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Im Folgenden geht es um die Nakba96 (Arab.: an- nakbā Dt.: die Katastrophe) als eine diskursive Konstruktion bestimmter Ereignisketten im Kollektivgedächtnis und deren Bedeutungen, Deutungs- und Handlungsschemata (vgl. Keller, et al., 2005 S. 7f; Keller, 2011 S. 58f). Der Begriff Nakba wird in dieser Studie in zweierlei Hinsicht unterschieden: einerseits wird versucht, die Nakba im Familiengedächtnis, das heißt, als eine Beschreibung einer bestimmten erlebten oder tradierten Vergangenheit in einem konkreten familiären Kontext empirisch zu erfassen und zu erläutern. Andererseits wird Nakba im Kollektivgedächtnis, welches durch einen akademischen Elitendiskurs weitgehend determiniert ist, betrachtet und diskutiert. Dieser sogenannte Nakba-Diskurs, wie er im Folgenden diskutiert wird, wird im „arabischen Ausland“

also nicht im „rein palästinensischen Kontext“ durch zunächst panarabistische Akteure konstituiert und etabliert. Jedoch bestimmt dieser Diskurs weitgehend die Wahrnehmung und die Darstellung von Flüchtlingen, darunter auch die BewohnerInnen der Flüchtlingslager im Westjordanland bis zur Gegenwart, wie im Folgenden aufgezeigt wird.

Der Nakba-Elitendiskurs wird hier also als quasi kollektiv verbindliches und stabilisiertes Deutungsmuster, Bedeutungszuschreibung, Sinn-Ordnung sowie als eine institutionalisierte Wissensordnung in einem bestimmten sozialpolitischen Kontext (vgl. Bogner & Rosenthal 2017a, S. 43f; Keller 2011a, S. 11) verstanden und zunächst als solche im Folgenden diskutiert.

Obwohl man diese kollektiv verbindlichen und institutionalisierten Deutungsmuster nicht einfach auf „einen“ oder „den“ arabisch-palästinensischen Diskurs reduzieren kann, geht es hier darum, die zentralen und im – Weberschen Sinne – idealtypischen Merkmale (Weber 1904/1988a, S. 190ff) und zentralen Charakteristika der vielschichtigen und vielstimmigen Nakba-Deutungsmuster zu erfassen und vorzustellen.

Nakba-Begriff im Diskurs: Entstehung und Entwicklung

Im Jahr 1998 erklärte der verstorbene Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, Yas-ser Arafat, den 15. Mai zum Nakba-Tag (Gilad, 2015). Mit dem eigenen Gedenktag, dem 15.

Mai 1948, im politischen Diskurs wird der Begriff Nakba im Kollektivgedächtnis auf einer erinnerungspraktischen Ebene institutionalisiert. Arafat nimmt vermutlich Bezug auf den Be-griff Nakba und dessen Deutungsmuster, welche in den Geschichtsdarstellungen in den 1940er und 1950er Jahren verankert waren. Wie es im ersten Teil dieses Kapitels aufgezeigt wird, ruft der Nakba-Begriff seit den 1990ern, neue Konnotationen hervor, die nicht im Mittelpunkt des

96 Der Begriff Nakba wird hier ohne Einführungszeichen geführt, und zwar nach dem Muster anderer im Deutschen mittlerweile geläufiger arabischer Begriffe (z. B. Intifada, Islam, Kalifat usw.).

Nakba-Diskurses in den 1940ern und 1950ern standen. Diese neue Entwicklung der Deutung und Bedeutung des Nakba-Begriffes manifestiert sich u. a. bei der Festlegung des Nakba-Ge-denktages.

Dieser Gedenktag der Nakba erinnert jedenfalls an den Tag, an dem die arabischen Armeen als Reaktion auf die israelische Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 in den Krieg zogen.

George Deek, der christlich-israelische Diplomat, stellte diese Festlegung des Nakba-Tages auf den 15. Mai in Frage (vgl. Klein, 2016). In Anlehnung an George Deek stellen sich hier die Fragen: Warum wurde ausgerechnet der 15.Mai 1948 zum Gedenktag erklärt und nicht z. B.

der 9. April, der Tag, am dem das Massaker von Deir Yassin stattfand, oder der 13. Juli, der Tag, an dem die arabisch-palästinensische Bevölkerung aus der Stadt Lod vertrieben wurde?

