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Zur Soziologie einer Regierungstechnik

Im Dokument Staatlichkeit in der Schweiz (Seite 172-194)

mICHAEL mÜLLI

Mit der Annahme eines Volksbegehrens im Februar 2014 haben die Stimm-berechtigten in der Schweiz beschlossen, Immigration aus der Europäischen Union (EU) mit «Höchstzahlen und Kontingenten» zu belegen.1 Angestos-sen wurde diese Volksinitiative von der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Der Plan, Immigration zu steuern und zu begrenzen, kommt allerdings nicht aus dem Nichts: Die Schweiz experimentierte bereits ab den 1950er-Jahren mit Techniken zur «Begrenzung» und «Herabsetzung» des «Ausländerbestandes».

Dabei standen die aus der Aussenwirtschaftspolitik stammenden Techniken der Deckelung durch Höchstzahlen («Plafonierung») und der Verteilung («Kon-tingentierung») im Zentrum. Antworten auf die Frage, um was es sich bei einer Kontingentierung von Migration eigentlich handelt, kommen also nicht um eine Betrachtung dessen herum, was da in der Schweiz zwischen den späten 1950er- und den frühen 1970er-Jahren entstanden ist: Wie entstand und wie funktioniert diese Technik und welches waren die Annahmen und Logiken die-ses Verfahrens? Mit Blick auf die aktuellen politischen Debatten unternehme ich im Folgenden also eine Rekonstruktion der Entstehung der Kontingentie-rung von Migration in der Schweiz.2

Plafond und Kontingent lassen sich im Sinne Michel Foucaults als Techni-ken beschreiben, um auf eine bestimmte Weise Bevölkerung zu steuern. Damit ist erstens gesagt, dass ich Plafonds und Kontingente als Techniken der Macht untersuche. Zweitens gehe ich davon aus, dass sich diese Techniken nicht bloss auf Migrantinnen3 richten. Die Techniken der Plafonds und Kontingente 1 Am 9. Februar 2014 haben die Stimmberechtigten das Volksbegehren mit dem Titel «Mas-seneinwanderung stoppen» äusserst knapp angenommen, vgl. Schweizerische Bundes-kanzlei 2014. Die Umsetzung der Initiative bleibt allerdings umkämpft.

2 In den 1950er-Jahren bestand die nicht weniger machtförmige Strategie noch darin, die Ar-beitsmigranten in einem möglichst flexiblen Modus – in Rotation – zu halten. Zu diesem Zweck wurden zeitlich befristete und reversible Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen eingeführt, vgl. Niederberger, Josef Martin 1982, S. 29, 39; Piguet, Etienne 2006, S. 20–22;

Vuilleumier, Marc 1992, S. 101. Aus Platzgründen gehe ich nicht auf diese Technik ein.

3 Im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache wechsle ich zwischen der weiblichen und der männlichen Form ab.

hen sich mit ihren Annahmen, Nützlichkeitsüberlegungen und Berechnungen insofern auf die ganze Bevölkerung, als sie diese als Interventionsebene adres-sieren. Dabei lässt sich die Entstehung einer wissensbasierten Staatlichkeit be-obachten, welche durch eine spezifische Korrelation unterschiedlicher Ratio-nalitäten der Macht charakterisiert ist.4

Um diesen Rationalitäten und Techniken auf die Spur zu kommen, analy-siere ich ein Quellenkorpus, welches aus Botschaften und Berichten des Bun-desrates, Gesetzen und Verordnungen, wissenschaftlichen Forschungsberichten und Stellungnahmen von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden aus den 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre besteht. Hinweise auf Rationalitäten und Funktionsweisen der eingesetzten Techniken lassen sich zudem aus zeitgenössi-schen wirtschaftswissenschaftlichen Handbüchern ziehen. Ich lehne mich dabei an die Machtwissen- und Dispositivanalysen Michel Foucaults an. Bevor ich mich der Entstehung der Techniken der Deckelung von Migration durch «Pla-fonds» und der Verteilung durch «Kontingente» widme, führe ich kurz an die Perspektive der Gouvernementalität und meine theoretischen Werkzeuge heran.

