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DIE UNFALLVERHÜTUNG IM LICHTE DER UNFALLSTATISTIK

Im Dokument TECHNIK UND WIRTSCHAFT (Seite 22-47)

Von Dr. FOEKSCEKE, B erlin .

Jeder, der an der Sicherung der Arbeiter gegen die Unfallgefahren ihrer Berufstätigkeit interessiert ist, wird sich wohl schon die Frage vorgelegt haben, ob die eifrigen Bemühungen und die sehr erheblichen geldlichen Auf­

wendungen zur Bekämpfung der Unfallgefahren nachweisbare Erfolge gehabt haben, d. h. ob unter ihrer Einwirkung die Zahl der Unfälle z u r ü c k g e ­ g a n g e n ist. Es liegt nahe, zur Beantwortung dieser Frage, soweit Deutsch­

land in Betracht kommt, die Unfallstatistik zu Rate zu ziehen, welche vom Reichsversicherungsamte seit dem Bestehen der Unfallversicherung geführt und alljährlich in dessen „Amtlichen Nachrichten“ — für das um zwei Jahre zu­

rückliegende Jahr — veröffentlicht wird. Das Verdienst, die Beantwortung der Frage nach den Erfolgen der Unfallverhütung, für die in Deutschland insbesondere die Gewerbeaufsichtsbeamten, die Berufsgenossenschaften, die Dampfkessel-Überwachungsvereine und auch die Polizeibehörden wirken, zu­

erst in umfassender Weise versucht zu haben, gebührt B a r t e n 1), dem kurz darauf B a u e r und G a r y 2) mit einer Untersuchung ähnlichen Inhaltes folgten, in Anbetracht der großen Mühe, welche die Verarbeitung des außerordentlich umfangreichen Zahlenmateriales der Reichsstatistik zweifellos verursacht hat, g ebührt den Verfassern besonderer Dank dafür, daß sie durch ihre V er­

öffentlichungen wichtige Grundlagen für die Beantwortung der Frage nach den Erfolgen der Unfallverhütung geschaffen haben. Anscheinend angeregt durch diese Arbeiten hat sich in der Folgezeit die Aufmerksamkeit der Fachwelt in besonderem Maße dem Problem der Unfallverhütung im Lichte der Statistik zugewendet, und es ist zu ausgedehnten und lebhaften Er­

örterungen über Bedeutung, W ert, Erfolge, künftige G estaltung usw. der Unfallverhütung in der Fachpresse gekom m en3). Neben diesen A rbeiten, denen das G esam tgebiet der gewerblichen — zum Teil auch der landwirtschaft­

lichen — Unfallstatistik zugrunde lag, haben späterhin einzelne Sonder­

untersuchungen über die Unfallgefahren auf enger begrenzten Gebieten des gewerblichen Lebens weiteren wertvollen Aufschluß über die W irkungen der Unfallverhütung auf die Häufigkeit und Schwere der Unfälle gebracht, so daß heute schon eine nicht unbeträchtliche Literatur über diesen Gegen­

stand vorhanden ist. Es dürfte sich lohnen, mit ihrer Hülfe das End­

ergebnis unseres heutigen Wissens auf diesem Gebiet in unparteiischer Weise zu ziehen, schon aus dern G runde, weil die Ergebnisse der Unfallstatistik recht häufig zu einseitigen oder schiefen Schlußfolgerungen benutzt werden.

*) B a r t e n : Notwendigkeit, Erfolge und Ziele der technischen Unfall- i'erhütung. Berlin-Großlichterfelde 1909.

2) B a u e r und G a r y : 25 Jahre Unfallverhütung (Schriften des Vereines Deutscher Revisions-Ingenieure Nr. 10). Berlin 1910.

«) Sozral-Technik 1909 S. 41 u. f., S. 106 u. f., S. 161 u. f., S. 177 u. f.

4

336 ABHANDLUNGEN

W enn sich die folgenden Ausführungen auf die Unfälle in der Industrie und im G ew erbe beschränken, so ist dafür außer dem Streben nach Kürze das weit höhere Interesse m aßgebend, das dieser Kategorie von Unfallgefahren bislang entgegengebracht w orden ist, und das vor allem in der auf in­

dustriellem G ebiet bereits weit fortgeschrittenen technischen Unfallverhütung zum Ausdruck kommt. Es ist darum zu verm uten, daß die W irkungen der Unfallverhütung auf diesem G ebiet am deutlichsten erkennbar sein werden.

