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Nachdem ich in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt habe, warum der nichtfiktionale Film einen fruchtbareren Boden für die positive Uto-pie darstellt als der SUto-pielfilm, und diese filmische SUto-pielart aufbauend auf Schölderles Modell und Odins semiopragmatischem Ansatz charakterisiert habe, steht im zweiten Teil der Untersuchung die Arbeit am Material im Vordergrund. Ausgehend von den bisherigen Überlegungen werde ich eine Reihe von filmischen Utopien analysieren und ihre Funktionsweise beschreiben.

Dieser Teil hat nicht zum Ziel, eine bestimmte historische Periode, einen Kulturraum oder eine spezifische Spielart des nichtfiktionalen Films umfassend abzudecken. Vielmehr sind die folgenden Kapitel als Schneisen zu verstehen, als Vorstöße aus unterschiedlichen Richtungen in ein noch weitgehend unerforschtes Terrain. Da ich keine umfassende Taxonomie der filmischen Utopie anstrebe, ist der Fokus nicht einheitlich und passt sich dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand an. Widmet sichKapitel 5 mit den Zukunftsfilmen der defa-futurum einem Korpus historisch zu-sammengehöriger Filme, so stehen inKapitel 6Produktionen mit einer propagandistischen Wirkungsabsicht im Zentrum; die Beispiele reichen hier von sowjetischen Produktionen der 1920er-Jahre bis zu IS-Videos aus jüngster Zeit. InKapitel 7gehe ich auf filmische Stadtutopien ein, verfol-ge also einen thematischen Ansatz. InKapitel 8stehen schließlich zwei Beispiele im Zentrum, die das klassische Modell modifizieren respektive unterlaufen.

Die Auswahl der Filme richtet sich ausschließlich danach, ob sie als Untersuchungsobjekt interessant sind, und fällt entsprechend bunt aus.

Voraussetzung ist, dass die Filme einen utopischen Impetus aufweisen, dass die jeweilige Utopie also nicht mehr oder weniger neutral vorgestellt, sondern in affirmativer Weise propagiert wird. Ein Film wie Empire Me – Der Staat bin ich! (Paul Poet, AT/LU/DE 2011), der eine Reihe von Mi-krostaaten porträtiert, diesen gegenüber aber eine freundlich-distanzierte Haltung einnimmt, aber auch Darstellungen utopischer Kommunen wie der Monte-Verità-Film Freak Out! (Carl Javér, NO/DE/DK 2014) oder Meine keine Familie (Paul-Julien Robert, AT 2012), in dem der Regisseur Paul-Julien Robert seine Kindheit in der Kommune Friedrichshof des öster-reichischen Aktionskünstlers Otto Muehl aufarbeitet, sind hier nicht von Interesse. Diese Filme haben zwar Utopien zum Thema, sind selbst aber nicht utopisch.

Darüber hinaus konzentriere ich mich auf gestaltete, in sich abge-schlossene Filme, die als eigenständige mediale Angebote konzipiert wur-den. Abgefilmte Vorträge und als Videos exportierte Präsentationen, von denen es auf YouTube und anderen Videoplattformen viele gibt, werde ich

ebenso wenig berücksichtigen wie Videomaterial, das primär als Illustrati-on in einer umfangreicheren Web-PräsentatiIllustrati-on fungiert.

In einer Kultur, in der bewegte Bilder omnipräsent sind und mehrheit-lich nicht mehr im Kinosaal oder am heimischen Fernsehgerät konsumiert werden, ist die Filmwissenschaft gut beraten, wenn sie sich auch filmischen Formen öffnet, die nicht klassischen Werkcharakter besitzen. Für diese Studie ziehe ich hier aber die Grenze. Mein Untersuchungskorpus ist auch so vielfältig genug; manche in ihm enthaltene Filme sind bekannt und kön-nen sogar als Klassiker gelten, andere sind dagegen ziemlich exotisch und zudem kaum wissenschaftlich bearbeitet. Länge und Machart variieren ebenfalls und reichen von mit einfachen Mitteln hergestellten Kurzfilmen bis zu aufwendigen Produktionen von Spielfilmlänge.

Die Verbindung der Modelle Schölderles und Odins gibt mir ein Instru-mentarium an die Hand, das es erlaubt, die Filme formal, inhaltlich sowie in ihrem historischen Produktions- und Rezeptionskontext zu beschreiben.

