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Welche Veränderungen sind unter einer neuen Führung im Hinblick auf die zwei wichtigsten strategischen Fragen für die palästinensische

Die palästinensischen Selbstverwaltungs- Selbstverwaltungs-gebiete: Was kommt nach Arafat?

3. Welche Veränderungen sind unter einer neuen Führung im Hinblick auf die zwei wichtigsten strategischen Fragen für die palästinensische

Gesellschaft zu erwarten: den israelisch-palästinensischen Konflikt und die Ausformung des palästinensischen politischen Systems?

Im folgenden sollen nicht nur die Erfolgsaussichten potentieller Kandi-daten eruiert werden,1 sondern vor allem die Funktionsweise des palästi-nensischen Herrschaftssystems und die Mechanismen der Nachfolge erklärt, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse während der Intifada ana-lysiert, und potentielle Trends sowie der Handlungsspielraum, den eine nachfolgende palästinensische Führung haben wird, aufgezeigt werden.

Arafat, das palästinensische System seit Oslo und die Intifada

Das »System Arafat«

In den Medien wird Arafat neuerdings oft als Diktator und die PA als korrupte, ineffiziente und terrorfördernde Einrichtung porträtiert. Eine solche Darstellung ist wenig geeignet, das palästinensische Herrschafts-und Regierungssystem, wie es sich in den Jahren seit dem Gaza-Jericho-Abkommen (Mai 1994) herausgebildet hat, und Arafats Stellung in diesem System zu verstehen.2 Denn es ist zwar richtig, daß das politische System eine starke Machtkonzentration und Ämterhäufung bei Arafat aufweist und dieser einen autoritären Regierungsstil pflegt. Gleichzeitig ist es aber auch durch pluralistische Elemente, Informalität und Strukturen geprägt, die den Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen und Bevölkerungs-gruppen ermöglichen sollen. Und es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die PA bislang zu keiner Zeit auch nur annähernd volle Staat-lichkeit erreicht hat, sondern ihre Kompetenzen fortwährend auf Selbst-verwaltung und innere Ordnung beschränkt blieben. Auch nach den letzten israelischen Truppenabzügen im Rahmen des Oslo-Abkommens im März 2000 blieb der größte Teil der palästinensischen Gebiete (rund 60 Prozent der West Bank und 40 Prozent des Gaza-Streifens) unter direkter militärischer Besetzung Israels. Die PA hatte keine Kontrolle über die Außengrenzen, über den Ressourcenverbrauch und über die Mobilität zwischen den sogenannten autonomen Gebieten.

Unter der Leitung Arafats und der ehemaligen PLO-Exilführung hat sich ein Regierungssystem herausgebildet, das als autoritäres System neopatri-monialen Typs bezeichnet werden kann. Das bedeutet einerseits, daß das System durch Machtkonzentration, Ämterhäufung und einen autoritären Führungsstil geprägt ist. So hat Arafat in den ersten Jahren überwiegend per Dekret regiert und die Festschreibung von Gewaltenteilung, Rechts-staatlichkeit und Menschenrechten in einer Übergangsverfassung sowie

1 Für eine Darstellung palästinensischer Persönlichkeiten, die in diesem Zusammenhang relevant sind, sowie der Trends in der Gesellschaft, für die sie jeweils stehen, vgl. auch den Beitrag von Ahmed Badawi in diesem Band, S. 124ff.

2 Das Gaza-Jericho-Abkommen leitete, zunächst im Gaza-Streifen und in der Enklave Jericho, eine beschränkte und befristete palästinensische Selbstverwaltung ein, die später auch auf weitere Gebiete der West Bank ausgeweitet wurde. Für eine ausführliche Ana-lyse der Abkommen und der Kompetenzen der PA vgl. Muriel Asseburg, Blockierte Selbst-bestimmung. Palästinensische Staats- und Nationenbildung während der Interims-periode, Baden-Baden 2002.

