die Gruppe der Patienten mit links-posterioren Schädigungen war die einzige, die in dieser Studie keine Defizite aufwies. Ein Grund dafür könnten jedoch die vergleichsweise geringgradigen Läsionen sein. Große Probleme bereitete der Gruppe mit rechts-hemisphärischen Läsionen die Bedingung, daß die Zeichnungen nicht benennbar sein durften. Die Autoren erklärten dies mit dem sprachlichen Einfluß der dominanten Hemisphäre, über den sich diese Patienten schlechter hinwegsetzen konnten. Diese Patienten tendierten dazu, erst an eine Sache zu denken, bevor sie etwas aufzeichneten. Perseverationen traten gerade bei der Gruppe der rechts-frontalen und rechts-fronto-zentralen Patienten besonders häufig auf. Unter der fixed condition stieg auch der Anteil der Perseverationen bei der links-frontalen Gruppe an. Die

Neigung dieser Versuchspersonen zu stereotypen Wiederholungen kann darin begründet liegen, daß sie nicht in der Lage sind, Rückmeldungen von vorherigen Aktionen zu nutzen.

Die Produktion neuer Antworten bereitet offensichtlich besondere Schwierigkeiten. Jones-Gotman und Milner waren der Meinung, ein Analogon zu den Untersuchungen von Ramier und Hécaen (1970) gefunden zu haben. Während in deren Studie über verbale Flüssigkeit die links-frontalen Patienten stärker beeinträchtigt sind, als die rechts-frontalen, ist es bei diesem visuellen Flüssigkeitstest genau umgekehrt.

Einfacher und objektiver in der Auswertung als die design-fluency-task ist der Test von Ruff (1987). Bei dem „Ruff Figural Fluency Test“ (RFFT) sollen die Versuchspersonen in einer vorgegebenen Anordnung von Fixpunkten verschiedene Figuren zeichnen, indem sie die Punkte durch Linien verbinden. Dadurch wird die Auswertung unabhängig von der variierenden Größe und Komplexität der Zeichnungen zwischen den einzelnen Versuchspersonen.

In einer Studie von Ruff, Allen, Farrow, Niemann und Wylie (1994) sollte die Validität dieses Tests bezüglich der Differenzierung in rechts-frontale und nicht-rechts-frontale Patienten bestimmt werden. Zudem sollte die These überprüft werden, daß Patienten mit umschriebenen rechts-fontalen Läsionen bei dem RFFT stärker beeinträchtigt sind als Patienten mit links-frontalen Läsionen. Würde sich diese These bestätigen, so könnte aufgrund der Erfahrungen mit den verbalen Flüssigkeitstests angenommen werden, daß Patienten mit bilateral-frontalen Hirnschädigungen in beiden Formen von Flüssigkeitstests signifikant schlechtere Ergebnisse erzielen. In dem ersten Abschnitt der zweiteiligen Untersuchung wurden sechs Patienten (je zwei aus den Gruppen links-frontal, rechts-frontal, bifrontal) u.a. mit dem Controlled Oral Word Association Test (COWAT) (siehe Kap. 2.9.2) der design-fluency-task von Jones-Gotman und Milner und dem RFFT untersucht. Als Ergebnis zeigte sich, daß die Patienten mit rechts-frontalen Läsionen sowohl bei der design-fluency-task, als auch bei dem RFFT beeinträchtigt waren. Bei dem RFFT produzierten diese Patienten 40% weniger Figuren gegenüber den links-frontalen Versuchspersonen. Auch die bifrontalen Patienten erzielten Werte, die in den Bereich der signifikanten Beeinträchtigung fielen. Dies zeigte sich bei dem RFFT, und wie schon vorher prognostiziert, bei dem COWAT. Damit sahen Ruff et al. die Hypothesen dieses Tests als bestätigt, gaben aber gleichzeitig zu bedenken, daß die geringe Anzahl der untersuchten Patienten die Aussagekraft der Ergebnisse einschränken. Bei der zweiten Untersuchung wurde deshalb die Fallzahl auf 29 Patienten erhöht (acht rechts-frontal,

acht links-frontal, fünf rechts-posterior, acht links-posterior). Auch hierbei zeigte sich, daß die rechts-frontalen Patienten signifikant weniger Zeichnungen produzierten als Patienten mit frontalen, posterioren oder rechts-posterioren Läsionen. Die Patienten der links-frontalen Gruppe erzielten gegenüber den posterioren Versuchspersonen schlechtere Ergebnisse, jedoch war dieser Unterschied nicht statistisch signifikant. Beim COWAT kamen die meisten Patienten, die nach den Normen von Benton (1968) als beeinträchtigt gelten, aus der links-frontalen Gruppe.

