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u nfrieDliche b eZiehungen Zwischen e xkombaT TanTen unD Der Z ivilbevölkerung

Im Dokument Was vom Krieg übrig bleibt (Seite 109-116)

Anhand der dargestellten Elemente der bourdieuschen Sozialtheorie lässt sich nun eine provisorische Prozessvorstellung formulieren, in der unfriedliche Bezie-hungen zwischen Exkombattanten und der Zivilbevölkerung als gelebte Manifes-tationen erlernter und über Zeit verinnerlichter Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata konsistent gedacht und beschrieben werden können.

Aufseiten der Exkombattanten würden Gewaltbereitschaften demnach aus so-zialen Wissensbeständen gespeist, die Kämpfer unter dem Eindruck insgesamt ähnlicher Erfahrungen erlernt und schließlich verinnerlicht haben würden; und aufseiten der Zivilbevölkerung wären Gewalterwartungen solchen sozialen Wis-sensbeständen geschuldet, die Zivilistinnen und Zivilisten ebenfalls unter dem Eindruck untereinander ähnlicher, dabei aber von denen der Kämpfer strikt ver-schiedener Erfahrungen erlernt und verinnerlicht haben würden. Im Nachkriegs-kontext wären die unfriedensrelevanten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata dann in einen speziellen Exkombattanten-Klassenhabitus und einen speziellen Zivilbevölkerungs-Klassenhabitus gespalten. Im Folgenden stelle ich dar, wie sich die Prozesse des Entstehens und Fortbestehens unfried-licher Beziehungen in diesem Rahmen Schritt für Schritt denken lassen. Um den provisorischen Charakter der Prozessvorstellung dabei auch sprachlich un-missverständlich deutlich zu machen, wird sie insgesamt im Konjunktiv verfasst.

Der Anfangs- und Anstoßpunkt der Prozesse, die schließlich unfriedliche Beziehungen zwischen Exkombattanten und der Zivilbevölkerung hervorbrin-gen würden, müsste darin bestehen, dass der Beginn kriegerischer Gewalt eine Krisenzeit auslösen würde, in der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Hand-lungsschemata, die den Akteuren zuvor noch Orientierung geboten oder sie zumindest nicht merklich in die Irre geführt hatten, nun merklich nicht mehr passen würden. Um die durch eine solche Krisenzeit angestoßenen Prozesse auf

unfriedliche Beziehungen zwischen Exkombattanten und der Zivilbevölkerung

›hinzudenken‹, muss allerdings zugleich davon ausgegangen werden, dass die Krisenzeit – anders als etwa im Fall der entwurzelten kabylischen Bauern – keine andauernde Orientierungslosigkeit auslösen würde. Stattdessen müssten sowohl Kämpfer als auch Zivilistinnen und Zivilisten sehr schnell gedankliche Anknüp-fungspunkte finden, die es ihnen ermöglichen würden, sich angesichts ihrer Er-fahrungen unter Bedingungen kriegerischer Gewalt bewusst an die Entwicklung neuer Strategien für den Umgang mit den veränderten Verhältnissen zu machen.

Darüber, wie solche anknüpfungsfähigen sozialen Wissensbestände in-haltlich beschaffen sein würden und ob sie womöglich klassen- oder auch ge-schlechtsspezifisch unterschiedliche Anknüpfungspunkte enthalten würden, lässt sich auf rein theoretischer Ebene nichts aussagen. Dasselbe würde grund-sätzlich auch sowohl für die Erfahrungen gelten, die von den Akteuren in der Krisenzeit (unter Bedingungen kriegerischer Gewalt) gemacht würden, als auch für die neuen Strategien, die von Akteuren auf Grundlage ihrer Anknüpfungs-punkte und ihrer neuen Erfahrungen entwickelt würden. An dieser Stelle kommt allerdings die Annahme radikal unterschiedlicher Erfahrungen zum Einsatz:

Unter Hinzuziehung dieser Annahme (siehe oben 2.1.2) lassen sich grob zwei verschiedene Typen von Erfahrungen konstruieren, welche die bewusst neu ent-wickelten Strategien – entlang einer eindeutigen Trennlinien – je unterschiedlich informieren und inhaltlich prägen würden. Demnach würden Kämpfer in den Kommandoeinheiten ihrer bewaffneten Gruppen erfahren, dass von ihnen ganz selbstverständlich die Bereitschaft zur Ausübung von Gewalt verlangt wird; dass Gewaltverweigerungshaltungen mit einiger Sicherheit hart bestraft werden; und dass Gewalthandlungen als normale Tätigkeiten angesehen werden, die ihnen eventuell sogar ein vergleichsweise ›gutes‹ Leben ermöglichen können. Letzte-res wäre vor allem dann der Fall, wenn Kämpfer in ihren Kommandoeinheiten nicht nur relativ geschützt und gut versorgt wären, sondern darüber hinaus auch auf gewalttätige Plünderungszüge gehen dürften, um sich mit benötigten und/

oder begehrten Gütern zu versorgen. Kämpfer würden ausgehend von solchen Erfahrungen dann Lebens- und Überlebensstrategien entwickeln, die sich von Kämpfer zu Kämpfer durchaus unterscheiden könnten (je abhängig von ihren konkreten Kriegserfahrungen und von der inhaltlichen Beschaffenheit ihrer ver-innerlichten Wissensbestände), die aber eins in jedem Fall gemeinsam hätten:

nämlich dass sie auf Gewaltbereitschaft basieren würden. Zivilistinnen und Zi-vilisten hingegen würden in erster Linie erfahren, dass sie von Kämpfern Ge-walt zu erwarten haben. Ihre neu entwickelten Strategien wären deshalb darauf ausgerichtet, diese Gewalt vermeiden und/oder abwehren zu können; etwa durch die Einrichtung von Verstecken, durch Flucht und/oder durch die Organisation von Schutz- und Selbstverteidigungsmaßnahmen. Welche Strategien ihnen im Einzelnen machbar und erfolgsversprechend erscheinen würden, könnte sich ebenfalls je nach den unter Bedingungen kriegerischer Gewalt gemachten Erfah-rungen und anknüpfbaren Wissensbeständen unterscheiden. Gemeinsam wäre

den Strategien von Zivilistinnen und Zivilisten aber in jedem Fall, dass sie auf Gewalterwartungen gegenüber Kämpfern basieren würden.

In dem Maße, in dem die neu entwickelten Strategien dann unter Bedingun-gen kriegerischer Gewalt über Zeit angewandt, dabei als Orientierung bietend und ›passend‹ (angemessen und erfolgreich) erlebt und schließlich auch unter-einander – einerseits unter Kämpfern und andererseits unter Zivilistinnen und Zivilisten – als sinnvoll und selbstverständlich kommuniziert würden, müsste mit der Zeit immer seltener vor ihrer Anwendung erst noch über sie nachgedacht werden. Allmählich würden die bewusst entwickelten Strategien so im Zuge ihrer Anwendung in verinnerlichte soziale Wissensbestände transformiert: in Wahr-nehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata, die intuitiv zur Handlungs-orientierung zur Verfügung stünden, ohne dass noch über sie nachgedacht wer-den müsste.