Arafat, das palästinensische System seit Oslo und die Intifada

die Herausbildung einer unabhängigen Justiz verhindert. Andererseits genießt Arafat keine absolute Autorität und kann seine Macht nicht auf ein streng hierarchisches oder militaristisches System stützen. Die poli-tische Landschaft in den palästinensischen Gebieten ist vielmehr gerade von geringer Institutionalisierung, Informalität und gegenseitiger Einfluß-nahme und Konkurrenz geprägt. Sie weist einen großen Meinungs-pluralismus und eine stark politisierte Gesellschaft auf. Vertreter der Zivil-gesellschaft, Akademiker, Parlamentarier und alteingesessene Führer der Widerstandsbewegung, oft gerade von Arafats Fatah, haben sich seit Jahren für mehr politische Teilhabe, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Wahlen auf allen Ebenen eingesetzt. Arafat muß sich um Ausgleich zwischen den unterschiedlichen regionalen (Gaza-Streifen/West Bank), konfessionellen (Christen/Muslime), und gesellschaftlichen (säkulare/reli-giöse) Interessen und den in den verschiedenen PLO-Fraktionen repräsen-tierten politischen Strömungen bemühen, um gegenüber allen Bevölke-rungsgruppen seine Herrschaft zu legitimieren. Arafat hat sich intensiv um einen »nationalen Dialog« bemüht, um auch die säkulare und religiöse Opposition in die Verantwortung zu nehmen und auf die Oslo-Spielregeln zu verpflichten. Lautstarke Kritiker hingegen sind, je nach Bekanntheits-grad, kooptiert oder massiv eingeschüchtert worden.

Um alle wichtigen Interessen, Institutionen und Persönlichkeiten in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen und gleichzeitig alle strategischen Fragen letztlich selbst entscheiden zu können, hat Arafat die politische Willensbildung aus den demokratisch bestimmten Institutionen, etwa dem gewählten Legislativrat (Palestinian Legislative Council, PLC) oder dem Kabinett, in informelle Gremien verlegt. Aufgrund der vertraglichen Bestimmungen der Osloer Abkommen sind alle Fragen von nationaler strategischer Relevanz, wie die Außenbeziehungen und die Verhandlun-gen über den endgültiVerhandlun-gen Status, ohnehin den PLO-Gremien vorbehalten und damit der Kontrolle durch die in den palästinensischen Gebieten gewählten Volksvertreter entzogen. Ministern fehlt nahezu völlig eine eigenständige Entscheidungsbefugnis, was etwa Personal- und Finanz-entscheidungen innerhalb ihres Kompetenzbereichs angeht. Fragen von nationaler Bedeutung werden in den wöchentlichen Leadership Meetings dis-kutiert, die keiner politischen Verantwortlichkeit unterliegen. Dieses Gremium kann als Kristallisationspunkt der politisch relevanten Elite gesehen werden: Hier findet sich die palästinensische Kernelite. Zu ihr gehören die Mitglieder des »erweiterten Kabinetts« (Minister, stellvertreten-de Minister und Leiter stellvertreten-der PA-Behörstellvertreten-den), die Spitzen stellvertreten-der Sicherheits-organe, Vertreter des PLO-Exekutivkomitees und des Fatah-Zentral-komitees, der PLC-Sprecher sowie Mitglieder des palästinensischen Ver-handlungsteams und Vertreter des Rats der Gouverneure und Bürger-meister.3 Klientelistische Strukturen sichern die Unterstützung durch die

3 Für eine sozio-biographische Analyse der Kernelite sowie anderer Elitegruppen (Busi-nesselite, NGO-Elite) vgl. Jamil Hilal, Takwin al-nukhba al-filstiniyya. Munthu nushu‘

al-haraka al-wataniyya ila ma ba`d qiyam al-sulta al-wataniyya [Die Formierung der palästinensischen Elite. Von der Bildung der nationalen Bewegung zur Etablierung der

Bevölkerung. Loyalität zur Führung wird dabei oftmals durch den Zugang zu öffentlichen Ämtern oder Lizenzen, durch Beteiligung an Gewinnen aus Monopolen oder durch die Tolerierung von Korruption und dem Miß-brauch öffentlicher Gelder erkauft.

Intifada und Verschiebungen im

innerpalästinensischen Kräfteverhältnis

Die Vereinbarungen von Oslo ermöglichten der PLO-Führung die Rückkehr aus dem tunesischen Exil und legten fest, daß die Institutionen der palästi-nensischen Selbstverwaltung unter ihrer Ägide aufgebaut werden sollten.