Staatlichkeit und Bevölkerung als machteffekte

In seinen Vorlesungen zur «Geschichte der Gouvernementalität» von 1978/79 und weiteren Arbeiten in deren Umfeld betont Foucault verschiedene Facetten des Konzepts der «Menschenregierungskunst» beziehungsweise der «Gouverne-mentalität».5 Den roten Faden der Vorlesungen bildet die «Entstehung eines poli-tischen Wissens»6 der Führung und Lenkung von Menschen von der Antike über die frühneuzeitliche Staatsräson und die Polizeiwissenschaft bis hin zu liberalen und neoliberalen Theorien. Schlüsselkonzept dieses Typs von Machtanalyse ist dasjenige der «Regierung». Während sich der Alltagsbegriff von Regierung heute vor allem auf die rechtlich-administrative Struktur staatlicher Instanzen bezieht, versteht Foucault unter Regierung verschiedene Machtformen der Führung, Steuerung und Regulation von Menschen und Bevölkerungen.

Eine Hauptdimension in Foucaults Arbeiten zur Gouvernementalität ist die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Staatlichkeit und Bevölkerung.

Diese Perspektive setzt weder die Bevölkerung noch staatliche Institutionen auf 4 Die bisherige Aufarbeitung der Schweizer Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts fragt bei den hier untersuchten Techniken nicht explizit nach Machteffekten dieser Art, vgl. Mahnig, Hans et al. 2005; Niederberger, Josef Martin 1982, 2004; Piñeiro, Esteban 2015; Piguet, Etienne 2006; Wicker, Hans-Rudolf et al. 2004.

5 Foucault, Michel 2005, 2006a, 2006b, 2010a.

6 Foucault, Michel 2006a, S. 520.

ontologischer Ebene als gegeben voraus. Stattdessen geht es Foucault darum, Be-völkerung und Staatlichkeit ausgehend von spezifischen Wissensformen, Ratio-nalisierungen, Problematisierungen und Regierungstechniken zu denken und zu rekonstruieren. Foucault analysiert Macht dabei nicht primär als Unterdrückung, Ausbeutung oder Repression, sondern insistiert auf dem hervorbringenden, pro-duktiven Charakter von Machtbeziehungen und Wissensformen. Bevölkerung etwa muss ständig beschrieben, vermessen und als solche angerufen werden, da-mit sie existiert. Im Fall der hier untersuchten Facette schweizerischer Migra-tionspolitik spielen Expertisen aus Wissenschaft, Verwaltung, Gewerkschaften und Verbänden eine entscheidende Rolle. Ihre Kategorisierungen, Statistiken, Berechnungen etc. sind sowohl daran beteiligt, Staat und Bevölkerung denkbar zu machen, als auch bestimmte ihrer Bereiche zu problematisieren und dadurch als Zielscheibe von Regierungsinterventionen bereitzustellen.

Indem ich Staatlichkeit ausgehend von Wissensformen und Regierungs-techniken rekonstruiere, verzichte ich auf Versuche, staatliches Handeln an eine einzige Rationalität zurückzubinden. Um die Vielschichtigkeit der Schweizer Migrationspolitik der späten 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre fassen zu können, werfe ich ein analytisches Netz von vier unterschiedlichen Rationa-litäten der Macht aus, die sich ausgehend von dem untersuchten Material an-bieten: Souveränität, Staatsräson, Biopolitik und Sicherheit. Dieses analytische Viereck an politischen Rationalitäten verdeutlicht, dass es die Immigranten und mit ihnen die Bevölkerung jener Jahre nicht mit der Staatsmacht zu tun kriegten, sondern zunächst einmal mit mehreren korrelierenden Rationalitäten der Macht. Es wird zu zeigen sein, inwiefern sich die Rationalitäten der Macht verknüpfen, stützen oder bekämpfen. Foucault spricht von einem strategischen

«Netz» beziehungsweise «Dispositiv», das es zu analysieren gelte.7 Meine Ar-beit besteht also in einer historischen Dispositivanalyse, die bei Rationalitäten, Wissensformen, Problematisierungen und Techniken des Regierens als kleins-ten Analyseeinheikleins-ten ansetzt.