Oder etwa auch der 15. November 1988, der Tag, an dem die palästinensische Unabhängig-keitserklärung in Algier proklamiert wurde. Man kann jedenfalls Arafat unterstellen, dass er nicht diese Ereignisse, sondern den israelischen Gendenktag an die israelische Unabhängig-keitserklärung am 14. Mai 1948 im Sinne hatte, als er den Nakba-Gedenktag auf den 15. Mai 1948 legte.

Nakba soll in diesem Betrachtungskontext weder der Vertreibung der Palästinenser noch der Massaker an den Palästinensern oder der Unabhängigkeitserklärung der Palästinenser geden-ken, sondern die palästinensische Nakba scheint die Entstehung Israels zu sein. Die Festlegung des Gedenktages der Nakba (Katastrophe) direkt nach dem israelischen Unabhängigkeitstag weist jedenfalls auf die reflexive, entgegengesetzte Deutung und Gegendeutung des israeli-schen Unabhängigkeitstags und überhaupt der israeliisraeli-schen Beschreibungen des Krieges 1948 hin. Dieser ist auch nur als ein Beispiel für das „Spiegel- und Gegennarrativ“, das Damir-Geilsdorf (2008) in ihrer Habilitationsschrift ausführlicher diskutiert. Im Kampf der kontrover-sen Narrative und der nationalen Kollektivgedächtnisse setzte sich der Begriff Nakba im ara-bisch-palästinensischen Diskurs durch und bietet ein alternatives oder entgegengesetztes Nar-rativ zum als hegemonial wahrgenommenen israelischen NarNar-rativ, wie im Folgenden noch deutlicher wird. Die arabisch-palästinensische Literaturlage sowie die Sozialforschung über La-gerbewohnerInnen zeigen deutlich, dass diese Literatur durch die Nakba im politischen Dis-kurs, aber auch in den Geschichtsdarstellungen des Krieges von 1948 weitgehend bestimmt ist.

Die arabisch-palästinensischen Geschichtsdarstellungen über den Krieg von 1948 wurden schon während dieses Krieges bis zu den 1970ern meist durch eine politische Perspektive, näm-lich die panarabische Perspektive verfasst und dadurch weitgehend geprägt (Mannāʿ 2015/2016, S. 52f). In den 1970ern wurden die arabisch-palästinensischen Geschichtsdarstel-lungen durch den Juni-Krieg im Jahr 1967 und die damit verbundene israelische Besatzung des

Westjordanlandes bedeutend transformiert. Einerseits spielen die islamisch-orientierte Perspek-tive und andererseits die säkular-nationale PerspekPerspek-tive eine zentrale Rolle bei diesem Wandel in den arabisch-palästinensischen Geschichtsdarstellungen, wie es noch aufgezeigt wird.

Auch in den 1990ern sind die Geschichtsdarstellungen, aber auch die Sozialforschung über die LagerbewohnerInnen weitgehend durch eine kollektiv-politische Perspektive geprägt, wie es im zweiten Teil des Kapitels aufgezeigt wird. Jedenfalls ist die Sozialforschung über die La-gerbewohnerInnen durch den politisch aufgeladenen Diskurs bedeutend determiniert und lässt sich nicht leicht von den im politisch aufgeladenen Diskurs etablierten Deutungsmustern der Nakba trennen. Aber wie kam dieser Begriff Nakba im Diskurs zustande, und was versteht man genau darunter bzw. wie wird seine Bedeutung erzeugt? Und welche Konsequenzen hat diese Bedeutung und die unterschiedlichen Deutungsmuster der Nakba auf die Wahrnehmung und die Darstellung der Situation der LagerbewohnerInnen im Westjordanland? Anhand einer Aus-einandersetzung mit ausgewählter Fachliteratur und Standardwerken wird hier versucht, diese Fragen zu beantworten.