I.

Die Statistik des Reichsversicherungsam tes, die wie gesag t das Material zur Beurteilung der U n f a l l h ä u f i g k e i t in der gesam ten deutschen In­

dustrie seit dem Bestehen der Unfallversicherung enthält, unterscheidet zwei H auptkategorien von Unfällen:

1. Die innerhalb jedes Jahres „gem eldeten“ Unfälle. Anmeldepflichtig sind nach dem G esetz alle Unfälle, die Arbeitsunfähigkeit von m ehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge gehabt haben, und zwar enthält die Statistik sowohl die absoluten Unfailzahlen wie die Unfallhäufigkeit, berechnet auf je 1000 Versicherte und — seit 1897 — auch auf je 1000 V ollarbeiter4) (relative LInfailhäufigkeit).

2. Die Zahl der im Laufe des Jahres e r s t m a l i g e n t s c h ä d i g t e n Unfälle, und zwar ebenfalls ihrer absoluten und relativen Höhe nach Die „entschädigungspflichtigen“ Unfälle bilden einen Teil der „gem el­

deten“ Unfälle, es sind nach dem G esetz alle diejenigen, welche den Tod oder Erw erbsunfähigkeit (völlige oder teilweise) von mehr als 13 W ochen zur Folge hatten, sie umfassen mithin die schwereren V er­

unglückungen.

Stellt man die Zahl der g e m e l d e t e n Unfälle seit dem Bestehen der Unfallversicherung in Kurvenform (vergl. Abbildung 1) zusammen, so ergibt sich, daß diese Zahl absolut wie relativ fortdauernd zugenommen hat. Das W achstum der a b s o l u t e n Zahl der gem eldeten Unfälle ist aus dem G runde nicht auffällig, weil auch die Zahl der versicherten P ersonen ständig gewachsen ist. Von größerer Bedeutung ist dagegen die Zunahm e auch der r e l a t i v e n Zahl der gem eldeten Unfälle. Allerdings weist der Verlauf dieser Unfallkurve seit dem Jahre 1906 eine bem erkensw erte Ä nderung auf, da er sich seitdem mehr in w agerechter Richtung vollzieht. Man wird ab- warten müssen, wie er sich in Zukunft gestalten wird, insbesondere, ob die Kurve schließlich eine fallende Richtung annehm en wird. Stellt man in der­

selben Abbildung der Kurve der „gem eldeten“ die Kurve der „entschädigungs­

pflichtigen“ Unfälle gegenüber, so zeigt sich, daß die letztere wesentlich anders verläuft, insbesondere sehr viel w eniger steil ansteigt als jene.

Es sei beiläufig bem erkt, daß es für den hier in Betracht kommenden Zweck, den Einfluß der Unfallverhütung aus den Ergebnissen der Unfall­

statistik nachzuweisen, ohne große Bedeutung ist, ob die Zahl der Unfälle, bezogen auf je 1000 V e r s i c h e r t e oder auf je 1000 V o l l a r b e i t e r ,

4) Die Zahl der Vollarbeiter ergibt sich, wenn man die Zahl der von sämtlichen versicherten Arbeitern geleisteten A rbeitstage (Arbeitschichten) durch 300 (das ist die durchschnittliche Zahl der A rbeitstage im Jahr) teilt.

337 An und für sich gibt die Un­

zweifellos einen zuverlässigeren

SDOOOO

woooo

300000

zooooo der Untersuchung zugrunde gelegt wird,

fallzahl, bezogen auf je 1000 Vollarbeiter, Maßstab für die Beurteilung der s s

Unfallhäufigkeit zu einem be­

stimmten Zeitpunkt. H andelt es sich jedoch, wie hier, lediglich so darum, den V e r l a u f der Kur­

ven, d. h. ihr Steigen und Fallen während des ganzen in Betracht kommenden Zeitraumes ins Auge zu fassen, so kann man, ohne w einen nennensw erten Fehler zu begehen, die U ntersuchung auf die Zahl der Unfälle, bezogen auf s s je 1000 Versicherte, beschränken.

