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1.3 Die proximale Humerusfraktur

1.3.3 Therapie der proximalen Humerusfraktur

In der Notfallsituation sollten in erster Linie die Schmerzen gelindert und weiteren Schädigungen vorgebeugt werden. Nach ausführlicher Anamnese, klinischer Untersuchung und Einbeziehung geeigneter Bildgebungsverfahren kann schließlich vom erfahrenen Behandler erwogen werden, welches Vorgehen im vorliegenden Fall indiziert ist. Die Art der Behandlung hängt sowohl von dem Dislokationsgrad und der Anzahl der Fragmente wie auch der Knochenstruktur und dem allgemeinen Gesundheitszustandes des Patienten ab. Zur Verfügung stehen eine Vielzahl unterschiedlichster Therapiekonzepte, wobei die konservative Behandlung von einem operativen Eingreifen abgegrenzt werden kann.

1.3.3.1 Konservative Therapie

Nach Habermeyer sind 60 % bis 85 % der Humeruskopffrakturen nicht oder nur gering disloziert und können damit konservativ versorgt werden (Habermeyer 1997; Poeze et al. 2010). Die von Neer formulierten Kriterien für die Entscheidung zwischen

konservativer und operativer Behandlung haben bis heute weitestgehend Gültigkeit.

Alle Frakturen, die weniger als 1 cm disloziert sind bzw. eine Kalottenabkippung von unter 45 ° aufweisen, gelten danach als konservativ behandelbar (Neer 1970; Hanson et al. 2009; Thomazeau et al. 2012). Einige Autoren gehen davon aus, dass im Bereich des Tuberculum majus bereits eine Dislokation von > 5 mm eine Operation erfordert (Resch et al. 1995; Habermeyer 1997), andere halten eine Operation schon ab einer Tuberculum-majus-Dislokation von > 2 mm für indiziert (Lill et al. 2012). Neben diesen objektivierbaren Merkmalen ist ebenfalls der individuelle Aktivitätsanspruch der Patienten zu berücksichtigen, sodass bei gleicher Frakturmorphologie bei jüngeren Patienten eher eine plattenosteosynthetische Versorgung durchgeführt wird und ältere Patienten mit einem geringeren Aktivitätsanspruch und häufig schwerwiegenderen Komorbiditäten häufiger einer konservativen Behandlung unterzogen werden (Franke und Ambacher 2012; Lill et al. 2012, Olerud et al. 2011a). Altersunabhängige Kontraindikationen sind folgende Frakturkonstellationen: dislozierte Luxations- und Headsplitfrakturen, pathologische Frakturen, offene Weichgewebeverletzungen sowie geschlossen nicht reponierbare Schaftdislokationen (Franke und Ambacher 2012; Lill et al. 2001; Krettek und Wiebking 2011).

Im Zuge des konservativen Vorgehens erfolgt, nach ggf. notwendiger Reposition der Fragmente, zunächst die Ruhigstellung im Gilchristverband für ungefähr sieben bis zehn Tage. Nach wiederum ca. sieben bis zehn Tagen sollte nach Abklingen des Frakturschmerzes mit der frühfunktionellen Übungsbehandlung begonnen werden. Bei späterem Beginn, nach erst 14 Tagen, verschlechtert sich das zu erwartende Rehabilitationsergebnis besonders in Bezug auf die Außenrotation. Es sollten regelmäßige, zunächst einwöchige und später zweiwöchige Röntgenkontrollen stattfinden. Nach sechs bis 14 Wochen ist bei komplikationsfreiem Behandlungsverlauf die knöcherne Konsolidierung zu erwarten (Habermeyer 1997; Hanson et al. 2009).

1.3.3.2 Operative Therapie

Die proximale Humerusfraktur stellt bei einer, wie oben erwähnt, größeren Dislokation, als von Neer festgelegt, eine dringliche, jedoch keine Notfallindikation zur operativen Versorgung dar (Neer 1970). Es sollte eine Ruhigstellung im Gilchrist- oder Desault-Verband erfolgen und innerhalb von zehn Tagen operiert werden (Beckmann et al.