3.1.1 Panarabisches Deutungsmuster

Das Wort Nakba (dt.: Katastrophe) als Beschreibung für den Krieg von 1948 und für Kollektivereignisse im Krieg von 1948 wurde schon während des Krieges benutzt. Im August 1948 veröffentlicht der syrische, griechisch-orthodoxe Geschichtsschreiber Constantine Zureik (Arab.: Qusṭanṭīn Zurayq) das auf Arabisch verfasste Buch mit dem Titel: „Die Bedeutung der Nakba“ (Arab.: maʿnā an-nakbā) in Beirut. Obwohl es einen Beleg für eine frühere Benutzung des Wortes schon gibt97, bleibt Zureik aber der erste, der die Bedeutung des Wortes Nakba im arabisch-palästinensischen Kontext etabliert und prägt (Mannāʿ 2015/2016, S. 49; vgl. Masalha 2009, S. 37; Zurayk, et al. 2009, S. XVII). Um die Kollektivereignisse im Jahr 1948 zu beschreiben, schreibt Zureik folgendes:

„Die Niederlage der Araber in Palästina ist kein einfacher Rückschlag, oder ein vorüberge-hendes Übel. Sondern sie ist eine Katastrophe „Nakba“ in wahrsten Sinne des Wortes und eine der stärksten Nöte, welche die Araber in ihrer langen und mit vielen Krisen und Tragödien verbundenen Geschichte heimsuchte“98 (Zurayk 1948/2009, S. 5).

97 Mehr zur Begriffsgeschichte des Wortes Nakba vor dem Geschichtsschreiber Constantin Zureik erfährt man in dem Artikel von Eitan Bronstein Aparicio (Aparicio, 2016): http://www.rosalux.org.il/die-nakba-im-israelischen-diskurs/. Zugriff am 01.05.2018.

دشأ نم ةنحمو ،ىنعم نم ةملكلا هذه يف ام لكب ةبكن يه امنإو .رباعلا نيهلا رشلاب وا ،ةطيسبلا ةسكنلاب نيطسلف يف برعلا ةميزه تسيل"98

يلتبا ام

" ٍسآمو نحم نم هيف ام ىلع ،ليوطلا مهخيرات يف برعلا هب (Zurayk 1948/2009, S. 5).

Wie aus dem angeführten Zitat zu entnehmen, scheint Nakba für Zureik ein Synonymwort für eine nationale Niederlage der arabischen Nation oder eine militärische Niederlage der arabi-schen Armeen zu sein. Diese Deutung der Nakba als Niederlage taucht auch in anderen Werken auf, die immer wieder rezipiert werden. Dazu können folgende Werke gezählt werden: Das Werk mit dem Titel „Die Lehre Palästinas“ (Arab.: ʿibrat filasṭīn) (vgl. Alami, 1949/2009), verfasst von dem muslimisch-palästinensischen Juristen Musa Al-Alami (Arab.: Mūsā al-ʿAlamī, erste Auflage 1949 in Beirut); das Werk mit dem Titel „Nach der Nakba“ (Arab.: baʿd an-nakbā) (vgl. Touqan, 1950/2009), verfasst von dem muslimisch-palästinensischen Mathe-matiker Qadri Hafiz Tuqan (Arab.: Qadrī Ḥāfiẓ Ṭuqān, erste Auflage 1950 in Beirut); das Werk mit dem Titel „Erlösungsweg“ (Arab.: ṭarīq al-ḫalāṣ, verfasst von dem orthodoxen libanesi-schen Arzt George Hana (Arab.: Ğūrğ Ḥanā, erste Auflage Nov.1948 in Beirut) (vgl. Hanna, 1948/2009).

Walid Khalidi, der Historiker und Mitbegründer des „Institute for Palestine Studies“ im Jahr 1963 in Beirut, sammelte diese Werke, darunter auch das eben erwähne Werk von Zureik, in einem Sammelband und publizierte sie erneut im Jahr 2009 in Beirut (vgl. Zurayk, et al. 2009 S. XIff). Den Grund für die erneute Publikation dieser Werke in einem Buch mit dem Titel „Die Nakba von 1948, Gründe und Überwindungswege“ (Arab.: Nakbat 1948: ʾAsbābuhā wa sublu ʿilāğihā) gibt Khalidi wie folgt an:

„Es schadet den Arabern nicht, wenn sie heute – zum sechzigsten Jahrestag der Nakba – zu-rückblicken, um sich an ihre Auswirkungen auf Väter und Großväter, welche sie selbst erlebten und erfuhren, zu erinnern. Auch um zu entdecken, wie diese besser als sie die Wahrheit des Zionismus durchblickten und erkannten, welche Gefahren [der Zionismus] mit sich nicht nur für Palästina, sondern auch für alle Araber bringt. Auch um diese Hervorsage mit dem, was seitdem passiert, zu vergleichen, in der Hoffnung, dass ihnen geholfen wird, die Identität ihres echten Feindes in dieser gegenwärtigen großen Verwirrung, in der sich unsere Heimat heute befindet, zu erkennen.“99 (Zurayk, et al. 2009, S. XII).

Die Erinnerungspolitik, die Khalidi hier verfolgt, illustriert deutlich das Bild von „dem echten Feind, dem Zionismus“, genauso wie es diese vier Denker in den 1940er und 1950er Jahren in ihren Werken aufzeigen wollten. Dabei stellt er fest, dass das Feindbild in der gegenwärtigen

"99

لاو ةثيدحلا ةينيتسلا ىركذلا يف ،برعلا ريضي ،ةبكنلل

،اهورصاع و اهوشاع نيذلا دادجلأا و ءابلآا ىلع اهعقو اوركذتسيل فلخلا ىلا اودوعي نا

سحف نيطسلف ىلع لا راطخا نم هلمحت ام و ،ةينويهصلا ةقيقح نع مهنم ةريصب مهذفنأ هكردأ ام اوفشتسيل و و ،نيعمجا برعلا ىلع ًاضيا لب ،ب

يتلا ةمراعلا ةبلبلا طسو يقيقحلا مهودع ةيوه ىلع ءادهتسلاا ىلع كلذ مهنيعي نا ىسع ذئذنم ًلاعف ثدح ام و تاعقوتلا هذه نيب اونراقيل

اهيف هيتي

"مويلا اننطو (Zurayk, et al. 2009, S. XII).

Zeit (2009), sechzig Jahre nach der Nakba, nicht mehr so klar wie früher sei. Demzufolge stellt der Wandel im Feindbild in der gegenwärtigen Zeit, die durch die Verwirrung geprägt sei, ein Leitmotiv für Khalidis Publikation dar. Auch im Jahr 2012 wurde das Buch von Arif Al-Arif (Arab.: ʿĀrif al-ʿĀrif) mit dem Titel: „Die Nakba von Jerusalem und das verlorene Paradies“

(Arab.: nakbat bait al-maqdis wal- firdaūs al-mafqūd)100 durch Walid Khalidi in drei Bänden in Beirut herausgegeben (vgl. Al-ʿĀrif, 1956/2012a; 1956/2012b; 1956/2012c). In der Einleitung stellt Khalidi fest: Obwohl es heutzutage eine gigantische Zahl von Publikationen zu diesem Thema gebe und obwohl Al-Arifs Buch an manchen Stellen Lücken und historische Fehldar-stellungen aufweise, „bleibt das Buch von Al-Arif …die sicherste und beste arabische Quelle für unsere Nakba vom Jahr 1948.“101 (Al-ʿĀrif 1956/2012a, S. Iix).

All diese Werke, die Khalidi später im Jahr 2009 und 2012 wieder publiziert hat, konstituieren aus einer panarabischen Perspektive heraus ein Deutungsmuster der Kollektivereignisse, in des-sen Mitte die Nakba als Niederlage der arabischen Nation steht. Dabei wird die Überwindung der Nakba durch einen militärischen Sieg über den Zionismus vorgesehen, und dieser Sieg setzt hauptsächlich eine Vereinigung der ganzen arabischen Welt gegen alle äußeren Feinde der ara-bischen Nation voraus. Diese Werke vertreten im Kern ein homogenisierendes, statisches, es-sentielles sowie nationales Wir-Bild und Sie-Bild und Feindbild.

