• Keine Ergebnisse gefunden

Merkmale, Typen und Probleme sozialer Grundsicherungen

Was unter „soziale Grundsicherung“ zu verstehen ist, ist bereits in Abschnitt 1.4 für entwickelte und Entwicklungsländer dargestellt worden. In diesem Abschnitt sollen die Besonderheiten von Grundsicherung in Entwicklungsländern näher beleuchtet wer-den: Was unterscheidet Grundsicherungen von anderen Formen sozialer Hilfe, die in Entwicklungsländern vertraut sind? Welche Typen sozialer Grundsicherung sind in Entwicklungsländern, teilweise im Unterschied zu entwickelten Ländern, anzutreffen?

Welche Ziele und Wirkungen und welche Probleme sind typisch für Grundsicherungen in Entwicklungsländern?

Soziale Grundsicherungen sind staatliche (inkl. kommunale) in-dividuen- und haushaltsbezogene Transfersysteme zur Bekämp-fung von Armut bei längerfristig von Armut betroffenen und nur eingeschränkt selbsthilfe- und gegenleistungsfähigen Gruppen.

Soziale Grundsicherungen unterscheiden sich von anderen, in Entwicklungsländern verbreiteten Hilfeformen und Leistungssys-temen dadurch,

x dass sie keine Beitragszahlungen voraussetzen (wie staatliche oder kollektive Sozialversicherungssysteme);

x dass es individuelle und/oder haushaltsbezogene Ressourcen-zuwendungen sind (nicht kollektive technische, soziale oder landwirtschaftliche Fördermaßnahmen für soziale Gruppen, Dörfer oder Regionen);

x dass Hilfen zum Lebensunterhalt gegeben werden (nicht oder nicht primär Förderung von Beschäftigung oder Bildung);

x und dass materielle Hilfen längerfristig institutionalisiert sind, im Unterschied zu staatlich oder von ausländischen Hilfsorga-nisationen gestützten vorübergehenden Hilfen bei kollektiven Notsituationen wie Naturkatastrophen oder wirtschaftlichen Krisen. Chronisch Arme, die eine langfristige Unterstützung zur Sicherung des Überlebens benötigen, werden von Krisen-interventionsprogrammen nicht ausreichend unterstützt.

„Countries now need to consider a shift from crisis response to sustainable social assistance programs.” (Howell 2001a: 285).

Die Zielgruppen von sozialen Grundsicherungssystemen haben i.d.R. keine Lobby und sind nicht organisiert. Potenziell

einge-Merkmale, Typen und Probleme sozialer Grundsicherungen schränkt selbsthilfefähige Gruppen sind in Entwicklungs- und Übergangsländern vor allem:

x Ältere

x Hinterbliebene (Witwen, Waisen)

x Menschen mit Behinderung(en)

x Ländliche Bevölkerung, insbesondere Landlose

In jüngster Zeit sind folgende Gruppen verstärkt hinzuge-kommen:

x Von AIDS betroffene Individuen und Haushalte (Aidswaisen, für diese sorgende Großeltern, Aidswitwen, Aidsinvalide)

x Haushalte mit alten Haushaltsvorständen

x Haushalte mit weiblichen Haushaltsvorständen (siehe Buvi-nic/Rao Gupta 1997)

x Arbeitslose

x Niedriglohnarbeiter (working poor)

x Kinder.

Die Abgrenzung von ‚Grundsicherung’ gegen andere Hilfeformen wie auch die Abgrenzung verschiedener Formen von Grundsiche-rung untereinander ist in der Literatur und auch in der Wirklich-keit der Länder noch weniger eindeutig als in entwickelten Län-dern. In westlichen Ländern deckt der Begriff „Sozialhilfe“ (social assistance, selective benefits) den größten Teil der entsprechenden Hilfesysteme ab. Die Sozialhilfe war daher Hauptfokus unserer Grundsicherungsanalyse für westliche Länder (Kapitel 2-5). Auch im Kontext von Entwicklungsländern wird gelegentlich „Sozial-hilfe“ als Oberbegriff benutzt (so bei Howell 2001a, 2001b und von der Asiatischen Entwicklungsbank). Wissenschaftlich könnte der Begriff „Sozialhilfe“ als ein Idealtyp (im nicht-normativen Sinne, nach Max Weber) benutzt werden, der zentrale Elemente von Grundsicherungssystemen in ‚reiner’, stilisierter Form darstellt.