Die Ergebnisse der beiden Studien bringen Ruff et al. bezüglich der Testgüte des RFFT zu folgendem Schluß: „The findings also suggest concurrent validity with the Design Fluency Measure by Jones-Gotman and Milner“. Die Trefferquote zur Differenzierung von rechts-frontalen und nicht-rechts-rechts-frontalen Patienten belief sich auf 85%. Die Sensitivität erreichte einen Wert von 60%, die Spezifität gar einen von 96%. Aufgrund dieser Zahlen hielten die Autoren diesen Test für ein geeignetes Meßinstrument zur Erfassung von motorischer Koordinationsfähigkeit, flüssigem und flexiblem Denken, der Fähigkeit zwischen verschiedenen Lösungsstrategien zu wechseln und der Fähigkeit Perseverationen zu vermeiden.

Jason (1985) entwickelte einen Test, der ebenfalls die nonverbale Flüssigkeit bei Patienten mit Hirnläsionen erfassen sollte. Bei der „gesture-fluency“ sollen die Patienten innerhalb von zwei Minuten möglichst viele Gesten produzieren. Die in zwei Abschnitte gegliederte Aufgabe basiert auf folgender Überlegung:

Jason versuchte Parallelen zu den Wortflüssigkeitstests herzustellen, die er in zwei Kategorien unterschied. Zum einen gibt es Tests mit struktureller Bedingung (Wörter die mit einem bestimmtem Buchstaben beginnen), zum anderen Tests, die eine bestimmte semantische Kategorie verlangen (Items einer bestimmten semantischen Kategorie, z.B. Tiere). Patienten mit links-frontalen Läsionen sind nach Meinung des Autors nur in Tests der ersten Kategorie beeinträchtigt, nicht aber in Tests der letzteren Kategorie, obwohl ein genereller Effekt bei den semantischen Aufgaben in der links-frontalen Gruppe nicht ausgeschlossen werden konnte (der Autor bezieht sich dabei auf die Ergebnisse von Newcombe, siehe Kap. 2.9.2). Im Gegensatz dazu seien Parkinson-Patienten nur bei Aufgaben mit semantischer Kategorie beeinträchtigt und bei den strukturellen Aufgaben weitestgehend unbeeinträchtigt. Aufgrund dieser Annahme wurden zwei verschiedene gesture-fluency-tasks erforderlich. Eine, die eine strukturelle Limitation beinhaltete (bei der „finger-position-task“ mußte der rechte Ellenbogen

den Tisch berühren, der Unterarm stand vertikal, es waren keine Bewegungen, sondern nur einzelne Fingerpositionen erlaubt) und eine andere, ohne diese Begrenzung, jedoch mit der Bedingung, daß die Gesten bedeutungsvoll sein sollten (meaningfull-gesture-task). Bei dieser zweiten Aufgabe durften beide Hände benutzt werden, um zum Beispiel pantomimisch zu grüßen oder aber den Daumen auszustrecken wie beim Auto-Stopp. Die Aufgabe mit den bedeutungsvollen Gesten wurde von Jason den semantischen Wortflüssigkeitstests gleichgesetzt.

Von den 100 verwertbaren Datensätzen entfielen zehn auf die links-frontale Gruppe, 17 auf die rechts-frontale Gruppe, weitere 58 auf andere Hirnareale und 15 auf die Kontrollgruppe.

Bei einem Teil der Patienten wurde der Test unmittelbar nach ihrer Operation durchgeführt ( postoperativ: zwei Wochen bis zu einem Monat), bei den anderen lag die Operation schon etwas länger zurück (follow-up: zwei Monate bis zu 28,5 Jahren; Durchschnitt: 4,8 Jahre).

Diese Einteilung ist gerade bei der zweiten Aufgabe besonders entscheidend. Patienten, deren Operation schon eine längere Zeit zurücklag, generierten mehr bedeutungsvolle Gesten. Ein anderer Unterschied ergab sich bei der erlaubten Form von Perseverationen. In der zweiten Aufgabe durften die Gesten innerhalb eines Themas variiert werden, ohne als Wiederholung gewertet zu werden. Diese Möglichkeit wurde von den follow-up-Patienten ebenso wie von den nicht-hirngeschädigten Kontrollpersonen signifikant häufiger genutzt als von den postoperativen links-frontalen Patienten.