Kosten und nutzen von Arbeitskräften

Zu den Entstehungsbedingungen der Begrenzung von Immigration in der Schweiz gehört zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Selbst-erzählung einer Nation, die durch «Überfremdung» gefährdet sei.8 Diese Über-fremdungserzählung zeigt sich etwa im Recht: Laut dem «Bundesgesetz über 7 Foucault, Michel 1978.

8 Zur Entstehung und Verrechtlichung des Überfremdungsdiskurses in Schweiz siehe Kury, Patrick 2006.

Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer» (ANAG) von 1931 hatten die Bewilligungsbehörden bei ihren Entscheiden über Einreisen zum Aufenthalt

«die geistigen und wirtschaftlichen Interessen sowie den Grad der Überfrem-dung des Landes» zu berücksichtigen.9 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts wurden unterschiedliche Lebensbereiche als von Überfremdung bedroht beschrieben. Bald galten die «geistigen» Interessen des Landes als bedroht, bald schob sich das Narrativ der Gefahr der Überfremdung des Wirtschaftslebens neben jenes der geistigen Überfremdung.

Was damit im näheren Kontext der hier untersuchten Techniken gemeint war, schrieb Bernhard Wehrli, Sekretär des Vorort genannten Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins (SHIV) im «Handbuch der schweizerischen Volkswirtschaft» (1955): «Von volkswirtschaftlicher Überfremdung kann ge-sprochen werden, wenn innerhalb der einheimischen Wirtschaft dem auslän-dischen Einfluss (Arbeitskräften, Unternehmern, Kapitalinvestitionen usw.) eine übermässige Bedeutung zukommt.» Wehrli problematisierte unter ande-rem eine «übermässige» Anwesenheit von Immigranten auf dem Arbeitsmarkt:

«Zur Beurteilung steht also eine Frage des Masses.» Die Formulierung deu-tet eine Art zu vermeidenden Umkipppunkt an. Bei Erreichen dieses Punktes würde die gesamte Volkswirtschaft in Gefahr geraten. Wehrli stellte die wirt-schaftliche Überfremdung in den Kontext eines «weiterreichenden Problems, welches auch geistige, politische, kulturelle, ethnische und andere Gesichts-punkte in sich schliesst». «Allzu starke ausländische Positionen» innerhalb der nationalen Wirtschaft würden sich auch «auf das nationale Leben im allgemei-nen» negativ auswirken.10

Die Formulierungen des Sekretärs verweisen auf eine bestimmte Ratio-nalität der Macht: Der Aspekt der Überfremdung des «nationalen Lebens im allgemeinen» lässt sich als Problematisierung von Migration im Register der Staatsräson (raison d’état) lesen, einer Regierungskunst, die im Europa der frü-hen Neuzeit entstand und deren Kernanliegen die Stärke des Staates ist. Diese Stärke zu quantifizieren war die Aufgabe der Statistik, die als Staatswissenschaft entstand.11 Statistik und Demografie sind die Instrumente der Staats räson, um die Bevölkerung zu quantifizieren und auf diese Weise die Kräfte des Staates zu vermessen. In der Staatsräson ist also ein Wille zur Quantifizierung von Be-völkerung angelegt. In diesem Register der Staatsräson problematisierte Wehrli die Arbeitsimmigration hinsichtlich ihres Überfremdungspotenzials und damit eines Potenzials zur Schwächung des Staates.