In zweierlei Hinsicht bildet der Begriff ‚Sozialhilfe’ den hier als

‚Grundsicherung’ zu untersuchenden Formenkreis allerdings nicht vollständig bzw. nicht treffend ab. Zum einen meint Sozial-hilfe immer bedürftigkeitsgeprüfte (means-tested) Leistungssysteme.

Zu den Grundsicherungen in Entwicklungsländern (wie in entwi-ckelten Ländern) zählen jedoch, wenn auch selten, universelle bzw. kategoriale Systeme ohne individuelle Bedürftigkeitsprü-fung (Kästen 6.1 und 6.2). Zum anderen werden in der entwick-lungspolitischen Diskussion ‚Grundsicherung’ und ‚Sozialhilfe’

Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft

96

meist als längerfristig angelegte Leistungen verstanden – im Un-terschied zur Diskussion in entwickelten Ländern, in der Sozial-hilfe auch und zunehmend als Ausfallbürge bei vorübergehenden Notlagen verstanden wird (und empirisch auch ist, s. Kapitel 4.3).

Wir folgen in diesem Kapitel der auf längerfristige Hilfe orientier-ten Sichtweise der entwicklungspolitischen Diskussion, die die Realität der Hilfeformen in den Entwicklungsländern weitgehend spiegelt, problematisieren diese Sichtweise aber in den Empfeh-lungen (Kapitel 15).

Kasten 6.1

Universelle Transfersysteme in Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften

Universelle (nicht bedürftigkeitsgeprüfte) Geldtransferleistungen gibt es in einer Vielzahl industrialisierter Länder, aber nur selten in Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften, z.B. in Mauritius. Weiter verbreitet sind in Entwicklungsländern universelle Gesundheitsdienste, aber der universelle Charakter erodiert im Zuge der Einführung von Gebühren, von denen meistens nur extrem Bedürftige befreit werden (Beattie 2000: 142).

Bei universellen Programmen entstehen kaum Kosten für die Identifikation der Anspruchsberechtigten. Universelle Leistungen genießen in der Öffent-lichkeit unter Umständen größeres Vertrauen als bedürftigkeitsgeprüfte Programme: „Unlike more selective schemes, universal transfer programs may enjoy a higher level of public confidence because they offer less oppor-tunity for fraud or favoritism.“ (Tabor 2002: 35, siehe auch Smith/Subbarao 2003: 25). Aufgrund ihres einfachen Designs sind universelle Systeme in Ländern mit geringer administrativer Kapazität leichter zu implementie-ren.

Ein Hauptproblem ist die Finanzierung. Die Gesamtkosten universeller Programme sind i.d.R. relativ hoch. Ein weiterer Nachteil ist, dass auch Nicht-Bedürftige Leistungen erhalten. Eine Möglichkeit, Kosten zu redu-zieren, ist die Auszahlung von geringen Beträgen. So können universelle Systeme auch einen self-targeting-Effekt haben: Wohlhabendere haben dann kein Interesse an der Leistung oder möchten eine Stigmatisierung durch den Leistungsbezug vermeiden (Smith/Subbarao 2003: 25, Tabor 2002: 21).

Merkmale, Typen und Probleme sozialer Grundsicherungen Kasten 6.2

Bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme in Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften

Bedürftigkeitsprüfung führt potenziell zu einer hohen Effizienz bei der Auswahl der Zielgruppe. Ausgaben lassen sich dadurch begrenzen. Be-dürftigkeitsprüfung wirft jedoch das Problem der genauen Identifikation und Erreichung der Anspruchsberechtigten auf (targeting; zu targeting in Asien s. Weiss 2005). Es werden institutionelle Kapazitäten für die Durch-führung der Bedürftigkeitsprüfung (means test) benötigt. Eine kritische Voraussetzung ist die Funktionsfähigkeit und Erreichbarkeit der zuständi-gen Institutionen (Verwaltunzuständi-gen, Post oder Banksysteme, örtliche Gemein-schaften u.a.). Benötigt werden Einrichtungen zur Antragstellung und Leistungsauszahlung, auch in abgelegenen ländlichen Gegenden. Auch muss sich jeder anspruchsberechtigte Empfänger ausweisen können. Das Selektionsverfahren und die Programmdurchführung werden dadurch personal- und kostenintensiv (siehe Mooij 1999).