Da mein Untersuchungskorpus sehr disparat ist, werde ich unterschied-liche Schwerpunkte setzen und je nach Film und Kontext mehr formale, thematische oder historische Aspekte betonen.

Obwohl die Abfolge der Kapitel einer übergeordneten Dramaturgie folgt und sie in der Summe einen größeren Bogen beschreiben, sind die ein-zelnen Kapitel weitgehend als in sich abgeschlossene Einheiten konzipiert und sollten jeweils für sich alleine verständlich sein.

Der Zukunftsfilm als Nichtspielfilm – wie wir ihn verstehen – ist […] enga-giert für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich, und zwar immer unter der zwingenden Konsequenz, dem Betrachter die Verantwortlichkeit für seine Zukunft als untrennbar verbunden mit der Perspektive aller

Men-schen zu erklären. (Hellwig/Ritter 1975: 159)

Was in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, erinnert an die Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln. Zwar ist nicht von der Utopie oder vom utopischen Film die Rede, aber der «Zukunftsfilm», um den es hier geht, scheint in ähnlicher Weise mit der Gegenwart verbunden, wie ich es für die Utopie postuliert habe. Und nicht nur das. Der geforderte Zukunftsfilm soll ein engagierter «Nichtspielfilm», also ein nichtfiktionaler Film sein, der dem Publikum seine Verantwortung für die Zukunft vor Augen führt, der es aktivieren will.

Die zitierte Passage stammt aus der gemeinsam von Joachim Hellwig und Claus Ritter verantworteten DissertationErkenntnisse und Probleme, Methoden und Ergebnisse bei der künstlerischen Gestaltung sozialistischer Zu-kunftsvorstellungen im Film unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen der AG defa-futurum. Bei der 1975 an der Karl-Marx-Universität Leipzig angenommenen Arbeit handelt es sich um ein in verschiedener Hinsicht ungewöhnliches Dokument. Was Hellwig und Ritter verfassten, würde man heute wohl als das Ergebnis kollaborativerpractice-based research be-zeichnen. Die beiden Autoren, die seit 1961 bei zahlreichen Film- und Buchprojekten zusammengearbeitet haben, formulieren darin ausgehend von ihren praktischen Erfahrungen ein Modell des Zukunftsfilms. Zwar meiden sie den Begriff der Utopie – auf die Gründe werde ich später noch eingehen –, dennoch weist der von ihnen geforderte Zukunftsfilm zahl-reiche Parallelen zu dem hier entwickelten Konzept des nichtfiktionalen utopischen Films auf.

Was die Arbeit Hellwigs und Ritters besonders interessant macht, ist, dass sie nicht bei der bloßen theoretischen Herleitung Halt macht; die ge-meinsame Dissertation ist vielmehr eine Art nachgeschobenes Gründungs-dokument der künstlerischen Arbeitsgemeinschaft futurum, der Hellwig vorstand. Die künstlerischen Arbeitsgruppen (AG) stellten innerhalb der DEFA, der staatlichen Filmproduktion der DDR, Pools von Regisseuren, Dramaturgen und technischem Personal dar, die für die Herstellung der Filme verantwortlich zeichneten. Die AG waren Ende der 1950er-Jahre nach dem Vorbild der künstlerischen Kollektive in der polnischen staatlichen Filmproduktion Film Polski eingeführt worden. Zu Beginn führten die

AG zu einer gewissen Dezentralisierung und Autonomie. Nach dem 11.

Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 – oft als ‹Kahlschlag-Plenum›

bezeichnet –, in dessen Folge zwölf DEFA-Produktionen verboten wurden und welches für das gesamte Kulturschaffen in der DDR weitreichende Konsequenzen hatte, nahmen die AG eine gegenteilige Rolle ein.1Die Re-gisseure wurden zurückgestuft, während die Rolle von Dramaturg und Produktionsleiter deutlich aufgewertet wurde. Der Dramaturg rapportier-te nun regelmäßig der Studioleitung und srapportier-tellrapportier-te so die Linientreue der produzierten Filme sicher (Ivanova 2011: 94 ff.).