9 ANAG, Art. 16 Abs. 1, AS 49 279.

10 Wehrli, Bernhard 1955, S. 452.

11 Foucault, Michel 2005, S. 207–217.

Zum Ermöglichungszusammenhang einer quantitativen Begrenzungs-technik in der Schweizer Migrationspolitik gehören neben der Problemati-sierung der Überfremdung von Staat und Wirtschaft weitere Deutungen der volkswirtschaftlichen Funktion ausländischer Arbeitskräfte. Eine wichtige Rolle bei der Bewertung der Arbeitsimmigration spielte in den 1950er-Jahren der wirtschaftspolitische Diskurs der Gewerkschaften. Die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland wurde von den grossen Gewerkschaften rasch als Faktor einer drohenden starken Inflation gesehen. Sie sprachen von der Gefahr einer «Konjunkturüberhitzung»12 als Folge von Arbeitsimmigration.

Diese würde das Eintreten einer Wirtschaftskrise beschleunigen oder sogar herbeiführen, die letztlich alle Arbeitskräfte treffen würde. Statt in arbeitsex-tensivere und kapitalinarbeitsex-tensivere Produktionsmittel zu investieren, hatten die Unternehmen aus der Sicht der Gewerkschaften ihre Produktionssteigerungen mittels Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland gesucht. Darin sahen die Gewerkschaften einen Mechanismus, der zu immer weiteren Anstellungen von Neueinreisenden führen müsse. Sie plädierten daher neben einer Lenkung der Investitionen für eine restriktive Zulassungspolitik.13

Auch die Forderungen der Gewerkschaften lassen sich im Register der Staatsräson lesen, denn ihre Sorge um das Wohlergehen der Arbeiterschaft ist eine nationale Sorge und ihre migrations- und konjunkturpolitischen Forde-rungen sind Anrufungen des Staates: Dieser müsse Massnahmen zur Dämp-fung der Konjunktur anordnen. Andererseits ist bei den Gewerkschaften das Bemühen erkennbar, die Konjunktur zu lenken, ohne die Prozesse der Volks-wirtschaft zu stark durch Staatsräson einzuschränken und dadurch zu gefähr-den. Diese Prozesse zu gewährleisten ist mit Foucault gesprochen eine Frage der «Sicherheit», die er damit nicht als militärische und polizeiliche Sicherheit versteht: Foucault spricht von Dispositiven der Sicherheit, wenn etwa versucht wird, wirtschaftliche Prozesse und Zirkulationen von Bevölkerung sowohl zu-zulassen als auch zu kalkulieren, zu steuern, zu regulieren, zu selektieren und zu optimieren.14

Die Problematisierung von Immigration hinsichtlich der Konjunktur ist in jenen Jahren nicht nur für die Gewerkschaften typisch. In einer wichtigen Botschaft, mit welcher der Bundesrat im Jahr 1964 der Bundesversammlung seine «Massnahmen auf dem Gebiete des Geld- und Kapitalmarktes und des Kreditwesens sowie über konjunkturpolitische Massnahmen auf dem Gebiete der Bauwirtschaft» darlegte, finden sich ähnliche Argumente – auch wenn

12 Niederberger, Josef Martin 1982, S. 41.

13 Ebd., S. 42.

14 Foucault, Michel 2006a.

Migration im Titel der Botschaft gar nicht vorkommt.15 Eine Stelle führt aus der Sicht des Bundesrates den Zusammenhang von Exportsteigerung und Migra-tion in den Arbeitsmarkt aus, wobei beide zunächst als Faktoren in einem Sys-tem des «wechselseitigen Auftriebs» erscheinen.16 Doch dann nimmt die Argu-mentation der Botschaft eine interessante Wende, indem Arbeitsimmigration und Konjunkturüberhitzung in einer eindeutig gerichteten Wirkungskette neu angeordnet werden: Die Konjunkturüberhitzung sei, schreibt der Bundesrat,