Aufgrund der benötigten administrativen Kapazitäten bietet sich eine sol-che Methode nur in Ländern bzw. Regionen mit mittlerem Einkommensni-veau sowie in Transformationsländern an (Tabor 2002: 15, Legovini 1999).

In sehr armen Ländern machen das häufig unregelmäßige Einkommen, die subsistenzwirtschaftliche Struktur und die fehlende Geldwirtschaft den Einsatz bedürftigkeitsgeprüfter Transfersysteme schwierig. Auch ist Land-besitz oft nicht aufgezeichnet. Ein weiteres Problem in sehr armen Entwick-lungsländern ist, dass eine hohe Personenzahl anspruchsberechtigt wäre, und somit eine Bedürftigkeitsprüfung nur in geringem Maß eine selektive Funktion erfüllen kann (Smith/Subbarao 2003).

Bei bedürftigkeitsgeprüften Systemen besteht des Weiteren die Gefahr der Beeinflussung des Auswahlprozesses durch Klientelismus und Korruption.

Auch besteht die Gefahr, dass sich Nicht-Bedürftige Zugang zur Leistung verschaffen. „To combat fraud, several nations have centralized income re-cordkeeping, tightened penalties for fraud, and expanded the authority of the social welfare services to investigate and prosecute benefit fraud.” (Ta-bor 2002: 37). Neben strikteren Überwachungsmethoden kann auch eine in-tensivere Aufklärung der Bevölkerung über Rechte und Pflichten (vor al-lem im ländlichen Raum) Missbrauchstendenzen entgegenwirken (Barrien-tos/Lloyd-Sherlock 2002: 51 f.; Duran-Valverde 2002: 30).

Wir schlagen vor, fünf Typen staatlicher Grundsicherungsprogramme in Entwicklungs- bzw. Übergangsländern zu unterscheiden (diese

Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft

98

Typologie ist zugleich ein Befund unserer Analyse), die wir im Rest des Kapitels erörtern:

x Beitragsfreie Renten (Kapitel 7)

x Sozialhilfe (ohne primär familienbezogene Systeme) (Kapitel 8)

x Familienbezogene Sozialhilfe (meist für working poor) (Kapi-tel 9)

x Konditionierte Transferleistungen (Kapitel 10)

x Hilfen zur Versorgung mit Grundbedarfsgütern (Kapitel 11).

Die ersten drei genannten Programmtypen verfolgen das Ziel der Armutsbekämpfung in Bezug auf unterschiedliche Zielgruppen.

Die beiden letztgenannten Programmtypen weichen am stärksten vom Idealtypus der Sozialhilfe ab: durch Verknüpfung von Trans-fers mit verhaltensbezogenen sozialpolitischen Zielen bzw. durch die kollektive, nicht scharf individuenbezogene Form der Hilfe. In Bezug auf Sozialhilfesysteme im engeren Sinne lassen sich zwei Typen unterscheiden: Sozialhilfe für Personengruppen mit stark eingeschränkter Selbsthilfefähigkeit (Kapitel 8) und Sozialhilfe für Familien mit Kindern (Kapitel 9). Bei letzteren kann es sich auch um voll selbsthilfefähige/erwerbsfähige Menschen handeln, die jedoch aufgrund eines äußerst geringen Erwerbseinkommens (Niedriglohnbereich) hilfebedürftig sind. Sozialhilfe ist dann pri-mär als Leistung gedacht, die Kindern zugute kommen soll. Die Übergänge zwischen den Programmtypen sind jedoch fließend. In manchen Familientransferprogrammen werden zusätzlich andere Gruppen versorgt, und von nicht direkt familienbezogener Sozi-alhilfe können auch Familienangehörige profitieren. Auch zwi-schen beitragsfreien Rentensystemen (Kapitel 7) und Sozialhilfe-systemen gibt es Überschneidungen. So sind in einigen Ländern auch arme Alte in das Sozialhilfesystem integriert.