Denn w enn man — für die Ge- samtheit der Berufsgenossen­

schaften — beide Kurven in einem Schaubild vereinigt, so 25 zeigt es sich, daß sie annähernd parallel laufen5). Auch aus dem Grunde dürfte es zweckmäßig 20 sein, nur die Zahl der Unfälle auf je 1000 Versicherte zu berück- 75 sichtigen, weil diese für säm t­

liche Jahre seit dem Bestehen der Unfallversicherung bekannt ist, die Zahl der Unfälle auf je 1000 Vollarbeiter dagegen erst seit dem Jahre 1897.

Welche Schlüsse lassen sich nun aus dem Verlauf der Kurve der gemeldeten Unfälle auf die Wirkungen der Unfallverhütung

ziehen? Man wird sich bei der Beantwortung dieser Frage vergegenwärtigen müssen, welche Faktoren außer der Unfallverhütung etwa noch auf den Verlauf dieser Kurve von Einfluß sein könnten. In dieser Beziehung ist vor allem daran zu erinnern, daß die Zahl der gemeldeten Unfälle in erheblichem Maße von dem subjektiven Ermessen der zur Anmeldung verpflichteten Personen ab­

hängt. Das Reichsversicherungsamt ist der Ansicht, daß trotz der langjährigen Geltung der Unfallversicherungsgesetze immer noch eine Anzahl von U n­

fällen nicht gem eldet werde. „Die Mitteilung aller Unfälle, die den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit des Verletzten von mehr als drei Tagen zur Folge haben . . . , ist zwar gesetzlich vorgeschrieben, ein Teil dieser U n­

fälle . . . wird aber immerhin trotzdem nicht zur Anmeldung gelangen, und cs ist deshalb anzunehmen, daß die . . . angegebenen Gesamtzahlen der

KSS5

zooooo

°) Vergl. die Abbildungen bei B a u e r und G a r y a. a. O. S. 8 und 11.

4*

338 A B H A N D L U N G E N

Unfälle im allgemeineil noch hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben.“ 6) Dem ­ gegenüber ist w iederholt von den G ewerbeaufsichtsbeam ten hervorgehoben worden, daß aus naheliegenden G ründen häufig auch die geringfügigsten, an sich gar nicht anmeldepflichtigen Unfälle zur Anmeldung gelangen, und daß das Anwachsen der Unfallzahlen zum Teil eine Folge der gegenüber früheren Jahren weit gew issenhafter ausgeübten Anmeldepflicht sei. Daraus aber e r­

wächst bei der Beurteilung der Frage, ob aus der Kurve der gemeldeten Unfälle (bezogen auf je 1000 Versicherte) bestim m te Schlüsse auf die W ir­

kungen der U n f a l l v e r h ü t u n g gezogen werden können, eine gewisse Unsicherheit, die zuverlässige Folgerungen unmöglich macht. An sich liegt es nahe, aus der seit dem Jahre 1906 anscheinend vorhandenen N eigung der Kurve, einen w eniger steil ansteigenden Verlauf zu nehmen, auf den günstigen Einfluß der U nfallverhütung zu schließen. Wenn es jedoch zutrifft, daß das früher beobachtete Steigen der Kurve von der immer vollständigeren Erfül­

lung der Anmeldepflicht herrührt, so würde sich der Stillstand in der A b ­ w ärtsbewegung der Kurve auch in der W eise erklären lassen, daß in den letzten Jahren im großen und ganzen alle anmeldepflichtigen Unfälle auch tatsächlich gem eldet wurden. Das m üßte offenbar darin zum Ausdruck kom­

men, daß die Kurve seitdem weniger steil als in früheren Jahren ansteigt oder w agerecht verläuft. Den veränderten C harakter der Kurve a l l e i n dem Einfluß der Unfallverhütung zuzuschreiben, w äre zweifellos ein gew agter Schluß. Die Unfallverhütung k a n n nach dieser Richtung von Einfluß g e­

wesen sein, und es ist vielleicht sogar wahrscheinlich, daß sie es gewesen ist. Diese W ahrscheinlichkeit verdichtet sich jedoch keinesw egs bis zur G e­

wißheit, ganz abgesehen davon, daß der w eitere Verlauf der Kurve noch ungewiß ist.

II.