«bei andauerndem Nachfragedruck vor allem dem Zuzug ausländischer Ar-beitskräfte sowie den Mittelzuflüssen aus dem Ausland» zuzuschreiben.17 Das Beiziehen von Arbeitskräften aus dem Ausland wird hier nicht mehr als Wir-kung, sondern als Ursache volkswirtschaftlicher Probleme ins Zentrum ge-rückt, was einen völlig neuen Spielraum für Regierungstechniken eröffnet. Zu Beginn der 1960er-Jahre verschränken sich damit zwei Problematisierungen von Arbeitsimmigration: Im Register der Staatsräson die Problemdiagnose der Überfremdungsgefahr; im Register der Sicherheit die Gefahr der Konjunktur-überhitzung. Für beide Gefahren wurde die Arbeitsimmigration verantwort-lich gemacht.

An dieser Diskussion beteiligten sich auch jene Wissenschaftler und ho-hen Beamten, welche in den Jahren 1961–1964 die Studienkommission für das Problem der ausländischen Arbeitskräfte bildeten. Präsident der Kommission war der damalige Direktor des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Ar-beit (BIGA), als Vizepräsident amtete der Direktor der Eidgenössischen Frem-denpolizei. Auch der Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amtes war Kommissionsmitglied. Verwaltungsintern wurden zudem je ein Volkswirt und ein Statistiker beigezogen. Die weiteren Experten in der Kommission waren Universitätsprofessoren der Soziologie, der politischen Ökonomie, der Statis-tik, der Finanzwissenschaften, der Geschichte, der Psychologie und der ita-lienischen Literatur aus der ganzen Schweiz.18 Einberufen in erster Linie im Namen des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements sowie zusätzlich des Justiz- und Polizeidepartements, hatte die Kommission den Auftrag, «das Problem der ausländischen Arbeitskräfte unter ökonomischen, bevölkerungs-politischen, soziologischen und staatspolitischen Gesichtspunkten zu prüfen».

Insbesondere sollten «die wirtschaftlichen und die staatspolitischen Probleme»

fokussiert werden.19 Eine Begrenzung «des Ausländerbestandes», schreibt die 15 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über Massnahmen auf dem

Gebie-te des Geld- und KapitalmarkGebie-tes und des Kreditwesens sowie über konjunkturpolitische Massnahmen auf dem Gebiete der Bauwirtschaft, 24. Januar 1964, BBl. 1964, S. 181–232.

16 Ebd., S. 185.

17 Ebd., S. 196 (Hervorhebung im Original).

18 Studienkommission 1964, S. 7; Cerutti, Mauro 2005, S. 100.

19 Studienkommission 1964, S. 7; Vgl. Gees, Thomas 2006, S. 117.

Kommission dann auch in ihren Schlussfolgerungen, sei «nicht nur zur Ab-wehr der Überfremdungsgefahr unerlässlich», sondern «auch aus wirtschafts-politischen Gründen».20 Die Studienkommission operierte damit entlang der beiden Rationalitäten der wirtschaftlichen Sicherheit und der Staatsräson.

Im Register der Sicherheit entfalten die Schlussfolgerungen ähnliche be-triebs- und volkswirtschaftliche Kostenkalkulationen der Migration, wie sie zuvor schon die Gewerkschaften angestellt hatten: Das bisherige Hinzuziehen ausländischer Arbeitskräfte verursache zunehmend stagnierende Produktivität und eine Verstärkung der «Konjunkturüberhitzung». Die zahlenmässige Zu-nahme von Arbeitsimmigrantinnen ermögliche unter anderem ein Festhalten an wenig kapitalintensiven Produktionsweisen, führe zu vermehrten Investi-tionen auf dem Wohnungsmarkt und allgemein einem höheren Bedarf an öf-fentlicher Infrastruktur. Daher müssten «unverzüglich staatliche Massnahmen zur Abwehr der Überfremdung eingesetzt werden», wobei im Gegenzug die Rechtsstellung der bereits anwesenden ausländischen Arbeitskräfte zu verbes-sern sei.21 Der Bericht der Studienkommission folgerte schliesslich sowohl im Sinne der Staatsräson als auch der wirtschaftlichen Sicherheit in die Richtung einer Immigrationsbeschränkung.