Wirkungen

Sozialhilfe hat unmittelbare, intendierte sozialpolitische Wirkun-gen, aber auch (teils erwünschte, teils unerwünschte) weiterrchende Wirkungen für die soziale Struktur und die Wirtschaft ei-nes Landes bzw. einer Region. Im Idealfall hat die Sozialhilfe fol-gende unmittelbaren sozialpolitischen Wirkungen:

x Verminderung von sozialer Ausgrenzung und Armut

x Verminderung von sozialer Ungleichheit

Merkmale, Typen und Probleme sozialer Grundsicherungen x Unterstützung oder Steigerung der Unabhängigkeit von

Indi-viduen und Haushalten.

Die Wirkung von Sozialhilfeprogrammen kann jedoch über das Ziel der Armutsbekämpfung hinausgehen. Öffentliche Investitio-nen in Sozialhilfeprogramme fördern durch die Ermöglichung ö-konomischer Teilhabe „verletzbarer“ (vulnerable) Gruppen auch wirtschaftliches Wachstum. „Social assistance programs should be seen as an important component of growth policies.” (Howell 2001b: 309). So können beispielsweise wohnungspolitische Maß-nahmen oder Unterstützungsleistungen für Familien das Wirt-schaftswachstum in einem Land fördern und, besonders bei Kon-ditionierung etwa durch Schulbesuch, auch zur Entwicklung von Humankapital beitragen (Howell 2001b: 329). Denn Armut kann sich auf die Wirtschaft eines Landes bzw. einer Region negativ auswirken (Rückgang der wirtschaftlichen Produktivität, von In-vestitionen und der Nachfrage an Binnenmärkten). „This [die ne-gativen gesamtwirtschaftlichen Folgen von Armut, d. Verf.] also has resulted in changes in government and delays in reforms.“

(Howell 2001a: 287). Ein hohes Maß an Armut begünstigt zudem gesellschaftliche Probleme wie Gewalt, Konflikte, Kriminalität und Fundamentalismus. Diese Probleme verzögern die Entwick-lung eines Landes, indem sie das Wirtschaftswachstum beein-trächtigen und zum Rückgang ausländischer Investitionen führen.

Sozialhilfeprogramme können diesen Tendenzen entgegensteuern („more than covering their costs“, Howell 2001a: 264).

Kritiker staatlicher Grundsicherungsprogramme in Entwick-lungsländern weisen jedoch auf die hohen Kosten der Maßnah-men hin. Es wird außerdem auf mögliche negative Auswirkungen solcher Programme aufmerksam gemacht, wie die Entstehung in-dividueller Abhängigkeit von Sozialhilfe und einen Rückgang der Erwerbsbeteiligung.

Probleme von Administration und Implementation

Bei der Gestaltung und Implementierung sozialer Sicherungssys-tem sind folgende für Entwicklungsländer typische strukturelle Bedingungen von Bedeutung:

x Ressourcenknappheit

x die Beschäftigungsstruktur: großer informeller Sektor, kleiner formeller Sektor; die Landwirtschaft ist größter, wenn auch

Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft

100

teilweise zurückgehender Wirtschaftssektor, verbunden mit strukturellen Transformationsprozessen

x begrenzte Infrastruktur und Steuerungskapazität der Verwal-tung sowie gering entwickeltes Rechtssystem; Korruption

x hohe Transaktionskosten für Verwaltungshandeln und Kom-munikation mit den Adressaten (aufgrund sozialräumlicher Bedingungen, geringer Transport- und Kommunikationskapa-zitäten, geringer Medienverbreitung, geringem Bildungsgrad der Bürger u.a.)

x schwach ausgeprägte nicht-staatliche Akteure und Träger („Zivilgesellschaft“)

x geringer Monetarisierungsgrad der ländlichen Wirtschaft und Mangel an effektiven und sozialräumlich verfügbaren Geldin-stituten.