Einmal in dieser Weise verinnerlicht würden die kriegsgeprägten Wahrneh-mungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata mit der Beendigung kriegeri-scher Gewalt dann nicht einfach wieder verschwinden. Vielmehr wäre ihr Fort-bestehen geradezu garantiert, solange es im Nachkriegskontext nicht zu einer neuen Krisenzeit kommt, die ehemaligen Kämpfern und Zivilistinnen und Zivi-listen ihre kriegsgeprägten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungssche-mata als ›falsch‹ beziehungsweise als negative Konsequenzen nach sich ziehend zu Bewusstsein bringen würde. Zivilistinnen und Zivilisten würden im Nach-kriegskontext dann schon intuitiv davon ausgehen, dass sie auch von ehemaligen Kämpfern Gewalt zu erwarten haben. Und ehemalige Kämpfer würden Gewalt weiterhin schon intuitiv als normale Handlungsoption in Erwägung ziehen, um das Leben im Nachkriegskontext zu meistern; beispielsweise zur alltäglichen Konfliktlösung in ihren Familien und sonstigen Gemeinschaften und zum öko-nomischen Selbsterhalt. Zugleich würden gerade diese Gewaltbereitschaften erheblich dazu beitragen, dass es im Nachkriegskontext gar nicht erst zu einer neuen, die kriegsgeprägten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungs-schemata erschütternden Krisenzeit kommen könnte: Da intuitiv gewaltbereite Kämpfer wohl nicht nur still und heimlich, sondern merklich gewaltbereit bleiben würden (beispielsweise in Form von Gewaltkriminalität), würde es Zivilistinnen und Zivilisten schlicht an Anlässen fehlen, ihre Gewalterwartungen zu überden-ken; wobei das Ausmaß, in dem ehemalige Kämpfer Gewaltbereitschaften in die Tat umsetzen würden, immer noch deutlich unterhalb des Ausmaßes kriegeri-scher Gewalt bleiben müsste, weil sonst gar nicht erst sinnvoll von einem Nach-kriegskontext die Rede sein könnte. Noch dazu ist denkbar, dass es ehemaligen Kämpfern und Zivilistinnen und Zivilisten – an dieser Stelle dann womöglich doch ähnlich wie den entwurzelten kabylischen Bauern – nach Kriegsende ganz grundsätzlich an gedanklichen Anknüpfungspunkten für eine Umorientierung im Nachkriegskontext fehlen könnte. Mit solchen Habitus-Trägheitseffekten wäre vor allem für diejenigen zu rechnen, die zu Beginn kriegerischer Gewalt so jung waren, dass sie kaum oder gar nicht über andere Erfahrungen als die verfügen

würden, die sie im Leben und Überleben unter Bedingungen kriegerischer Ge-walt gemacht haben.

Im Ergebnis würden unfriedliche Beziehungen dann ihrer Form nach zwi-schen Exkombattanten und der Zivilbevölkerung bestehen. Ihr Inhalt würde einerseits von Vorstellungen ausgemacht, auf deren Basis Gewalt intuitiv als nor-male Handlungsoption in Erwägung gezogen würde, um auch im Nachkriegs-kontext überleben und zudem möglichst ›gut‹ leben zu können (Exkombattanten);

und andererseits von Vorstellungen, in denen von ehemaligen Kämpfern schon intuitiv Gewaltbereitschaften erwartet würden (Zivilistinnen und Zivilisten). Als Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata, die aus verinnerlichten Wissensbeständen resultieren, würden Gewaltbereitschaften und Gewalterwar-tungen zudem als selbstverständlich empfunden und deshalb nur selten – wenn überhaupt – zum Gegenstand bewusster Reflektionen gemacht. In dieser Kons-tellation wären die unfriedlichen Beziehungen dann außerdem insofern einseitig, als die intuitiven Gewalterwartungen der Zivilbevölkerung zwar direkt auf Ex-kombattanten bezogen wären; deren Gewaltbereitschaften wären jedoch nicht in erster Linie gegen die Zivilbevölkerung, sondern vor allem darauf ausgerichtet, das Leben im Nachkriegskontext zu meistern. Eben in dieser Weise werden die Exkombattanten zugeschriebenen Gewaltbereitschaften auch in der in Kapitel 2 bereits zitierten Problemvorstellung aus dem UN-Handbuch für DDR-Program-me dargestellt. Hier noch einmal zur Erinnerung:

»Ex-combatants, especially when they are young, may have become a ›lost generation‹, having been deprived of education, employment and training during the conflict period, suffering war trauma, becoming addicted to alcohol and drugs, and dependent on weap-ons and violence as the only means to make their way in the world.« (UN Inter-Agency Working Group on DDR 2006a: 3; Hervorhebung A.M.)

Zusammen mit dem in Kapitel 3 dargelegten Konzept unfriedlicher Beziehungen macht die an dieser Stelle nun fertig formulierte provisorische Prozessvorstellung die konzeptionellen und theoretischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit aus.

In Kapitel 5 geht es im Folgenden mit der Bereitstellung empirischer Einsichten zum Leben und Überleben unter Bedingungen kriegerischer Gewalt in Sierra Leone weiter. In diesen Einsichten kommen dann endlich auch Kämpferinnen vor, deren provisorische Aussparung hier damit ab sofort beendet ist.