2011). Bisher existiert in Anbetracht der Vielzahl der möglichen Osteosynthese-verfahren kein allgemein akzeptiertes Standardprozedere. Die Auswahl muss stets mit

Rücksicht auf den Frakturtyp, die Knochenqualität, die Compliance und den Allgemeinzustand des Patienten sowie Erfahrung und Können des behandelnden Chirurgen getroffen werden (Ruchholtz und Nast-Kolb 2003). Außerdem erscheint es sinnvoll, die Erwartung des Patienten an die Funktionalität des Schultergelenks in die Überlegung mit einzubeziehen (Franke und Ambacher 2012). Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Osteosynthese und einer prothetischen Versorgung, wobei sich die Osteosyntheseverfahren wiederum in Minimalosteosynthese und Plattenosteo-synthese gliedern (Beckmann et al. 2011).

Minimalosteosynthese

Als gängige Minimalosteosyntheseverfahren stehen Kirschner-Drähte, Zugschrauben, intramedulläre Implantate und Zerklagen zur Verfügung. Sie haben den Vorteil, dass sie unter relativer Weichteilschonung eingebracht werden können, jedoch weisen sie eine deutlich schlechtere Fragmentretention als die Plattenosteosyntheseverfahren auf. Es kommt häufiger zu Fragment- oder Materialdislokationen und auch bei komplikations-losem Verlauf wird die angestrebte Übungsstabilität erst deutlich später erreicht. Bei schlechter Knochenqualität lässt sich häufig schon primär keine ausreichende Retention erreichen, sodass sie fast ausschließlich bei jüngeren Patienten mit stabilen knöchernen Verhältnissen Anwendung finden.

Für 2-Segmentfrakturen ohne starke Dislokation der Tubercula eignet sich die solitäre Osteosynthese mit Kirschner-Drähten. Zur Frakturretention kann ein perkutanes oder offenes Vorgehen Anwendung finden. Als Nachbehandlung wird der Arm zwei bis drei Wochen ruhig gestellt.

Eine Indikation für die Zugschraubenosteosynthese ist die isolierte, dislozierte Tuberculum-majus-Fraktur. Auch 3- und 4-Fragmentfrakturen können mit Zugschrau-benosteosynthese versorgt werden, wenn zusätzlich Kirschner-Drähte verwendet werden. Hier kann jedoch eine offene Reposition vor der minimalinvasiven Retention erforderlich sein.

Intramedulläre Implantate sollen die knochenumgebenden Weichteile und die Durchblutung des Humeruskopfes besonders wenig iatrogen schädigen. Insbesondere bei dislozierten Frakturen im Kindesalter findet das Verfahren häufig Anwendung.

Auch 2- und 3-Fragmentfrakturen ohne wesentliche Dislokation lassen sich mit intra-medullären Implantaten therapieren. Die Verwendung dieser dünnen, flexiblen

Nagel-systeme empfiehlt sich hingegen nicht für die Behandlung von osteoporotischem Knochen oder dislozierten 3- und 4-Fragmentfrakturen.

Zerklagen in Form von Drahtzerklagen oder Nähten werden zur Fixation von Tubercula am Humerusschaftsegment genutzt. Ein besonderer Vorteil dieser Therapieform besteht darin, dass das Osteosynthesematerial nicht in den Knochen eingebracht wird. Indiziert ist das Vorgehen bei dislozierten 3- und 4-Fragmentfrakturen im osteoporotischen Knochen, da hier eine übungsstabile Retention erreicht werden kann, ohne dass eine Implantatdislokation droht (Ruchholtz und Nast-Kolb 2003).

Plattenosteosynthese

Die in der Vergangenheit häufig verwendete konventionelle T-Plattenosteosynthese war besonders bei älteren Patienten mit einer zu großen Komplikationsrate behaftet.

Besonders sekundäre Dislokation, Humeruskopfnekrose und Impingementsyndrom stellten Probleme dar. Daher haben sich seit einigen Jahren kleinere, winkelstabile Platten etabliert (PHILOS®: Proximal Humerus Internal Locking System, LPHP:

Locking Proximal Humeral Plate), die das Auftreten dieser Komplikationen vermindern sollen. Die Winkelstabilität der Schrauben ermöglicht es, eine ausreichende Stabilität auch im osteoporotischen Knochen zu erreichen. Durch die verhältnismäßig kleine, anatomische Formgebung soll das Auftreten einer Impingementproblematik vermieden werden und die Durchblutung möglichst wenig geschädigt werden (Ruchholtz und Nast-Kolb 2003). Zu den Indikationen für eine winkelstabile Osteosyntheseplatte zählen alle dislozierten 2-, 3-, 4- und 5-Fragmentfrakturen, Korrekturosteosynthesen und Pseudarthrosenrevisionen (Lill und Voigt 2010). Trotz der aktuellen Rückläufigkeit der Komplikationsraten werden in der Literatur weiterhin Zahlen zwischen 19,5 % - 34 % angegeben (Plecko und Kraus 2005; Voigt et al. 2007; Südkamp et al. 2009).