Arafat wurde zunächst als »ra’ees« (Vorsitzender beziehungsweise Präsi-dent) der Behörde eingesetzt und erst mit den Wahlen vom Januar 1996 demokratisch legitimiert.4 Infolgedessen konnte die PLO-Spitze aus dem Exil ihren Führungsanspruch gegenüber der ansässigen Führerschaft, die sich in den palästinensischen Gebieten im Zuge der ersten Intifada heraus-gebildet hatte, weitgehend durchsetzen.5 Die »alte Garde« der Gründer-väter von PLO und Fatah, die den Großteil ihres Lebens wie Arafat im Exil verbracht haben und die heute zwischen 60 und 70 Jahre alt sind (Mah-mud Abbas, Ahmed Qrei’a, und andere), dominiert damit alle zentralen Institutionen von PLO und PA: das PLO-Exekutivkomitee, den PLO-Zentral-rat, den Palästinensischen Nationalrat (Palestinian National Council, PNC, das palästinensische Exilparlament), das Fatah-Zentralkomitee, aber eben auch das PA-Kabinett und das Verhandlungsteam.

Im Laufe der Auseinandersetzungen der zweiten oder Al-Aqsa-Intifada ist es zu einer neuerlichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen der alten und der jungen Garde sowie zwischen Fatah, den islamistischen Gruppierungen (Hamas und Islamischer Djihad) und NGO-Vertretern gekommen. Die Rückkehrer, deren Positionen eng mit dem Oslo-Prozeß verknüpft sind, haben zwar nicht ihre Posten, aber in hohem Maße ihre ökonomischen und politischen Privilegien und, nicht zuletzt, die inter-nationale Anerkennung verloren. Zudem hat im Zuge der Intifada eine starke Aufweichung des Gewaltmonopols stattgefunden, wodurch die Kon-trolle der Rückkehrer über die Zwangsinstrumente der PA an Bedeutung eingebüßt hat. Dies hat sich zunehmend in einem Verlust an Einfluß auf die Willensbildung in der Bevölkerung niedergeschlagen. Vertreter der

»jungen Garde«, die in den letzten Jahren im politischen Entscheidungs-prozeß eher marginalisiert waren, haben wieder an Einfluß gewonnen und insbesondere Strategie und Taktik der Intifada bestimmt.

nationalen Autorität], Ramallah/Amman 2002.

4 Auch wenn es durchaus Unregelmäßigkeiten und Manipulationen gegeben hat, haben die internationalen Wahlbeobachter bestätigt, daß die Wahlen im großen und ganzen frei und fair verlaufen sind. Arafat erzielte 1996 fast 89 Prozent der Stimmen. Vgl. Muriel Asseburg/Volker Perthes, Wahlen in Palästina. Hintergründe und Bedeutung, Ebenhausen, März 1996 (SWP-Informationspapier); Helga Baumgarten, Die palästinensischen Wahlen 1996, in: Orient, 37 (Dezember 1996) 4, S. 599–618.

5 Vgl. ausführlich Hans-Joachim Rabe, Palestinian Elites after the Oslo-Agreement (1993–

1998), London: University of London, School of Oriental and African Studies, 2000.

Arafat, das palästinensische System seit Oslo und die Intifada

Diese junge Garde setzt sich zusammen aus den Führern und Aktivisten der ersten Intifada, die heute zwischen 40 und 50 Jahre alt sind, oft lange Gefängniserfahrung in Israel haben und gegenwärtig zum Teil als Abge-ordnete im PLC dienen (Marwan Barghuthi, Husam Khader, Qaddura Fares) oder auch leitende Stellungen in den Sicherheitsorganen bekleiden bezie-hungsweise bekleidet haben (Mohamed Dahlan, Jibril Rajub). Der jungen Garde fehlt es an Zusammenhalt, an einer organisierten Interessen-vertretung und Führung. Es gelang ihren Vertretern aber, angesichts der zögerlichen und ambivalenten Haltung der PA-Führung, starken Einfluß auf Taktik und Strategie der zweiten Intifada zu gewinnen und infolge dessen auch ihren Einfluß in Fatah-Einrichtungen, wie den Tanzim und dem Fatah-Revolutionsrat, zu vergrößern.6