Ergebnisse der strukturellen Aufgabe:

Insgesamt konnte zwischen den fünf verschiedenen Gruppen kein Unterschied in der quantitativen Produktion von Gesten festgestellt werden. Differenzen wurden bei der Gruppe der links-frontalen Patienten deutlich, die eine stärkere Neigung zu perseverativem Verhalten zeigten, als die anderen Gruppen. Der Anteil der Perseverationen gemessen an der Gesamtzahl der produzierten Gesten ist hierbei signifikant erhöht. Der Autor verglich dies mit dem umgekehrten Fall von Jones-Gotman und Milner, deren rechts-frontale Patienten bei der

„design-fluency-task“ mit einer abnehmenden Zahl von richtigen Antworten auch weniger Perseverationen produzierten.

Ergebnisse der semantischen Aufgabe:

Ebenso wie im ersten Teil der Aufgabe konnte auch hier kein quantitativer Unterschied in der Produktion festgestellt werden. Im Gegensatz zu den anderen semantischen Wortflüssigkeitstests, bei denen die links-frontalen Patienten unbeeinträchtigt scheinen, zeigten sie hier in der semantischen Kategorie der gesture-fluency verminderte Leistungen.

Dies wurde hauptsächlich wiederum durch perseveratives Verhalten deutlich, indem die Patienten die Gesten mit der jeweils anderen Hand wiederholten. Hierin wird deutlich, daß die links-frontalen Patienten nicht nur bei Aufgaben struktureller Art beeinträchtigt sein können, sondern durchaus auch in den semantischen Kategorien. Damit kann die zuvor genannte These von Jason als widerlegt angesehen werden.

Auch die rechts-frontale Gruppe erzielte im zweiten Teil schlechtere Ergebnisse. Diese Erscheinung wurde hauptsächlich durch die verminderte Produktion von „novel gestures“

deutlich. Unter diesem Begriff sind alle Gesten zusammengefaßt, die weder der erlaubten Form von Perseverationen entsprachen, noch Kopien der Beispiele des Versuchsleiters waren.

Jason nimmt an, daß die semantischen Wortflüssigkeitsaufgaben den frontalhirngeschädigten Patienten den Gebrauch von semantischen Assoziationen zur Produktion von Worten erlaubt und somit die Schwierigkeiten mit diesen Aufgaben kompensiert werden können. Demzufolge müßte die Verwendung der Assoziativ-Strategie zu einer Erhöhung der Anzahl der Gesten innerhalb eines gemeinsamen Themas führen (erlaubte Form der Perseveration). Dies kam, wie schon erwähnt, in der Kontrollgruppe häufig vor, so daß der Verdacht nahe liegt, daß diese Patienten eine solche Strategie verwandt hatten. Auch bei den links-frontalen Patienten, deren Operation schon eine längere Zeit zurück lag, zeigte sich ein verstärktes Aufkommen dieses Antworttyps, was zur Annahme führt, daß sie diese Strategie benutzt hatten, um Flüssigkeitsdefizite wettzumachen. Weitere Analysen machten deutlich, daß die rechts-frontale Gruppe diese Strategie scheinbar nicht benutzt hatte. Jason erklärt dies damit, daß diese Patienten nicht bei der Wortflüssigkeit beeinträchtigt sind, aus diesem Grunde keine Strategie im Alltag zu verwenden brauchten und deshalb auch nicht eine solche Strategie auf diese Art von Flüssigkeitsaufgaben übertragen können.

Insgesamt konnten die Defizite in der frontalen Gruppe nicht einfach als eine verminderte Möglichkeit zur Antwortproduktion angesehen werden, da es keine Gruppenunterschiede in der Gesamtzahl der Antworten gab. Das Problem ist eher in der Produktion von sinnvollen Variationen der gegebenen Antworten zu suchen. Bezüglich der Alters- oder Geschlechtsunterschiede konnten keine nennenswerten Abweichungen festgestellt werden.

Tabelle 3: Übersicht über die verschiedenen Studien zur nonverbalen Flüssigkeit.

Autoren Erscheinungs-jahr

Aufgabe beeinträchtigte Gruppe

Jones-Gotman und Milner

1977 Design-Fluency:

a) free condition

b) fixed four-line condition

rechts-frontal,

rechts-fronto-zentral, rechte Hemisphäre rechts-frontal,

rechts-fronto-zentral, rechte Hemisphäre, bei Perseverationen:

links-frontal

Ruff et al. 1994 Design-Fluency

RFFT

rechts-frontal rechts-frontal, bifrontal

Jason 1985 Gesture-Fluency:

a) strukturell

b) semantisch

keine,

bei Perseverationen:

links-frontal keine,

bei Perseverationen:

links-frontal

bei „novel gesture“:

rechts-frontal Anmerkung: RFFT: Ruff Figural Fluency Test

strukturelle Gesture-fluency: finger-position-task semantische Gesture-fluency: meaningfull-gesture-task