Sowohl der „Westen“ als auch der „Zionismus“ werden als existenzielle und essentielle Gefahr nicht nur für Palästina, sondern für die gesamte arabische Nation dargestellt. Dabei spielt der partikular palästinensische oder einzelstaatliche Nationalismus (Arab.: ʾiqlīmiyya) bei der Überwindungsstrategie der Nakba nicht nur keine Rolle, sondern wird zudem als ein Hindernis für die Befreiung Palästinas gesehen. Denn die Teilung der arabischen Welt, die ansonsten ko-härent und homogen gewesen wäre, sei ein kolonialistisches, westliches Produkt, das es zu be-kämpfen gelte. Der Sieg über die Feinde der arabischen Nation und die Überwindung der Nakba können also nur durch die „Wiederherstellung der Einheit“ der arabischen Welt und den damit verbundenen panarabischen Nationalismus (Arab.: qaūmiyya) geschehen (Baumgarten 1991, S. 196). Aus der panarabischen Perspektive wurde die jordanische Annexion vom Westjordan-land (de facto bis zum Juni-krieg 1967) nicht als Besatzung betrachtet. Ahmad Al-Schukeiri (Arab.: Aḥmad aš-Šuqaīrī 1908-1980), der im Auftrag der Arabischen Liga die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) im Jahr 1964 in Ostjerusalem gründete, betont dies abermals:

"دوقفملا سودرفلاو سدقملا تيب ةبكن"100

ʿĀrif 1956/2012a; 1956/2012b; 1956/2012c).

-(Al

ةنس انتبكنل ةيبرعلاب لضفلأا و قثولاا عجرملا... فراعلا باتك لظي"101

1948

"

. . Iix) ʿĀrif 1956/2012a, S

-(Al

“[Aḥmad aš-Šuqaīrī, the first Chairman of the Palestine Liberation Organization (PLO)] indi-cated that the Palestinian entity did not aim at separating the West Bank from the Hashemite Kingdom of Jordan, but it aimed at the liberation of the occupied parts” (Abul Jebain 2002/2006, S. 185).

Mit der Äußerung: “the occupied parts” wird nur diejenigen Gebiete gemeint, die im Verlauf des Krieges von 1948 unter israelische Herrschaft kamen.

In diesem neu-alten Deutungsmuster nimmt man tendenziell Bezug auf den islamisch-arabi-schen antikolonialistiislamisch-arabi-schen Diskurs und erklärt den „Westen“ und den „Zionismus“ als die essentiellen permanenten Erzfeinde der arabischen Nation. Jedoch unterscheidet man zwischen diesen beiden Erzfeinden. Das Ausmaß des Kampfes gegen den "Westen" wird tendenziell je nachdem bestimmt, wie der Westen sein kolonialistisches, rassistisches und expansionistisches Interesse in der arabischen Welt durchzusetzen versucht (Hammād 2011, S. 81f). Der Kampf gegen die „Juden“, den „Zionismus“ oder eben gegen Israel besitzt eine andere Logik. Nach diesem Deutungsmuster werden die katastrophalen Folgen des Krieges von 1948, aber auch die folgenden Kollektivereignisse auf den Zionismus selbst bzw. auf die unveränderte zionistische, kolonialistische, rassistische und expansionistische Strategie zurückgeführt. Aus einer panara-bischen Perspektive liegt die Gefahr des Zionismus im Zionismus selbst begründet, denn diese Merkmale bilden einen integralen Bestandteil seiner Entität. Dies lässt die Leseart zu, dass die-ses Deutungsmuster die Gefahr des Zionismus umfassender sieht, denn die Gefahr geht über Palästina hinaus und würde früher oder später alle Araber treffen. Oder wie Majdi Hammad es sinngemäß formuliert: Im Gegenteil zu dem Konflikt mit dem „Westen“ ist der Konflikt zwi-schen Arabern und Zionisten aus panarabischer Perspektive „ein Existenzkonflikt und kein Grenzkonflikt“102 und kann daher nicht nur auf einen Konflikt auf Grenzen, Land oder unter-schiedlichen Interessen reduziert werden (Hammad 2011:81f). In diesem Sinne handelt es sich aus der panarabischen Perspektive um einen Vernichtungskampf, wobei es nur um Leben oder Tod gehen könne. Mit anderen Worten: Die arabisch-palästinensischen Geschichtsdarstellun-gen in den 1940er und 1950er Jahren können hauptsächlich durch die Determination der pa-narabischen Perspektive oder des Panarabismus charakterisiert werden. In diesen Geschichts-darstellungen bedient man sich des Begriffes Nakba (Katastrophe) aus einer panarabischen Per-spektive, um die als eine Niederlage der arabischen Nation und als Verlust von Palästina ge-deuteten Kollektivereignisse zu beschreiben.