Auch die Islamisten haben deutlich an Unterstützung zugelegt. Blieben sie während der Interimsperiode in Umfragen in der Regel unter 15 Prozent, können sie heute rund 25 Prozent der »Stimmen« auf sich vereinigen. Das liegt daran, daß sie in den Augen vieler Palästinenser einen glaubwürdige-ren Widerstand leisten können, da sie den Oslo-Prozeß von Anfang an abgelehnt haben und sich nicht, wie die PA, mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert sehen. Zudem trifft ihre soziale und humanitäre Arbeit, wegen zunehmender Arbeitslosigkeit und Massenarmut insbesondere im Gaza-Streifen, auf die existentiellen Bedürfnisse immer größerer Bevölke-rungskreise.7 Die Fatah-Basis hat als Teil der Regierungspartei hingegen große Schwierigkeiten, sich gegenüber der Bevölkerung von der PA-Füh-rung abzugrenzen und nicht für die Korruption in der PA und die nun als Kollaboration empfundene Zusammenarbeit mit Israel verantwortlich gemacht zu werden. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die sich jahre-lang intensiv für den Friedensprozeß, für Aussöhnung und Zusammenar-beit eingesetzt haben. Gerade sie haben denn auch gleich zu Beginn der Intifada eine besonders populistische Haltung eingenommen und den bewaffneten Kampf propagiert. Dabei ist das Hauptziel der jungen Garde innerhalb der Fatah, neben dem Ende der Besatzung, die eigene Teilhabe an der politischen Macht zu erreichen. Ihre Kritik an der alten Garde der PA-Führung richtet sich dabei auf deren Versäumnisse im Staatsbildungs-prozeß und im Unabhängigkeitskampf und auf ihre autoritäre Regierungs-führung. Als Instrument zur Durchsetzung ihrer Machtinteressen setzt die junge Garde auch den bewaffneten Kampf gegen Israel ein, der in der Bevölkerung aufgrund der Enttäuschung über mangelnde Fortschritte im Friedensprozeß und bei der Verbesserung der Lebensbedingungen auf immense Unterstützung stößt.8

6 Vgl. etwa Khalil Shikaki, Palestinians Divided, in: Foreign Affairs, (Januar/Februar 2002), (Internetausgabe unter: www.foreignaffairs.org).

7 Nach gut zwei Jahren Intifada leben, nach Schätzungen von USAID, Weltbank und UNDP, zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Palästinenser unter der Armutsgrenze;

zunehmend treten massive Versorgungsengpässe und Mangelernährung auf.

8 Vgl. für eine Analyse von Umfrageergebnissen seit Oslo auch Shikaki, Palestinians Divided.

Im Zuge der Intifada ist zwischen den islamistischen (Hamas, Islami-scher Djihad), den linken säkularen Gruppierungen (PFLP, DFLP) und den Fatah-Aktivisten (Tanzim, Al-Aqsa-Brigaden) ein Wettstreit um die »Straße«

entbrannt, bei dem es letztlich darum ging, sich durch die spektakulärsten Kampfaktionen beziehungsweise Attentate zu profilieren – auch wenn die Gruppierungen ihre Aktivitäten im Rahmen der »nationalistischen und islamistischen Kräfte« lose koordinierten und gemeinsame Statements herausgaben.9 Mit gezielten Liquidationen von Führungspersonal aller Organisationen hat Israel das seinige dazu getan, die Auseinandersetzung und die Strategien der einzelnen palästinensischen Gruppierungen zu radikalisieren. Die Konkurrenz zwischen letzteren und ihre Austragung über bewaffnete Angriffe auf israelische Ziele hat auch dazu geführt, daß die strategische Ausrichtung der Kampfhandlungen zunehmend undeut-lich geworden ist. Zudem haben sich bei einem großen Teil der Bevölke-rung die Vorstellungen, was das Ziel der Intifada sein soll, verschoben: Für die Mehrheit geht es mittlerweile bei der Intifada um die »Befreiung« des ganzen historischen Palästina.

Letztlich haben auch Vertreter der NGO-Community durch die Intifada Auftrieb erhalten und zumindest teilweise die Rolle wiedergewonnen, die sie vor Oslo innehatten, als sie weitgehend die Aufgaben des öffentlichen Sektors, insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen, erfüllten und den Großteil der internationalen Unterstützungsgelder einnahmen und ver-walteten. Die bewaffneten Auseinandersetzungen und die Einbußen bei der Selbstverwaltungskapazität der PA haben den zivilgesellschaftlichen Organisationen im Servicebereich insofern in die Hände gespielt, als diese der Bevölkerung beweisen konnten, daß sie ihr – im Gegensatz zur finan-ziell vor dem Kollaps stehenden PA – hilfreich zur Seite stehen können.