Ziel der AG defa-futurum, die auf Weisung des Stellvertreters des Ministers für Kultur, Günter Klein, am 1. Juni 1971 ihre Arbeit aufnahm, war es, das zu produzieren, was Hellwig und Ritter in ihrer Dissertation später noch ausführlich theoretisch entwickeln würden: Den sozialistischen Zukunftsfilm. Der Gründung der AG waren mehrere Versuche Hellwigs vorausgegangen, Zukunftsfilme zu realisieren. In der Dissertation führt er Erzählungen aus der neuen Welt (Richard Cohn-Vossen/Joachim Hellwig/Massimo Mida, DDR 1968) als frühes Beispiel an.21969 entstand dann – noch im Rahmen der AG Profil – das Drehbuch zum nicht realisier-ten abendfüllenden Dokumentarfilm Reise ins 3. Jahrtausend (Hellwig/

Ritter 1969); ein Jahr drauf folgte Abenteuer Zukunft, der ebenfalls nicht über die Drehbuchphase hinauskam.

Organisationstechnisch stellte defa-futurum eine Besonderheit dar.

Die DEFA bestand zu diesem Zeitpunkt aus dem Studio für Kurzfilme, dem Studio für Trickfilme und dem Studio für Spielfilme, die jeweils als eigenständige Volkseigene Betriebe agierten. Das Studio für Kurzfilme, dem defa-futurum angehörte, war 1969 aus dem Zusammenschluss des Studios für Wochenschau und Dokumentarfilm und des Studios für popu-lärwissenschaftliche Filme entstanden. Diese auf den ersten Blick seltsame Einteilung – die Länge eines Films sagt ja nichts über seinen fiktionalen Status aus –, erklärt sich dadurch, dass im Kino der DDR die verschiedenen nichtfiktionalen Formen meist als kurze Vor- oder Begleitfilme vor den lan-gen Spielfilmen gezeigt wurden.3Später wurde das Studio für Kurzfilme in Studio für Dokumentarfilme umbenannt. Obwohl sie dem für

nichtfiktio-1 Siehe zum 11. Plenum Agde (2000), Kötzing/Schenk (2015).

2 Dieser Episodenfilm war anlässlich des 150. Geburtstags von Karl Marx entstanden;

die letzte Episode mit dem Titel Söhne des Prometheus oder e=m·c2erzählt die Ge-schichte eines «usbekischen Jungen, der nach Akademgorod in Sibirien zum Studium der Physik delegiert ist» (Hellwig/Ritter 1975: 139).

3 Im DDR-Kino wurde zwischen Vor- und Begleitfilm unterschieden. Während Ersterer eine kostenlose Dreingabe zum Hauptfilm darstelle, mussten sich Kinogänger aktiv für den Begleitfilm entscheiden und zusätzlich dafür bezahlen.

nale Filme zuständigen Kurzfilmstudio angehörte, war defa-futurum «als kulturpolitisches und künstlerisches Zentrum für die Stoffentwicklung und die Produktion von Zukunftsfilmen aller Gattungen und Genres» (Klein 1971: 1) verantwortlich. Um diesem Auftrag nachkommen zu können, be-standen Verträge mit den übrigen Studios.

Das Konzept des Zukunftsfilms als Nichtspielfilm wurde von Hellwig und Ritter somit nicht nur theoretisch hergeleitet, sondern auch praktisch umgesetzt. Auf jeden Fall war dies der Anspruch der defa-futurum. Gerecht wurden die tatsächlich realisierten Filme dieser Vorgabe zwar bestenfalls im Ansatz, doch handelt es sich um ein für meine Zwecke aufschlussreiches Beispiel, auf das ich ausführlicher eingehen werde. Dabei werde ich mich ausgehend von Hellwigs und Ritters Dissertation auf den nichtfiktionalen Film konzentrieren; die defa-futurum-Spielfilme werden dagegen nicht vertieft behandelt.4

Mit Ausnahme eines Artikels von Sonja Fritzsche (2006) existiert keine wissenschaftliche Literatur zu defa-futurum. In den gängigen Darstellun-gen zur DEFA ist von der AG – wenn überhaupt – nur in Nebensätzen die Rede. Die folgenden Ausführungen stützen sich deshalb im Wesentlichen auf eigene Recherchen im Bundesarchiv Lichterfelde, wo der schriftliche Nachlass der DEFA aufbewahrt wird.5

Zu Joachim Hellwig, der treibenden Kraft hinter dem Unternehmen, wurde ebenfalls wenig publiziert. In einer Kurzbiografie auf der Website der DEFA-Stiftung – in der defa-futurum nur mit einem Satz erwähnt wird –, wird er als «einer der Großfilmer der DEFA» bezeichnet, als «Propagandist, der die Glaubensinhalte des sozialistischen Staates unbefragt in zahlreichen Filmen bebildert» (Walk 2018) habe. Filme wie Ein Tagebuch für Anne