In der Regel werden, um den Einfluß der U nfallverhütung nachzuweisen, die entschädigungspflichtigen Unfälle der U ntersuchung zugrunde gelegt, da sie im allgemeinen als geeigneter für diesen Zweck gelten als die g e ­ meldeten Unfälle — ob mit Recht, darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Jedenfalls wird man kaum bestreiten können, daß Erfolge der U n­

fallverhütung schließlich auch in der Statistik der g e m e l d e t e n Unfälle zum Ausdruck kommen müssen. Jedoch bietet die Statistik der entschädi­

gungspflichtigen Unfälle insofern die U nterlage für eine bessere Erkenntnis und Beurteilung des Einflusses der Unfallverhütung, als sie die Unfälle in nach den Unfall f o l g e n geordnete U ntergruppen zerlegt enthält und dadurch ein tieferes Eindringen in die M aterie und interessantere Schlußfolgerungen gestattet. Das Reichsversicherungsam t unterscheidet innerhalb der entschä­

digungspflichtigen Unfälle v i e r Kategorien, nämlich Unfälle, welche 1. den Tod,

2. dauernd völlige Erwerbsunfähigkeit, 3. dauernd teilweise Erw erbsunfähigkeit und 4. vorübergehende Erwerbsunfähigkeit

6) Vergl. z. B. Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsam tes 1913, Seite 5.

zur Folge hatten. Zahlentafel 1 und Abb. 2 zeigen im einzelnen die Entwick­

lung, welche diese Unfallkategorien seit dem Beginn der Unfallversicherung bis zum Jahre 1912 genommen haben.

Z a h l e n t a f e l 1 . 7) Unfallfolgen.

fahr

Aul je 1000 Versicherte ereigneten sich erstm alig entschädigte Uniälle, die zur

Folge hatten:

Aut je 1000 V ersicherte ereigneten sich erstm alig entschädigte Unfälle, die zur

Folge hatten:

Erw erbsunfähigkeit Jah r Erwerbsunfähigkeit

Tod dauernde

völlige 1“ I w eise vor­

über­

gehende ins­

gesam t

Tod daue

völlige rndc

teil­

w eise vor­

über­

gehende ins­

gesam t

1386 0,70 0,44 1,09 0,57 2,80 1900 0,74 0,08 3,58 3,06 7,46 1887 0,77 0,73 2,10 0,54 4,14 1901 0,72 0,09 3,80 3,46 8,07 1888 0,68 0,43 2,38 0,86 4,35 1902 0,64 0,08 3,76 3,58 8,06 1889 0,71 0,49 2,70 0,81 4,71 1903 0,63 0,08 3,68 3,72 8,11 1890 0,73 0,37 3,29 0,97 5,36 1904 0,63 0,08 3,68 3,92 8,31 1891 0,71 0,32 3,42 1,10 5,55 1905 0,63 0,07 3,59 4,05 8,34 1892 0,65 0,30 3,55 1,14 5,64 1906 0,63 0,07 3,49 4,07 8,26 1893 0,69 0,27 3,82 1,25 6,03 1907 0,68 0,06 3,36 4,26 8,36 1894 0,65 0,16 3,82 1,62 6,25 1908 0,67 0,06 3,26 4,37 8,36 1895 0,67 0,15 3,57 1,85 6,24 1909 0,62 0,05 2,86 4,35 7,88 1S96 0,71 0,10 3,53 2,38 6,72 1910 0,56 0,05 2,54 4,24 7,39 1897 0,70 0,10 3,52 2,59 6,91 1911 0,59 0,04 2,32 4,20 7,15 1898 0,73 0,08 3,54 2,75 7,10 1912 0,65 0,03 2,32 4,32 7,32 1899 0,72 0,09 3,58 3,00 7,39

733S 7390 7395 7300 7905 7970

Abb. 2.

7) Zusammengesteilt nach B a r t e n a. a. O. S. 69, B a u e r und G a r y a. a. O. (Haupttabelle A) und den Amtlichen Nachrichten des Reichsversiche­

rungsamtes.

340 A B H A N D L U N G E N

Es ergibt sich daraus, daß die relative Zahl der T o d e s f ä l l e (berech­

net auf je 1000 V ersicherte) im Laufe der Jahre etwas abgenom m en hat.

Die Kurve dieser Unfälle zeigt, als Ganzes betrachtet, einen von der W age­

rechten nur w enig abweichenden Verlauf.

Die relative Zahl der Unfälle, die d a u e r n d v ö l l i g e E r w e r b s u n ­ f ä h i g k e i t zur Folge hatten, zeigt, w enn man ihre gesam te Entwicklung ins Auge faßt, eine fortgesetzte, sehr deutliche Abnahme.