Insbesondere den Rettungskräften der Union of Medical Relief Committees unter der Leitung des linksliberalen Arztes und NGO-Aktivisten Mustafa Barghuthi hat die palästinensische Bevölkerung ihre Anerkennung gezollt.

Damit haben Vertreter der Zivilgesellschaft wie Barghuthi an Ansehen und Einfluß gewonnen. Dazu hat auch beigetragen, daß die internationale Gemeinschaft bei der Suche nach möglichen Führungsfiguren, die nicht durch Terror kompromittiert sind, ihr Augenmerk verstärkt auf Vertreter der Zivilgesellschaft gerichtet hat und daß diese in der Lage waren, eine internationale Solidaritätsbewegung aufzubauen.

Machtverlust Arafats ...

In den Augen der palästinensischen Bevölkerung hat Arafats Ansehen im Zuge der israelischen Militäraktionen in den vormals autonomen Gebieten und ihrer Wiederbesetzung eine deutliche Neubewertung erfahren. So hat

9 Die linken säkularen Oppositionsgruppierungen konnten durch einige erfolgreiche Militäraktionen Achtungserfolge verzeichnen. Dennoch konnten sie dadurch nicht auf-holen, was sie in der Bevölkerung infolge der Marginalisierung im politischen Entschei-dungsprozeß nach ihrem Wahlboykott 1996, der der Ablehnung des Oslo-Prozesses ge-schuldet war, an Rückhalt verloren hatten.

Arafat, das palästinensische System seit Oslo und die Intifada

die israelische Umzingelung des PA-Hauptquartiers in Ramallah und die Festsetzung des palästinensischen Präsidenten sowohl im April als auch im September 2002 kurzfristig einen Solidarisierungseffekt zur Folge gehabt: Arafats Popularität stieg zunächst deutlich an. Letztlich hat während und infolge der israelischen Invasionen jedoch in breiten Kreisen der Bevölkerung eine deutliche Unzufriedenheit mit der Performance der PA um sich gegriffen, die mittelfristig auch die Unterstützung für Arafat in Mitleidenschaft ziehen wird. Die Palästinenser werfen ihrer Führung vor, daß sie weder Widerstand geleistet, noch Vorkehrungen für den Fall einer Wiederbesetzung getroffen oder die Bevölkerung während der Invasionen geschützt habe. Verurteilt wurden von der Bevölkerung auch die als schmutzige Tauschhändel empfundenen Vereinbarungen, die die palästinensische Führung mit Israel traf, um die Belagerung der Geburts-kirche in Betlehem und des Amtssitzes von Arafat in Ramallah durch israelische Truppen zu beenden.10 Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat in den folgenden Monaten und im Zuge der verstärkten Absperrungen, der wiederholten Wiederbesetzungen, der in einigen Städten monatelang nahezu ununterbrochen verhängten Ausgangssperren und der drastischen Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation nur noch zugenommen.

Sie hat sich unter anderem im Juli 2002 im Gaza-Streifen in massiven Demonstrationen unter dem Motto »ween al-malayiin?«11 manifestiert.

... und Versuch des Machterhalts durch Reformen

Infolge dieses Stimmungswandels hat nach den Invasionen eine Diskus-sion sowohl über Reformen des politischen Systems als auch über die Effi-zienz und die strategische Ausrichtung der Intifada eingesetzt.12 Der israelische Premierminister Sharon hatte bereits zuvor – zunehmend unterstützt durch die internationale Gemeinschaft – Forderungen nach einer Ablösung Arafats und nach Reform des palästinensischen Systems, insbesondere des Sicherheitssektors, erhoben. Arafat konnte sich dem vereinten Druck auf Reformen – auch wenn dieser von innen und außen

10 Die Empörung war insbesondere deshalb so groß, weil Arafat der Abschiebung der sich in der Geburtskirche aufhaltenden und von Israel des Terrorismus beschuldigten Palästinensern nach Europa zustimmte – und damit einer Abschiebung von, in den Augen der Palästinenser, Widerstandskämpfern ins Ausland. Außerdem hatte es allen An-schein, als ob er das Abrücken der Panzer um seinen Amtssitz nicht nur mit einem Schauprozeß und der Inhaftierung der des Mordes am israelischen Tourismusminister Ze’evi beschuldigten PFLP-Angehörigen und des PFLP-Führers Ahmed Sa’adat, sowie des für die Karine-A-Affäre verantwortlich gemachten PA-Angestellten Shobaki, sondern vor allem mit seinem Stillschweigen angesichts der Aufhebung der UN Fact Finding Commission für Jenin erkaufte.