Biopolitisches Expertenwissen:

Grenzziehungs- und quantifizierungsarbeit

Der Schlussbericht der Studienkommission ist für meine Frage nach den Be-dingungen der Immigrationsbegrenzung auch insofern von Interesse, als er einen umfangreichen demografischen und einen fremdenpolizeilichen Teil enthält. Die Leserin kann hier dabei zuschauen, wie auf dem Terrain der so-zial- und kulturwissenschaftlichen Expertise die biopolitische «Zäsur»22 zwi-schen «Schweizern» und «Ausländern» produktiv wird. Das erste Kapitel des Berichts nimmt sich vor, die «Entwicklung und die Struktur des Ausländer-bestandes im Rahmen der Gesamtbevölkerung näher zu betrachten».23 Darin präsentiert der Bericht eine lange Reihe sozialstatistischer Auswertungen, welche anhand von Daten aus Volkszählungen «Schweizer» und «Ausländer»

ein ander gegenüberstellen. Zu sehen sind unter anderem ein Liniendiagramm, welches den «Ausländeranteil» der Gesamtbevölkerung seit den 1880er-Jah-ren beschreibt, Liniendiagramme zur «ehelichen Fruchtbarkeit der 20 Studienkommission 1964, S. 175 (Hervorhebung im Original).

21 Studienkommission 1964, S. 176; Vgl. Gees, Thomas 2006, S. 117–121.

22 Foucault, Michel 2010b, S. 79.

23 Studienkommission 1964, S. 11.

rinnen» und ihren «unehelichen Geburten» im Vergleich mit den «Schweize-rinnen», Säulendiagramme zu Eheschliessungen «von Ausländern unter sich»

sowie «ausländisch-schweizerischen Mischehen» und fünf Kreuztabellen zur

«Kriminalität der Ausländer in der Schweiz».

Der Bericht der Studienkommission ist ein gutes Beispiel für «die episte-mologische Priorität des Urteilens in jeder Kalkulation»,24 von der Michael Po-wer spricht: Bevor überhaupt statistisch gerechnet Po-werden kann, müssen Ka-tegorien gebildet und Menschen in diese KaKa-tegorien einsortiert werden – hier entlang der Zäsur zwischen den Bevölkerungsgruppen der «Ausländer» und der «Schweizer». Bei dieser Grenzziehungsarbeit geht die Kommission von ras-sistischen Stereotypen aus: Ihr Ausgangspunkt sind «kulturelle Unterschiede»

zwischen schweizerischen Staatsangehörigen und Angehörigen von Staaten in

«völlig anderen Kulturkreisen».25 Unzählige Zuschreibungen summieren sich zu einem grotesken Bild ‹des Ausländers› als eines der politischen Teilnahme unfähigen, immer schon potenziell asozialen Anderen, welcher weder demo-kratischen Bürgersinn noch Auffassungsgabe oder Lernfähigkeit besitze. Die Abwertung des Anderen wird durch die Kreuztabellen zur Kriminalität noch verstärkt. Damit werden Ausländerinnen tendenziell mit Kriminalität assozi-iert – eine Strategie der Biopolitik: Die Bevölkerung wird nun in ihrem Innern von fremden Abweichlern bedroht.26