Die relative Zahl der Unfälle, welche d a u e r n d teilweise E rw erbsun­

fähigkeit nach sich zogen, stieg bis zum Jahre 1893 ständig, zeigt von da ab bis zum Jahre 1901 — mit einer kleinen Einsenkung — einen w age­

rechten Verlauf und ist seit dem letztgenannten Jahre sehr beträchtlich gefallen.

Die relative Zahl der Unfälle, welche v o r ü b e r g e h e n d e E r w e r b s ­ u n f ä h i g k e i t zur Folge hatten, ist bis zum Jahre 1908 ständig und sehr erheblich gew achsen, scheint aber in dem genannten Jahre — sow eit sich bisher übersehen läßt — ihren H öhepunkt erreicht zu haben und hat sich seitdem annähernd auf gleicher H öhe gehalten.

Vom Standpunkte der Unfallverhütung aus ist nun die entscheidende Frage diese: Ist die Abnahme der relativen Unfallzahlen, sow eit sie bei den einzelnen Kategorien der entschädigungspflichtigen Unfälle wahrzunehmen ist, dem Einfluß der U n f a l l v e r h ü t u n g zuzuschreiben? Die .Antwort könnte nur dann unbedingt bejaht werden, wenn die U nfallverhütung der einzige Faktor wäre, der auf den Verlauf dieser Zahlenreihen und Kurven von Einfluß ist, das aber ist nicht der Fall. Außer der Unfallverhütung sind noch andere Einflüsse wirksam, deren G röße und Richtung erst einzeln erörtert w erden muß, bevor jene Frage beantw ortet w erden kann.

Zunächst ist zu berücksichtigen, daß die bei der Aufstellung der U n­

fallstatistik zu beobachtenden G r u n d s ä t z e nicht immer die gleichen ge­

wesen oder nicht immer von allen Beteiligten e i n h e i t l i c h u n d g l e i c h ­ m ä ß i g gehandhabt w orden sind. Man könnte verm uten, daß dieser Um­

stand nur von verhältnism äßig untergeordneter Bedeutung sei, doch ist das keineswegs der Fall. Welche Bedeutung einheitliche G rundsätze für die Auf­

stellung der Unfallstatistik haben und wie wichtig insbesondere ihre gleich­

mäßige Anwendung durch die V ersicherungsträger für die Ergebnisse der Unfallstatistik ist, läßt sich aus der B egründung zum E ntw urf der Reichs­

versicherungsordnung8) ersehen. Es wird dort ausgeführt, daß die ersten Vorschriften über die Aufstellung der Rechnungsergebnisse durch die Be­

rufsgenossenschaften im Jahre 1888 erlassen wuirden 9) und zum erstenmal bei der Aufstellung der Unfallstatistik des Jahres 1888 zur W irksam keit kamen.

„Sie hatten zur Folge,“ so heißt es an der genannten Stelle w eiter, „daß die Fälle dauernd völliger Erwerbsunfähigkeit auf 1000 V ersicherte (vergl. Zahlen- tafel 1) von 0,73 im Jahre 1887 auf 0,43 im Jahre 1888 zurückgingen, w äh­

rend die Zahl der leichteren Unfälle zunahm.“ Später gab das Reichsver­

sicherungsam t, da bei der Aufstellung der U nfallstatistik noch immer ur.-8) Stenographische Berichte des Reichstages 1909/10, Anlagen Nr. 340, S. 588.

9) Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsam tes 1888, S. 260 bis 265 (Ziff. 34).

U N F A L L V E R H Ü T U N G U N D U N F A L L S T A T I S T I K 341 gleichmäßig verfahren wurde, nochmals eine genauere Anleitung zur Auf­

stellung der Statistik h e ra u s 10). Diese neue Anleitung, „welche ihre W irk­

samkeit erstm alig in den Zahlen des Jahres 1894 zeigte“ , so fährt die Be­

gründung fort, „hat ein Fallen der Zahl auf 1000 Versicherte von 0,27 auf 0,16 zur Folge gehabt. Vom Jahre 1898 scheinen sich einheitliche G rundsätze m der Beurteilung der Unfallfolgen herausgebildet zu haben.“ Damit ist der Nachweis erbracht, daß der Rückgang der Unfallzahlen dieser Unfallkategorie, die schon verhältnism äßig früh deutlich die Neigung zur Abnahme erkennen ließ, gerade an den beiden Stellen, an denen die Abnahme am stärksten hervortritt, n i c h t auf die Unfallverhütung, sondern im wesentlichen auf die H andhabung der Grundsätze für die Aufstellung der Unfallstatistik zu­

rückzuführen ist.