4 Ursprünglich hatte defa-futurum den ehrgeizigen Plan, neben nichtfiktionalen Filmen im Schnitt alle anderthalb Jahre einen Spielfilm zu produzieren, eine Vorgabe, die deut-lich verfehlt wurde. Im Bundesarchiv Lichterfelde findet sich eine Reihe von Exposés und Drehbuchentwürfen für Spielfilme, realisiert wurden aber effektiv nur zwei. Ob-wohl mancherorts auch Signale – Ein Weltraumabenteuer (Gottfried Kolditz, DDR/

PL 1970) und Eolomea (Herrmann Zschoche, DDR 1972) als defa-futurum-Filme auf-geführt werden, sind einzig Im Staub der Sterne (Gottfried Kolditz, DDR 1976) sowie Das Ding im Schloß (Gottfried Kolditz, DDR 1979) unter der Schirmherrschaft der AG entstanden. Während Das Ding im Schloß nur in Archiven verfügbar und ent-sprechend wenig bekannt ist, existiert zu Im Staub der Sterne einiges an wissenschaft-licher Literatur; siehe dazu sowie allgemein zum SF-Film in der DDR Wiechmann (1997), Soldovieri (1998), Kannapin (2000), Grisko (2002), Kruschel (2007), Csicsery-Ronay (2010), Fritzsche (2010), Becker (2014), Fisher (2014), Torner (2014).

5 Archivquellen werden, wenn die entsprechenden Angaben vorhanden sind, wie die übrigen Quellen mit Nachname des Verfassers und Veröffentlichungsjahr zitiert. Fehlt ein Verfasser, wird der Titel angegeben. Alle entsprechenden Dokumente sind in der gesonderten Bibliografie ‹Archivquellen› aufgeführt.

Frank (Joachim Hellwig, DDR 1958), So macht man Kanzler (Joachim Hellwig, DDR 1961) oder Kampf um Deutschland (Joachim Hellwig, DDR 1963), die vor der defa-futurum-Zeit entstanden, zielten zumeist darauf ab, die BRD als direkte Weiterführung des NS-Regimes zu diskreditieren und die DDR auf diese Weise als das ‹bessere Deutschland› erscheinen zu lassen (Rother 1996: 96 ff.).6In der verfügbaren Literatur zur DEFA wirkt Hellwig eher wie eine marginale Figur und seine Filme sind primär als Dokumente des Kalten Kriegs von Interesse.

Hellwigs Status innerhalb der DEFA wird dies allerdings nur teilweise gerecht. Seine Filme mögen heute als unbedeutend gelten, zu DDR-Zeiten war er aber keineswegs eine Randfigur. Vielmehr gehörte er zu einem klei-nen Kreis von Regisseuren, die sich gewisse Freiheiten nehmen konnten.

Ausschlaggebend hierfür waren weniger seine Verdienste als Filmemacher als vielmehr seine exzellenten Verbindungen in der Partei; für Hans-Jörg Rother war er «der platteste Opportunist des Studios und darum auch nie um Unterstützung verlegen» (ebd.: 98). Seine Beziehungen ermöglichten es ihm, einen Sonderstatus zu beanspruchen. Nicht nur stellte defa-futurum als AG, die in allen drei Studios produzieren konnte, eine Ausnahme dar;

die Büros der Arbeitsgruppe waren zudem entgegen den üblichen Gepflo-genheiten nicht in einem der Studios, sondern in einem Gebäude außerhalb angesiedelt. Hellwig verfügte dadurch über eine gewisse Autonomie, wie sie nur wenige andere Regisseure besaßen (Steinkopff 2017).7

Obwohl Rother ihn als Opportunisten bezeichnet, war Hellwig – hier-in shier-ind sich die Quellen ehier-inig – ehier-in überzeugter Anhänger der Partei. In einer DEFA-internen Beurteilung heißt es dazu: «Großes Gewicht legt Dr.

Joachim Hellwig auf die Übereinstimmung zwischen ideologischer Auf-gabenstellung und Massenwirksamkeit des Films» (Wedegärtner 1976: 2).

Der Regisseur Richard Cohn-Vossen, der unter anderem bei Erzählungen aus der neuen Welt mit Hellwig zusammenarbeitete, erwähnt in einem Interview einen Spruch, der zu Hellwig kursierte: «die Partei sei für ihn wie die eigene Mutter» gewesen (in Poss/Mückenberger/Richter 2012: 237).