In diesem Kapitel gebe ich einen Überblick über den Verlauf des Krieges in Sier-ra Leone und über das Leben und Überleben unter Bedingungen kriegerischer Gewalt. In diesem Überblick schildere ich vor allem Einsichten zu solchen Er-fahrungen und prozesshaften Dynamiken ausführlich, die zum einen als Ver-ständnishintergrund für die Darstellung der Feldforschungsergebnisse in Kapitel 6 relevant sind und die zum anderen in der empirischen Modifizierung der pro-visorischen Prozessvorstellung in Kapitel 7 aufgegriffen werden. Ziel und Zweck dieses Kapitels ist also vor allem die Vorbereitung der anschließenden Kapitel.

Für diese Vorbereitung stütze ich mich im Folgenden überwiegend auf wissen-schaftliche Sekundärliteratur. Die wichtigsten zusätzlichen Quellen sind ein Re-port von Human Rights Watch (HRW); die Kriegs-Autobiographie des ehemaligen Kindersoldaten Ishmael Beah (2007); und ein für die internationale NGO No Pea-ce Without JustiPea-ce erstelltes »conflict-mapping«, das den Verlauf kriegerischer Ge-walt auf Basis von insgesamt 400 Interviews, die in verschiedenen Landesteilen geführt worden sind, jeweils separat für alle 14 sierra-leonischen Distrikte sowie für die Western Area und Freetown nachzeichnet (vgl. Smith/Gambette/Long-ley 2004: 9ff.). An einigen wenigen Stellen in diesem Kapitel wird ergänzend außerdem empirisches Material aus meiner Feldforschung herangezogen. Der Überblick ist insgesamt in drei thematisch unterschiedlich fokussierte Schritte unterteilt:

In einem ersten Schritt stelle ich den Verlauf des Krieges von 1991 bis 2002 entlang zentraler Ereignisse und Entwicklungen dar, wobei ich mit einem knapp gehaltenen Gesamtabriss des Zeitraums von 1991 bis 2002 beginne, den ich ge-zielt auf die inter- und transnationalen Verstrickungen zentraler Akteure und auf die hohe Politik internationaler Interventionen fokussiere. Diese inter- und trans-nationalen Dimensionen des Krieges in Sierra Leone greife ich im weiteren Ver-lauf der Arbeit zwar kaum mehr auf, aber dennoch dient auch ihre Schilderung der Vorbereitung der folgenden Kapitel und der nachfolgenden Darstellungen in diesem Kapitel. Indem die inter- und transnationalen Dimensionen hier gleich vornan geschildert werden, sollen sie von vornherein dem Eindruck entgegen-wirken, es habe sich bei der kriegerischen Gewalt in Sierra Leone um eine vom

›Weltgeschehen‹ isolierte Angelegenheit gehandelt. Ein solcher – verfehlter – Ein-druck kann schnell entstehen, wenn, wie ich es im Nachfolgenden tue, in erster Linie das Leben und Überleben ›einfacher‹ Leute in den Blick genommen wird, die nicht selbst auf der internationalen ›Bühne‹ agieren. Im Anschluss werden dann ausführlich und in etwa chronologisch sowohl Entwicklungen innerhalb der bewaffneten Gruppen als auch verbreitete Gewalterfahrungen geschildert:

beginnend mit den ersten Überfällen der RUF, gefolgt von zunehmender Ko-operation zwischen RUF- und SLA-Einheiten und der räumlichen Ausbreitung kriegerischer Gewalt, bis hin zu den ihrerseits oft lebensgefährlichen ›Schutz-diensten‹ der Kamajors/CDF. Insgesamt ist es eine Geschichte dauerhafter Un-sicherheit und sich als unverlässlich erweisender Schutzoptionen. Die bittere Er-fahrung, dass nicht nur von keiner Seite verlässlicher Schutz erwartet werden konnte, sondern darüber hinaus auch von allen Seiten Gefahr drohte, schlug sich in Sierra Leone sogar noch während des Krieges in einem Bedeutungswandel des Rebellenbegriffs nieder. Während zu Beginn des Krieges in erster Linie die Kämpferinnen und Kämpfer der RUF rebels genannt wurden, diente die Bezeich-nung im Verlauf des Krieges zunehmend als Oberbegriff für alle diejenigen, die sich ›wie rebels‹ verhielten – die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung richteten und dabei ohnehin oft nicht eindeutig einer bestimmten bewaffneten Gruppe zuge-ordnet werden konnten: »A rebel in the popular imaginary of the Mano River re-gion [Sierra Leone und Liberia, Anm. A.M.] lives in the bush and inflicts violence on the populace.« (Hoffman 2011b: 38)