Daß die Frage nach dem Einfluß der Unfallverhütung auf G rund der unfallstatistischen Ergebnisse mit gewisser Vorsicht beantw ortet werden muß, wenn man nicht zu einseitigen Schlußfolgerungen gelangen will, mag auch daraus ersehen werden, daß im besonderen der Verlauf, den die Zahlen­

reihe der Unfälle mit dauernd völliger Erwerbsunfähigkeit aufweist, ganz verschieden ist je nach dem Z e i t p u n k t , an dem die B e u r t e i l u n g der Unfallfolgen stattfindet. In Zahlenreihe 2 sind die Unfälle mit dauernd völliger Erwerbsunfähigkeit auf G rund der Beurteilung zu zwei verschiedenen Z eit­

punkten wiedergegeben. Die erste Spalte stellt das Ergebnis der erstmaligen Beurteilung — entsprechend den Zahlen in Zahlentafel 1 — dar, die zweite Spalte das Ergebnis der abgeschlossenen Beurteilung, d. h. 4 bis 5 Jahre nach der ersten Beurteilung. Es zeigt sich, daß der Verlauf der beiden Zahlen­

reihen bis zum Jahre 1895 wesentlich voneinander ab weicht, im ersten Fall ist ein starker, im zweiten Falle nur ein leichter Rückgang der Unfallzahlen festzustellen. Das beweist, daß nicht die Unfallverhütung allein die U r­

sache für die Abnahme der Unfälle mit dauernd völliger Erwerbsunfähigkeit, wie sie aus Zahlentafel 1 und Abb. 2 ersichtlich ist, sein kann. Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß die Unfallverhütung nicht gleich­

falls auf den Verlauf der Zahlenreihen in günstigem Sinn eingewirkt hat - was man sogar mit ziemlicher Gewißheit wird annehmen dürfen —, son­

dern es soll nur darauf hingewiesen werden, daß außer der Unfallverhütung noch andere Umstände wirksam sind, deren Bedeutung man nicht über­

sehen darf.

Als zweiter w irksamer Faktor, der auf die Unfallstatistik von Einfluß ist, kommt die R e c h t s p r e c h u n g in Betracht. Von der Rechtsprechung hängt es zum guten Teil ab, welche Unfälle als „entschädigungspflichtig“ zu gelten haben und welche von ihnen insbesondere unter die Kategorie der Unfälle mit „dauernd völliger“ , „dauernd teilweiser“ oder „vorübergehender“

Erwerbsunfähigkeit zu rechnen sind. Nur in dem Falle, daß die Recht­

sprechung während der ganzen G eltungsdauer der Unfallversicherungsgesetz­

gebung immer die gleichen G rundsätze in der Beurteilung der Unfallfolgen innegehalten hätte, würde sie auf den Verlauf der Kurven der Abbildung 2 und der Zahlenreihen der Übersicht 1 ohne Einfluß sein. Nun ist jedoch bekannt, daß sich in der Beurteilung der Unfallfolgen im Laufe der Jahre insofern eine

!0) E b e n d o r t 1895, S. 131 u. f.

342 A B H A N D L U N G E N Z a h I e n t a f e 1 2. n )

Unfälle m it dauernd völliger Erw erbsunfähigkeit auf je 1000 Versicherte.

Jah r erstm alige B eurteilung

(1. Jahr)

ab­

geschlossene Beurteilung

(5. Jah r)

J a h r erstm alige B eurteilung

(1. Jah r)

ab­

geschlossene Beurteilung

(5. Jah r)