5.1 Der sozialistische Zukunftsfilm

Dass Hellwig und Ritter in ihrer Disseration vom Zukunftsfilm und nicht vom utopischen Film sprechen, ist kein Zufall, denn der Begriff

6 Siehe zu den Filmen Prase (2006: 86–94), Rother (1996: 96 ff.).

7 Hellwigs gute Beziehungen zeigen sich auch in der Dissertation. Die Seiten 54 bis 58 sind als «Vertrauliche Verschlußsache» gekennzeichnet und fehlen in den verfügbaren

der Utopie erweist sich für sie gleich in mehrfacher Hinsicht als heikel.

Einerseits kämpfen sie mit den bekannten terminologischen Problemen.

‹Utopischer Roman› und ‹utopischer Film› werden von ihnen und den Quellen, die sie zitieren, regelmäßig als Synonym für SF benutzt. Ins-gesamt scheint die Bezeichnung in der DDR noch länger gebräuchlich gewesen zu sein als in der BRD. Wohl nicht zuletzt, weil man sich von der westlich-kapitalistischen SF abgrenzen wollte, ist in zahlreichen zeit-genössischen Quellen im Zusammenhang mit Werken, die man heute der SF zurechnet, von utopischer Literatur respektive Filmen die Rede.8Auch DEFA-intern war die Bezeichnung fest etabliert. So bemängelt eine Be-standesaufnahme der AG Filmbeschaffung vom 7. April 1971, dass für das fragliche Jahr «noch die Genres utopischer Film/Abenteuerfilm» fehlen;

im Sinne «einer vielseitigen Spielplangestaltung» wird «nachdrücklich die weitere Entwickung der niveauvollen Unterhaltung» gefordert (AG Filmbeschaffung 1971: 5).

Defa-futurum hatte die Aufgabe, diesen Missstand zu beheben. Aller-dings tun sich Hellwig und Ritter schwer mit der Genrebezeichnung, denn das Konzept der Utopie bereitet ihnen auch jenseits von terminologischen Fragen auf einer grundsätzlichen Ebene Kopfzerbrechen. Dass der orthodo-xe Marxismus ein schwieriges Verhältnis zur utopischen Literatur hat, habe ich bereits erwähnt. Obwohl Schriften wie dasManifest der Kommunistischen Parteizumindest teilweise in der utopischen Tradition stehen, waren Marx und Engels darum bemüht, ihren wissenschaftlichen Sozialismus von den Entwürfen der utopischen Frühsozialisten abzugrenzen. Diese hatten sich als Vorläufer des Sozialismus zwar verdient gemacht, der Detailreichtum ihrer Entwürfe entwertete diese aber, ließ sie als letztlich unreife Fanta-siegebilde erscheinen (→S. 46). Der Historische Materialismus konnte als ernsthafte Wissenschaft gar nicht den Anspruch haben, die Zukunft detail-liert vorauszusagen; er lieferte bloß Einsichten in die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Prozesses.

Für einen sozialistischen Staat wie die DDR stellten Utopien darüber hinaus ein Ärgernis dar, denn im real existierenden Sozialismus waren Kopien. Dies deutet darauf hin, dass die Autoren Zugang zu Informationen hatten, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden.

8 Hans-Edwin Friedrich kommt zu einem anderen Befund: «In der DDR wird der Be-griff ‹utopischer Roman› nur mit spitzen Fingern angefasst. Üblich ist hier in erster Linie die alte Gattungsbzeichnung ‹Zukunftsroman›» (2004: 135). Für den Film kann ich dies allerdings nicht nachvollziehen; sowohl in der DDR-Presse als auch DEFA-intern scheint ‹utopischer Film› die gängige Bezeichnung gewesen zu sein; siehe auch Fisher (2014: 181). Ein weiterer oft gebrauchter Begriff, den Friedrich ebenfalls erwähnt, ist der der ‹wissenschaftlichen Phantastik›, der unter anderem in Polen und der Sowjetunion auf eine längere Tradition zurückblicken konnte.

die fundamentalen gesellschaftlichen Probleme ja bereits gelöst, war das, was bei Morus und seinen Nachfolgern noch die Form literarischer Fanta-sien hatte, Wirklichkeit geworden. Wie schon ausgeführt, wird jede klas-sische Utopie zur Dystopie, wenn man sie mit Figuren bevölkert, denen die herrschende Ordnung nicht behagt. Anders ausgedrückt: Wenn die (archistische) Utopie mit etwas nicht umgehen kann, dann mit Utopisten.