"102

"دودح عارص لا دوجو عارص .

. 81f) (Hammād 2011, S

Im Gegensatz zu den Flüchtlingen im arabischen Ausland, die als Beleg für die Niederlage der arabischen Welt und für die potenzielle Gefahr der essentiellen Feinde der arabischen Nation tendenziell in diesen eben erwähnten Werken vorkommen, werden die im Land „gebliebenen“

palästinensischen Flüchtlinge sowohl im Westjordanland, als auch Gazastreifen im Diskurs marginalisiert bzw. überhaupt nicht wahrgenommen und dargestellt (vgl. Damir-Geilsdorf 2008:190). Die diskursive Marginalisierung der Palästinenser im Gazastreifen, Westjordanland steht im Zusammenhang mit dem Wir-Bild und Sie-Bild bzw. Feind-Bild im Wir-Diskurs.

Im panarabischen Diskurs wird von der arabischen Nation und arabischen Welt als einer kohärenten und homogenen Gruppe gesprochen. Ahmad Al-Schukeiri (Arab.: Aḥmad al-Šuqaīrī 1908-1980), der im Auftrag der Arabischen Liga die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) im Jahr 1964 in Ostjerusalem gründete, fasst es so zusammen:

„diese Länder [der arabischen Welt] waren ein einheitliches Volk, welches durch den Kolonialismus durch künstliche Grenzen getrennt wurde“103 (Abul Jebain 2002, S. 306). Der Begründer und - bis zum Juni-Krieg von 1967 - erste Vorsitzende der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Al-Schukeiri berichtet über eine Demonstration im Jahr 1919, in der die Parole „Palästina ist arabisch“ (filasṭīn ʿarabiyya) verwendet wurde (ebd.). Diese schon unter der britischen Mandatsmacht 1918-1948 bekannte und bis heute verwendete Parole verkörpert auf eine klare Art und Weise die panarabische Perspektive. Aus der panarabischen Perspektive umfasst Palästina - in der Nachkriegszeit bis zum Juni-Krieg 1967 - nicht das ganze britische Mandatsgebiet Palästina, sondern nur die Gebiete, die zu Israel geworden sind.

Dagegen wurden die restlichen Gebiete des Mandatsgebiets Palästina, also das Westjordanland und der Gazastreifen, nicht dazugezählt, denn diese Gebiete standen in dieser Zeit (bis zum Juni Krieg 1967) unter jordanischer und ägyptischer, also unter arabisch-islamischer (also nicht unter fremder bzw. westlicher oder zionistischer) Herrschaft. Die eben erwähnte Parole

„Palästina ist arabisch“ steht auch im Einklang mit der Tatsache, dass das Westjordanland und der Gazastreifen nach dem Krieg von 1948 unter arabischer Herrschaft standen. Für die Befreiung Palästinas bzw. als Überwindungsstrategie der Nakba wurde die arabische Einheit als absolut notwendig erachtet, der partikulare palästinensische Nationalismus wurde hingegen eher als ein Hindernis gesehen.

Jedoch wurde der Krieg von 1948 durch den Krieg von 1967 in vieler Hinsicht überschattet, und dabei traten gravierende Verschiebungen im Deutungsmuster der Nakba auf.

Geschichtsdarstellungen ab den 1990ern nehmen eher Bezug auf den Juni-Krieg 1967 als auf den Krieg von 1948, und dabei lassen sich neben dem panarabischen Deutungsmuster der

رامعتسلاا هلصف ادحاو ابعش رايدلا هذه تناك"103

"ةعنطصملا زجاوحلاب .

. 306) S (Abul Jebain 2002,

Vergangenheit noch zwei weitere, nämlich das islamisch-orientierte und das säkular-nationale, Deutungsmuster in den Geschichtsdarstellungen beobachten, wie es noch zu diskutieren sein wird.