Vor diesem Hintergrund sehen sich soziale Unterstützungspro-gramme in Entwicklungsländern grundlegenden Problemen ge-genüber (Kasten 6.3).

Kasten 6.3

Administrative Probleme sozialer Grundsicherungssysteme in Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften

x geringe oder zielungenaue Adressatenerreichung (targeting), u.a. auf-grund unzureichender Daten und Institutionen zur Feststellung von Anspruchsberechtigung und schwieriger sozialräumlicher Erreichbar-keit der Leistungsadressaten

x geringe Effektivität, insbesondere geringe armutsreduzierende Wir-kung, hohe Transaktionskosten, mangelhafte staatliche und nicht-staatliche institutionelle Infrastruktur

x prekärer bürokratischer Bearbeitungsprozess, mit Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Anträgen und Problemen bei der Auszahlung von Leistungen

x Finanzierungsprobleme durch unzureichende oder schwankende staat-liche

Ressourcen. Finanzquellen sind allgemeine Steuermittel (unterschiedli-che Regierungsebenen), Transfers aus Sozialversi(unterschiedli-cherungsfonds und beitragsartige Abzüge vom Lohn (getrennt von Sozialversicherungsbei-trägen) oder Zuwendungen internationaler Geldgeber.

Beitragsfreie Renten 7 . B e i t r a g s f r e i e R e n t e n

7.1 Altersarmut als wachsende Herausforderung für die Politik sozialer Sicherung

Eine Rente stellt eine dauerhafte oder längerfristige Versorgung von Alten, Hinterbliebenen, Invaliden oder Menschen mit Behin-derungen dar. In den meisten westlichen Ländern handelt es sich ganz oder teilweise um eine lohn- bzw. beitragsabhängige Leis-tung, die im Rahmen eines Sozialversicherungssystems ausgezahlt wird. Die Leistungsansprüche sind nicht konditioniert. Es wird die Zahlung von Beiträgen durch den Arbeitnehmer, z.T. auch durch den Arbeitgeber vorausgesetzt, in einigen Ländern ergänzt durch individuenbezogene Ersatzbeiträge oder allgemeine Zu-schüsse durch den Staat.

Eine Vielzahl von Entwicklungs- und Übergangsländern wei-sen grundsätzlich vergleichbare Sozialversicherungssysteme für den formellen Sektor auf. Einige Länder haben aber für Nicht-Beitragsfähige – Personen, die aufgrund geringen Lohnes, kurzer Erwerbsarbeitsperioden oder informeller Arbeitsformen keine Bei-träge leisten können – zusätzlich Rentensysteme eingeführt, die von der vorherigen Lohnhöhe unabhängig sind und die nicht auf Beitragszahlungen basieren. Alle als bedürftig eingestuften An-tragsteller bzw. alle Personen einer bestimmten Altersgruppe er-halten steuerfinanzierte Leistungen. Solche beitragsfreien univer-sellen oder bedürftigkeitsgeprüften Systeme stehen im Mittel-punkt dieses Abschnitts (als weltweiten Überblick siehe Palaci-os/Sluchynskyy 2006). Für derartige Systeme werden Ausdrücke wie social assistance for the elderly, social pensions, non-contributory pensions (NCP; deutsch „beitragsfreie Renten“) oder social assistan-ce pensions benutzt.

Wenn Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden o-der/und ihre Möglichkeiten zu landwirtschaftlicher Selbstversor-gung zurückgehen, besteht das Risiko, dass sie in Armut fallen. In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau ist das Armutsrisiko im Alter sehr hoch. Es wird geschätzt, dass über zwei Milliarden Menschen in der Welt weder durch ein beitrags- noch durch ein steuerfinanziertes soziales Sicherungssystem

ver-Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft

102

sorgt sind (van Ginneken 1997, 1999b)37. Vor allem Beschäftigte im städtischen informellen Sektor und der Landwirtschaft sowie Frauen bleiben meist ohne Alterssicherung, so dass hier die Ältes-ten ganz überwiegend zu den ÄrmsÄltes-ten zählen (Møller/Ferreira 2003: iii; Howell 2001b: 330; Jütting 1999: 2; James 2001). „Nonpar-ticipation in formal old age security programs is a rational re-sponse among low-income workers, given their short expected lifetimes, high discount rates, and strong liquidity needs. For these reasons, forcing low earners to contribute to a formal program may not be optimal or feasible. But it leaves society with the prob-lem of how to deal with the uninsured who survive to old age, are poor, and are unable to work.” (James 2001: 172).