Nagelosteosynthese

Der Grundgedanke der Nagelosteosynthese ist eine minimalinvasive Operationstechnik zur Fixierung instabiler proximaler Humerusfrakturen im Vergleich zu den großen benötigten Operationszugängen der Plattenosteosynthese (Werth et al. 2014). Ziel ist es dabei die dislozierte Fraktur zu reponieren und zu retinieren, wobei die umgebenen Weichgewebe weitestgehend geschont werden (Murray et al. 2011). Durch die Retention soll eine frühfunktionelle Mobilisation ermöglicht werden. Verglichen mit der reinen Drahtosteosynthese weist die Nagelosteosynthese eine bessere Stabilität auf.

Neben der deutlich geringeren Traumatisierung der umgebenen Strukturen wird im Gegensatz zur Plattenosteosynthese weiterhin die Materialauflagefläche reduziert (Katthagen et al. 2012). Indikationen sind instabile Humeruskopffrakturen mit zwei bis vier Fragmenten, instabile proximale Humerusfrakturen sowie Pseudarthrosen des proximalen Humerus (Mathews und Lobbenhoffer 2007). Am häufigsten findet das Verfahren bei 2-Segment-Frakturen Anwendung (Lanting et al. 2008). Als Kontra-indikation werden stabile proximale Humerusfrakturen, Luxationsfrakturen mit Gefäßbeteiligung, Frakturen mit Head-split-Komponente (Mathews und Lobbenhoffer 2007), komplexe intraartikuläre Frakturen sowie mehrfragmentäre Tuberkulafrakturen (Werth et al. 2014) angesehen. Als relative Kontraindikationen wird ein junges Patientenalter unter 60 Jahren genannt (Werth et al. 2014).

Humeruskopfprothese

Bei der plattenosteosynthetischen Versorgung von dislozierten Mehrfragmentfrakturen, insbesondere bei geriatrischen Patienten mit osteoporotischer Knochenstruktur, konnten in der Vergangenheit oftmals keine zufriedenstellenden Resultate erzielt werden (Brunner 2014). Daher wird in den letzten Jahren nach Alternativen in der Behandlung dieser Frakturen gesucht. Es besteht die Möglichkeit, auch Problemfrakturen konservativ zu behandeln (Boesmueller et al. 2016, Olerud et al. 2011b). Einige Autoren halten die primäre Implantation von Humeruskopfprothesen für überlegen sowohl gegenüber der winkelstabilen Plattenosteosynthese als auch gegenüber einem sekundären Gelenkersatz nach gescheiterter Plattenosteosynthese (Esen et al. 2008).

Ausschlaggebend für die schlechten Ergebnisse bei der Behandlung komplexer osteoporotischer Frakturen ist die hohe Gefahr einer avaskulären Nekrose bei Anwendung von Plattenosteosynthese. Da dieses Risiko auch bei jüngeren Patienten mit vollständiger Dislokation und Zerreißung der periostalen Gewebe besteht, kann in Ausnahmefällen auch hier das Einbringen einer primären Schulterprothese in Betracht gezogen werden (Ruchholtz und Nast-Kolb 2003). Nach Einbringen einer Humerus-kopfprothese können oft gute Resultate in Bezug auf Schmerzfreiheit erzielt werden (Olerud et al. 2011b), wobei diese auf Kosten der funktionellen Ergebnisse, der Belastbarkeit und der Haltbarkeit gehen. Zur Verfügung stehen anatomische Frakturprothesen (z. B. Aequalis®) und inverse Prothesen (z. B. Delta Xtend®) (Beckmann et al. 2011). Für gewöhnlich wird die primäre, anatomische Frakturprothese als Hemiprothese implantiert, während bei der sekundären Implantation Totalprothesen

favorisiert werden (Brunner 2014). Gerade bei komplexen Frakturen bei Patienten höheren Alters mit niedrigerem Funktionsanspruch kann die Anwendung inverser Schulterprothesen sinnvoll sein (Kirchhoff und Biberthaler 2013; Yang et al. 2009).

Noch immer besteht keine Einigkeit über die Versorgung komplexer Frakturen des proximalen Humerus (Lanting et al. 2008).