3.1.2 Säkular-nationales vs. islamisch-orientiertes Deutungsmuster

Neben dem von der panarabistischen Perspektive geprägten Deutungsmuster lassen sich noch zwei sinnstiftende und miteinander konkurrierende Hauptdeutungshoheiten im Nakba-Diskurs, nämlich die islamisch-orientierte und die säkular-nationale Deutungshoheit, beobachten, die auch von Damir-Geilsdorf (2008) diskutiert werden. Aus der panarabischen Perspektive wird der Krieg gegen Israel im Jahr 1948 als Stellvertreterkrieg für die arabische Welt (oder im Namen der arabischen Nation) durch die beteiligten arabischen Armeen geführt. Aus islamisch-orientierter Perspektive wird der Kampf gegen Israel als Stellvertreterkrieg (bzw.

Stellvertreterkampf) im Namen der islamischen Welt präsentiert. Damir-Geilsdorf (2008, S.

207) weist in diesem Zusammenhang auf die palästinensisch islamisch-orientierten Parteien hin, welche die folgende Ansicht vertreten:

„Vorstellungen von Palästina als heiliges muslimisches Land haben auch ein identitäres Potential für nicht-palästinensische Gruppen, der palästinensische Kampf um das Land wird damit auch zum Stellvertreterkrieg mit einer hohen Symbolik für das Kollektiv der Muslime, konnotiert als antikolonialistischer oder -imperialistischer Kampf.“

Das islamisch-orientierte Deutungsmuster der Kollektivgeschichte nimmt Bezug auf das islamische Umma-Konzept sowohl in den Geschichtsdarstellungen als auch im politischen Diskurs. Das islamische Umma-Konzept basiert auf der Vorstellung von einer idealisierten (islamischen Gemeinde) oder (Urgemeinde) und von dem damit verbundenen Kalifat-Konzept als einer idealen Form für einen Staat im ganzen Mandatsgebiet Palästina. Vertreter dieser Auffassung sind vor allem die islamisch-orientierten Parteien, die islamische Widerstandsbewegung Hamas (Arab.: ḥarakat al-muqāwama al-islāmiyya, ḥamās) und der Palästinensische Islamische Jihad in Palästina (arab.: ḥarakat al-ğihād al-islāmī fi filasṭīn) bekannt als (PIJ) im Westjordanland und Gazastreifen. Ganz Palästina - nach diesem Verständnis – ist es als eine islamische Waqf (religiöse Stiftung) „auf ewig anvertrautes Gut und unveräußerlicher Besitz der Muslime“ zu verstehen (Krämer 2002/2003, S. 46).

Das durch eine islamisch-orientierte Perspektive geprägte Deutungsmuster verfolgt die sogenannte „bewaffnete Befreiungsstrategie“ und deutet den Nahostkonflikt als einen

„existenziellen Kampf“ bzw. „Zivilisations- und Glaubenskampf“ (Damir-Geilsdorf 2008, S.

246). Dagegen verfolgt die säkular-nationale Richtung idealtypisch die sogenannte

„Staatenbildungsstrategie“ und wird auf politischer Ebene hauptsächlich durch die Partei

„Fatah“ und die palästinensische Autonomiebehörde (ab Mitte der 1990er) im Westjordanland vertreten. All diese drei Perspektiven gehen von einer kohärenten und homogenen arabischen oder palästinensischen Nation als Rahmen für die Wahrnehmung und Darstellung der Vergangenheit und für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft aus. Idealtypisch lässt sich die Nakba daher in drei unterschiedliche Deutungen kategorisieren, die auch nicht immer leicht voneinander zu trennen sind. Diese drei Perspektiven sind nur analytisch voneinander zu trennen, denn sie überschneiden sich in der Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht.

Das christlich-arabische ehemalige Knesset-Mitglied Azmi Bischara (Arab.: ʿAzmī Bišāra) versucht eine scharfe Trennung zwischen der islamisch-orientierten und säkular-nationalen Deutungshoheit der Vergangenheit und auch der Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Dazu schreibt er beispielsweise:

„Weder ist der palästinensische nationale Befreiungskampf ein Religionskampf noch ist die

„Weder ist der palästinensische nationale Befreiungskampf ein Religionskampf noch ist die