11 »Wo sind die Millionen?« In Anspielung auf einen zu Beginn der Intifada populären Song mit dem gleichen Titel, der danach fragte, wo die arabischen Massen zur Unterstüt-zung der Intifada blieben, zielte die Frage nun vor dem Hintergrund von Massenarbeits-losigkeit und -armut insbesondere im Gaza-Streifen auf den Verbleib der internationalen Unterstützungsgelder ab.

12 Vgl. auch Muriel Asseburg, Ein Neuanfang im Nahost-Friedensprozeß? Innere Reformen und internationales Engagement, Berlin, Juni 2002 (SWP-Aktuell 17/02).

mit durchaus unterschiedlicher Stoßrichtung erfolgte – nicht verschließen und leitete einen Reformprozeß ein, der für ihn Machteinschränkung und Machtverlust bedeuten wird. Er hat die Reformen aber auch als Chance begriffen, um den Einfluß der jungen Garde und der Islamisten zurückzu-drängen. Dazu hat er zuverlässige und loyale Vertreter der alten Garde in strategische Positionen eingesetzt. Zugleich hat er »Bauernopfer« erbracht und sich einiger als besonders korrupt bekannter Minister und Sicherheits-leute entledigt. Ein Generationswechsel wurde nicht eingeleitet.

Konkret hat Arafat ab Mai 2002 erste Reformschritte umgesetzt, indem er das Grundgesetz und das Gesetz über die Unabhängigkeit der Justiz aus-fertigte und eine Kabinettsumbildung vornahm. Die neue Regierung hat im Juni ein 100-Tage-Reformprogramm beschlossen, das umfassende Reformen im Hinblick auf die Durchsetzung von Gewaltenteilung, Rechts-staatlichkeit und den Aufbau einer modernen und effektiven Administra-tion vorsieht sowie detaillierte Vorgaben für deren Umsetzung im Sicher-heits-, Finanz- und Justizsektor macht.13 Außerdem sind Wahlen angekün-digt worden, die schon seit Jahren aufgeschoben wurden: Neuwahlen für Präsident und Parlament sind für den 20. Januar 2003, Kommunalwahlen für März 2003 angesetzt. Mit diesen ersten Reformschritten ist die Grund-lage für eine Demokratisierung palästinensischer Herrschaft geschaffen.

Inwieweit es gelingen wird, die Reformen auch tatsächlich umzusetzen und den Entscheidungsprozeß in die formellen Strukturen zu verlagern, ist aber noch offen. Die Bedingungen für Reformen sind derzeit angesichts der Fortdauer der gewalttätigen Auseinandersetzungen alles andere als günstig. Eine genuine Demokratisierung kann ohnehin erst nach der staat-lichen Unabhängigkeit greifen.

Die Kabinettsumbildung zeigt das Bemühen Arafats, verschiedene Inter-essen einzubeziehen und auszubalancieren. Dazu gehören auf der einen Seite die (wenig erfolgreichen) Versuche Arafats, eine Regierung der natio-nalen Einheit zu bilden und dabei die säkulare und die religiöse Opposi-tion einzubinden. Auf der anderen Seite sollten unterschiedliche Segmen-te der Gesellschaft, wie ChrisSegmen-ten und Muslime, die Bevölkerung von Gaza-Streifen und West Bank, Fatah-Vertreter und Unabhängige, durch Posten-vergabe zufriedengestellt werden. Und letztlich wollte Arafat den

Die Kabinettsumbildung zeigt das Bemühen Arafats, verschiedene Inter-essen einzubeziehen und auszubalancieren. Dazu gehören auf der einen Seite die (wenig erfolgreichen) Versuche Arafats, eine Regierung der natio-nalen Einheit zu bilden und dabei die säkulare und die religiöse Opposi-tion einzubinden. Auf der anderen Seite sollten unterschiedliche Segmen-te der Gesellschaft, wie ChrisSegmen-ten und Muslime, die Bevölkerung von Gaza-Streifen und West Bank, Fatah-Vertreter und Unabhängige, durch Posten-vergabe zufriedengestellt werden. Und letztlich wollte Arafat den