Sie sind die Störenfriede, die den Status quo in Frage stellen. Entsprechend hatten die sozialistische Staaten Mühe mit der utopischen Tradition. Zwar berief man sich gerne auf visionäre Ahnen wie Morus, Bacon, Winstanley oder Bellamy; diese waren aber nicht mehr als überwundene Vorstufen mit wenig Relevanz für die Gegenwart.

Der Konflikt zwischen utopischer Tradition und sozialistischer Dok-trin durchzieht Hellwigs und Ritters Dissertation auf mehreren Ebenen.

Insbesondere Hellwig war zwar ausgesprochen linientreu, beide Autoren waren aber auch Kenner der utopischen Literatur. Der Germanist Ritter war sogar ein ausgewiesener Experte, der in den folgenden Jahren drei Monographien zum Thema veröffentlichte (Ritter 1978, 1982, 1987). Ritter ist in der gemeinsamen Studie denn auch von der ersten Seite an – das Ein-stiegskapitel, das sich der Bestimmung des Gegenstandes widmet, stammt von ihm9– darum bemüht, sich von der Utopie abzugrenzen. Leitbegriff seiner folgenden Überlegungen ist ausdrücklich nicht die Utopie, sondern die ‹Zukunft›. Dennoch ist im Folgenden immer wieder von der Utopie die Rede. Einerseits hält Ritter fest, dass die französisch- und englischspra-chigen Klassiker der utopischen Literatur bis Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland kaum rezipiert worden seien. Deshalb habe diese Traditi-on auch keinen nennenswerten Einfluss auf die frühe deutschsprachige SF ausgeübt: «Im deutschsprachigen Raum begründet sich ohne sozial-utopische Tradition der eigentliche ‹Zukunftsroman› am Ausgang des 19.

Jahrhunderts» (Hellwig/Ritter 1975: 7). Autoren deutscher Zukunfsromane, wie Ritter die frühe deutschsprachige SF nennt, etwa Kurd Laßwitz, stün-den nicht in einer utopischen, sondern vielmehr in einer märchenhaften Tradition.

Ob diese Herleitung ihrerseits stichhaltig ist, ist für meine Zwecke we-niger entscheidend als die Tatsache, dass Ritter und Hellwig die utopische Tradition nicht einfach ausblenden, sondern dass diese als Kontrastfolie stets präsent bleibt. Dies zeigt sich auch in ihren Ausführungen zu Bellamys

9 Ritter zeichnet für das erste und das dritte Kapitel, Hellwig für das zweite, das vierte und das fünfte verantwortlich (Hellwig/Ritter 1975: 4). Im Folgenden werde ich, auch der sprachlichen Einfachheit halber, mehrheitlich nicht beide Namen anführen, son-dern nur den für das jeweilige Kapitel verantwortlichen Autor.

Looking Backward, dessen großer Erfolg in Deutschland aus marxistischer Perspektive ein Problem darstellt. Zwar handelt es sich um eine sozialisti-sche Utopie – wobei Bellamy selbst stets darauf bedacht war, den Begriff

‹socialism› zu vermeiden –, aber sie ist eben nicht marxistisch und somit nicht wirklich genehm. Der Erfolg des Romans wird von Ritter mindestens teilweise auf ein Missverständnis zurückgeführt;Looking Backwardsei näm-lich von «bestimmten Schichten der deutschen Bevölkerung nicht als eine sozialistische Utopie verstanden, sondern als amerikanische Verheißung empfunden» worden (Hellwig/Ritter 1975: 14). Dennoch sei Bellamys Ro-man nicht gänzlich wertlos, allerdings liege sein Nutzen vor allem darin, dass er trotz aller Einschränkungen eine positive sozialistische Zukunft

‹socialism› zu vermeiden –, aber sie ist eben nicht marxistisch und somit nicht wirklich genehm. Der Erfolg des Romans wird von Ritter mindestens teilweise auf ein Missverständnis zurückgeführt;Looking Backwardsei näm-lich von «bestimmten Schichten der deutschen Bevölkerung nicht als eine sozialistische Utopie verstanden, sondern als amerikanische Verheißung empfunden» worden (Hellwig/Ritter 1975: 14). Dennoch sei Bellamys Ro-man nicht gänzlich wertlos, allerdings liege sein Nutzen vor allem darin, dass er trotz aller Einschränkungen eine positive sozialistische Zukunft