Vor dieser Negativfolie erscheint als nicht weniger groteskes Komple-ment der mit allen Tugenden und «eidgenössischem Bewusstsein» ausgestattete Schweizer Bürger, der sich durch ein «besonders enges Verhältnis» zum «Staat»

auszeichne. Die Schweizerische Eidgenossenschaft sei «begründet in gemein-samen politischen und kulturellen Leitbildern» und in einem «gemeingemein-samen Staatswillen». Dieses Bewusstsein sei «langsam im Verlaufe von Jahrhunderten gewachsen».27 Die Problematisierung der Überfremdung richtet sich also ver-mittelt über das Negativ der Migrantinnen auf die gesamte Bevölkerung, indem Erwartungen an ihr Verhalten, Bewusstsein und Sein formuliert werden. Hier geht es nicht nur um Migration, sondern um Bevölkerung überhaupt.28

Nicht nur zwischen «Schweizern» und «Ausländern» zieht der Bericht eine Grenze, weitere Zäsuren erfolgen innerhalb der letzteren Gruppe: Die Kommission arbeitet mit jenen juridischen Aufenthaltskategorien, die mit dem

«Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer» von 1931 geschaffen wurden. Den verschiedenen Aufenthaltsbewilligungen schreibt die 24 Power, Michael 2004, S. 774 (Übersetzung M. M.).

25 Studienkommission 1964, S. 145.

26 Foucault, Michel 2010b.

27 Studienkommission 1964, S. 137 f.

28 Vgl. Piñeiro 2015, S. 186–196.

Kommission unterschiedliche Überfremdungspotenziale zu: «Nicht alle Aus-länderkategorien fallen aber für die Beurteilung des Überfremdungsgrades gleich schwer ins Gewicht.» Während die Überfremdungsgefahr bei Grenz-gängern, «die jeden Abend an ihre ausländische Wohnstätte zurückkehren», nicht gross sei, übten die Saisonarbeiter einen «beträchtlich stärkeren Einfluss»

aus. Am stärksten aber würden die als homogen vorgestellten «schweizerischen Anschauungen, Sitten und Gebräuche» durch die länger dauernde Anwesen-heit von Aufenthaltern gefährdet. Wissenschaftlerinnen, Künstler, Unterneh-mensleiterinnen oder Journalisten könnten «einen ungleich grösseren Einfluss auf unser Denken und auf die Lebensverhältnisse ausüben, als es ihrer zahlen-mässigen Vertretung entsprechen würde». Allerdings sei der «Umfang» dieser

«fremden Einwirkungsmöglichkeiten» gar nicht mess- und selbst schwer ab-schätzbar. Daher könne «der zahlenmässige Anteil der ausländischen Bevölke-rung allein nicht der Massstab für den Grad der Überfremdung» sein.29

Wer nun aufgrund dieser Nichtquantifizierbarkeit der verschiedenen Überfremdungspotenziale die Einsicht erwartet, dass sich Überfremdung nicht quantifizieren lässt, macht die Rechnung ohne jenen Willen zur Quantifizie-rung, der im Bericht der Kommission von den einleitenden Kapiteln an stets mitläuft: Der «gewichtigste» Aspekt der Überfremdung sei «wohl die ungüns-tige Veränderung der Bevölkerungsstruktur infolge der Zunahme der Auslän-derquote».30 Problematisch erschien der Studienkommission also der «Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung».31 Im Kern macht die Kommission damit ein zunächst paradoxes Argument, das sich unter Berücksichtigung der Staatsräson aber verstehen lässt, denn die Staatsräson verfährt quantifizierend:

‹Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte kann nicht das Problem sein, da die schiere Zahl die unterschiedlichen Überfremdungsqualitäten ausser Acht lässt, die sich jeder Quantifizierbarkeit entziehen. Da diese Zahl in diesem Fall aber derart hoch ist, dass sie die Bevölkerung in allen Lebensbereichen durch

‹Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte kann nicht das Problem sein, da die schiere Zahl die unterschiedlichen Überfremdungsqualitäten ausser Acht lässt, die sich jeder Quantifizierbarkeit entziehen. Da diese Zahl in diesem Fall aber derart hoch ist, dass sie die Bevölkerung in allen Lebensbereichen durch

Im Dokument Staatlichkeit in der Schweiz (Seite 172-194)