1886 0,44 0,09 1898 0,08 0,09

1887 0,73 0,13 1899 0,09 0,08

1888 0,43 0,14 1900 0,08 0,08

1889 0,49 0,13 1901 0,09 0,08

1890 0,37 0 ,1 2 1902 0,08 0,08

1891 0,32 0 ,1 2 1903 0,08 0,08

1892 0,30 0 ,1 2 1904 0,08 0,07

1893 0,27 0 ,1 2 1905 0,07 0,06

1894 0,16 0 ,1 2 1906 0,07 0,05

1895 0,15 0 ,1 0 1907 0,06 0,05

1896 1897

0 ,1 0 0 ,1 0

0 ,1 0

0,09

1908 1909 1910

0,06 0,05 0,05

0,05 0,04 0,05

veränderte Auffassung herausgebildet hat, als in neuerer Zeit der G e w ö h ­ n u n g an die Unfallfolgen eine sehr große Bedeutung zuerkannt worden ist. „D as Reichsversicherungsam t,“ so führt hierüber V erw altungsdirektor L o h m a r 12) aus, „hat der immer stärker sich aufdrängenden E rfahrung des praktischen Lebens, daß manche w eniger schwere Verietzungsfolgen, die früher regelmäßig dauernd entschädigt wurden, vor allem der V erlust einzelner Finger oder Fingerglieder, auf die Erw erbsunfähigkeit nach E intritt völliger G e - w ö h n u n g und Anpassung von keinem oder doch von geringerem Einfluß sind, als ursprünglich angenom m en wurde, Rechnung getragen, infolge­

dessen sind im Laufe der letzten Jahre zahlreiche Renten aufgehoben oder herabgesetzt w orden.“ Von gew isser Seite führt man sogar den Rück­

gang der entschädigungspflichtigen Unfälle, sow eit er bisher wahrzunehmen ist, einzig und allein auf diesen Einfluß der veränderten Rechtsprechung zu­

rück. G egenüber diesem a n g e b l i c h e n Einfluß der Rechtsprechung auf die Ergebnisse der Unfallstatistik kommt es an dieser Stelle darauf an, nach Möglichkeit einen Anhalt dafür zu gewinnen, in welchem Maß Änderungen der Rechtsprechung auf die Unfallstatistik t a t s ä c h l i c h Einfluß auszuüben vermögen. Die Möglichkeit, daß die Rechtsprechung eine solche Einwirkung ausüben kann, wird wohl von keiner Seite bestritten. Es sei erw ähnt, daß z. B. der Präsident des Reichsversicherungsam ts Dr. K a u f m a n n in seiner Ende vorigen Jahres erschienenen Schrift „Schadenverhütendes W irken in der Deutschen A rbeiterversicherung“ (S. 35) anerkennt, daß der Rückgang der Unfallzahlen „zum Teil auf anderer Beurteilung der Unfallfolgen in der Rechtsprechung, insbesondere auf einer schärferen Auffassung des Begriffes der Erw erbsunfähigkeit“ beruhen k a n n , obgleich er den Einfluß dieser „oft gescholtenen W andlung in der Rechtsprechung“ als nicht sehr erheblich

an-X1) Nach M a r c u s : Umlage und Kapitaldeckung, Berlin 1913, S .40, und den Amtlichen Nachrichten des Reichsversicherungsam tes 1899, S. 672.

lä) Die Berufsgenossenschaft 1912 S. 209.

sehen möchte. Weit bestim m ter im Sinne einer Bejahung dieser Möglichkeit lautet das im folgenden wiedergegebene Urteil von berufsgenossenschaftlicher Seite, das um so beachtensw erter erscheint, als bei ihm anderseits eine Ü ber­

schätzung dieses Einflusses aus naheliegenden Gründen nicht anzunehmen sein dürfte. „Früher stand,“ so führt Verwaltungsdirektor Marcus l3) aus,

„die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes und daher auch die der Schiedsgerichte und die Verwaltungsübung der Versicherungsträger selbst auf dem Standpunkt, daß eine einmal festgestellte Unfallrente nur dann herab­

gesetzt oder aufgehoben werden dürfe, wenn sich der tatsächliche körper­

liche Zustand des Verletzten entsprechend gebessert hat. Bei einer an sich unverbesserlichen Verletzung also, z. B. dem Verluste eines Fingers oder auch nur eines Fingergliedes, für den aber überhaupt eine Rente bewilligt wurde, rechnete man von vornherein mit lebenslänglicher Rentenpflicht und zählte daher den Unfall unter denen mit der Folge dauernder teilweiser Erwerbsunfähigkeit. Seit einigen Jahren aber hat sich in der Rechtsprechung

liche Zustand des Verletzten entsprechend gebessert hat. Bei einer an sich unverbesserlichen Verletzung also, z. B. dem Verluste eines Fingers oder auch nur eines Fingergliedes, für den aber überhaupt eine Rente bewilligt wurde, rechnete man von vornherein mit lebenslänglicher Rentenpflicht und zählte daher den Unfall unter denen mit der Folge dauernder teilweiser Erwerbsunfähigkeit. Seit einigen Jahren aber hat sich in der Rechtsprechung

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