Zugleich geraten traditionale Formen der sozialen Sicherung wie Unterstützung durch die Familie, Selbstversorgung durch Land (Landarbeit alter Menschen) sowie sozialversicherungsartige Unterstützungsleistungen in Entwicklungs- und Übergangsgesell-schaften zunehmend unter Druck.38 Ursachen sind:

x Familien und informelle Hilfesysteme sind teilweise überfor-dert. In sehr armen Ländern und Regionen ist die Familie oft-mals zu arm, um einen Verwandten zu unterstützen (van Gin-neken 1999b: 28; für das ländliche China Leisering/

Gong/Hussain 2002). In Ländern, die zur mittleren Einkom-menskategorie gehören, wie Brasilien und Argentinien, erodie-ren familiale und informelle Systeme (Mesa-Lago 2001: 175).

x Land reicht angesichts der gewachsenen Bevölkerung nicht mehr, so im ländlichen China.

x Wirtschaftliche Krisen führen zur Expansion des informellen Sektors, z.B. in Vietnam (siehe Kruse/Schmidt 1999), zum Wachstum der Staatsschulden sowie zu verminderter Abde-ckung der Bevölkerung durch Sozialversicherungssysteme. So haben Rezessionen in Lateinamerika in den 1980er Jahren Ar-mut und Ungleichheit verstärkt. Auch nachfolgendes Wirt-schaftswachstum konnte die Zunahme sozialer Ungleichheit nicht rückgängig machen (de Janvry/Sadoulet 2001).

37 In vielen Ländern Afrikas und Südasiens sind weniger als 10 % der Erwerbstätigen in ein Sozialversicherungssystem integriert, in Ost-asien weniger als 30 % (Beattie 2000; James 2001: 149).

38 Zu einer allgemeinen Konzeptualisierung der Versorgungsformen im Alter siehe Leisering (2002).

Beitragsfreie Renten x Die Alterung der Bevölkerung („demographisches Altern“)

in-folge des Rückgangs der Geburtenrate und des Anstiegs der Lebenserwartung erreicht allmählich auch nicht-westliche Länder, und zwar, anders als historisch in Europa, vor dem Aufbau umfassender staatlicher Alterssicherungssysteme (so absehbar in China).

Mangels Abdeckung durch Sozialversicherungssysteme und aufgrund überforderter traditioneller Versorgungsformen haben nicht-beitrags-fähige Gruppen also besondere Sicherungslücken. Diese sollen durch bei-tragsfreie Rentenprogramme gefüllt werden. „The main challenge will be to ensure old age income for the informal sector and lifetime poor“ (Conway/de Haan/Norton 2000: 27). Viele Entwicklungs-länder berücksichtigen das Problem der Zunahme von Armut im Alter in ihren Armutsbekämpfungsprogrammen jedoch nicht oder nur unzureichend. Der Fokus der Alterssicherungspolitik lag bis-lang auf beitragsbasierten Renten. Diese erreichen die Ärmsten der Armen nicht (Barrientos/Lloyd-Sherlock 2002: 22). Steuerfi-nanzierte Grundrenten wurden trotz des wachsenden Bedarfs bis-lang vernachlässigt. Die meisten Sozialprogramme sind auf Kin-der und junge Menschen ausgerichtet, weil darunter eine Investi-tion in Humankapital gesehen wird, welches für die zukünftige Entwicklung des Landes von zentraler Bedeutung ist.