In einem zweiten Schritt zeige ich Identifizierungsprobleme auf, die in Sier-ra Leone im Zuge von indiskriminierender Gewalt erlebt wurden und die selbst wiederum zu indiskriminierender Gewalt geführt haben. Als »indiskriminie-rend« (»indiscriminate«, Kalyvas 2006: 146ff.), also nicht gezielt nur bestimmte Personen betreffend, werden in der vergleichenden Kriegsforschung zum einen Gewalttaten bezeichnet, bei deren Ausführung es aufgrund von Identifizierungs-problemen im Ergebnis nicht gelingt, tatsächlich nur denjenigen Gewalt anzu-tun, denen planmäßig Gewalt angetan werden soll; und zum anderen solche Ge-walttaten, die gar nicht erst darauf ausgerichtet sind, gezielt nur ganz bestimmte Personen zu treffen, die als Angehörige oder als Kollaborateurinnen und Kolla-borateure einer gegnerischen Seite ausgemacht werden (vgl. Kalyvas 2006: 89ff., 146ff.). In Sierra Leone kam beides sogar zusammen: Nicht nur war ein Großteil der gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Gewalt von vornherein indiskriminie-rend angelegt; noch darüber hinaus traf auch Gewalt, die eigentlich gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet werden sollte, aufgrund von Identifizierungsprob-lemen häufig nicht diejenigen, die eigentlich als Ziele beabsichtigt waren.

In einem dritten Schritt rekonstruiere ich eine lokale Deutung des rebel war, für die Sierra Leonerinnen und Sierra Leoner unter dem Eindruck kriegerischer Gewalt an soziale Wissensbestände über die Notwendigkeit sozialer Kontrolle an-geknüpft haben. Diese Wissensbestände sind in Sierra Leone ethnische Gruppen übergreifend verbreitet und werden ›normalerweise‹ (nicht unter Bedingungen

kriegerischer Gewalt) am explizitesten in Initiationsritualen kommuniziert, über die Kinder und Jugendliche zu vollwertigen, verantwortungsvollen und zurech-nungsfähigen Gesellschaftsmitgliedern gemacht werden sollen (vgl. etwa Jack-son 1982: 24; Ferme 2001: 200-201; Fanthorpe 2007: 2). Durch die ›Brille‹ dieser Wissensbestände betrachtet erschienen rebels als entsozialisierte, geradezu un-menschliche Kreaturen, deren Gewalt zudem insofern als »sinnlos« (senseless) verstanden wurde – und wird –, als sie zu keinem Zeitpunkt in einen Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen in Sierra Leone kanalisiert worden ist.

Bei allem verursachten Leid hat die rebel Gewalt demnach noch nicht einmal ›et-was gebracht‹, also keine Verbesserungen im Vergleich zur Vorkriegszeit bewirkt (vgl. ähnlich King 2007: 22-24). Während meiner Feldforschung bin ich in Inter-views und Gesprächen immer wieder auf die in dieser Weise verstandene Sinn-losigkeit des rebel war hingewiesen worden. Die folgenden Darstellungen, die für diese Hinweise in etwa repräsentativ sind, stammen zum einen von Dumbuya, einem 28-jährigen arbeitslosen Mann, und zum anderen von Bockarie, einem etwa 50-jährigen Journalisten. Dumbuya erklärte: »You see, one thing about the war that we fought in this country is that we just did it senselessly. And that is why we are still struggling today.« (Interview, 02.04.2009) Und Bockarie führte aus: »The atrocities were so bad, exorbitant. The killings, the maiming, the amputations … just exorbitant.

We saw that the country was just going down, down, down. And we saw that this would bring no development.« (Interview, 20.04.2009) Zum Abschluss des Kapitels wird diese lokale Deutung des Krieges als »sinnloser« rebel war mit drei vielrezipierten akademischen Erklärungsansätzen zum Krieg in Sierra Leone verglichen und es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt.

Im Dokument Was vom Krieg übrig bleibt (Seite 109-116)