Die Annahme, dass alte Menschen nicht zur gesellschaftlichen Ent-wicklung beitragen, muss jedoch insbesondere angesichts der HIV/

AIDS-Pandemie revidiert werden. Zunehmend übernehmen alte Menschen die Haushaltsführung in multigenerationalen Haushal-ten, in denen die mittlere Generation von der Krankheit betroffen ist (Barrientos/Lloyd-Sherlock 2002: 2). Sie pflegen die Opfer und die Angehörigen der Opfer39. Dies bedeutet auch eine finanzielle Belastung, so dass sich durch HIV/AIDS auch die Armut alter Menschen verschärft. „The financial burden of caring for children means older carers are often forced to sell their assets or borrow money.“ (HelpAge International 2003: 2). Es wird daher vorge-schlagen, Pflegetätigkeit als Erwerbstätigkeit anzuerkennen und

39 Die HIV/AIDS-Pandemie verändert die Familienstruktur. Es wird geschätzt, dass weltweit 16 Mio. Kinder unter 15 Jahren einen oder beide Elternteile durch HIV/AIDS verloren haben. In Südafrika und Uganda leben 40 % der Kinder bei ihren Großeltern, in Simbabwe über die Hälfte (HelpAge International 2003: 2).

Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft

104

Pflegende für ihre Tätigkeit finanziell zu entlohnen (Global Report 2003: 357; HelpAge International 2003).

Ältere beitragsfreie Rentensysteme

In einigen Ländern haben beitragsfreie Renten bereits eine längere Tradition, insbesondere in Lateinamerika (s. Bertranou/van Gin-neken/Solorio 2004). Das Basic Pension Program für alte Menschen in Costa Rica besteht bereits seit 1974 und wurde 1989 um das Se-vere Cerebral Paralysis Pension Program ergänzt und zum Pensiones no Contributivas ausgebaut (Duran-Valverde 2002). Auch Brasilien implementierte bereits 1974 eine beitragsfreie Rente für die städti-sche Bevölkerung, Renda Mensal Vitalicia (RMV), die 1991 durch das Beneficio de Prestacao Continuada (BCP) ersetzt wurde. 1991 wurde außerdem eine Altersversorgung für ehemalige Angehöri-ge des informellen landwirtschaftlichen Sektors (einschließlich Frauen) geschaffen. Chiles Sozialhilfesystem „Ficha CAS“ (Social Passport System) beinhaltet neben einer familienbezogenen Sozial-hilfe (siehe Kapitel 9) ein beitragsfreies Rentenprogramm „CAS-PASIS“ (pension assistance program).

In Südafrikas Rentensystem wurden erst seit 1996 die schwar-ze Bevölkerung diskriminierende Elemente abgeschafft, so dass heute Parität herrscht40. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit Na-mibias wurde 1990 in das beitragsfrei Altersrentensystem integ-riert. In Botswana gibt es seit 1996 und in Bolivien seit 1997 bei-tragsfreie Renten. Indiens nicht beitragsbasiertes Altersrentensys-tem National Old-Age Pension Scheme (NOAPS) startete 1957 in ei-nem Bundesstaat des Landes, bis 1980 wurde das Programm auch in allen anderen Bundesstaaten eingeführt. Es ist Teil des National Social Assistance Programs (NSAP), das außerdem die Zahlung ei-nes Geburtsgelds an arme Mütter ab 19 Jahren für maximal 2 Kin-der sowie einen Pauschalbetrag für Familien vorsieht, Kin-deren Er-nährer vor dem 60 Lebensjahr stirbt.

40 Südafrikas Verfassung von 1996, Abschnitt 27 (1) lautet: „Everyone has the right to have access to social security, including, if they are unable to support themselves and their dependants, appropriate so-cial assistance […]. The state must take reasonable legislative and other measures within its available resources, to achieve the pro-gressive realisation of each of these rights.” (zitiert nach Triegaardt 2002: 331).

Beitragsfreie Renten In Simbabwe wurde 1988 ein „Public Assistance“-Programm implementiert (Munro 2003), das de facto einer beitragsfreien Ren-te entspricht, denn es werden alleinlebende AlRen-te, BehinderRen-te, chronisch Kranke und Erwerbsunfähige unterstützt. Vietnam sieht ebenfalls die Zahlung rentenähnlicher Leistungen an Waisen, Behinderte und Alte vor (Coady/Grosh/Hoddinott 2003b: 132f.).

7.2 Institutionelle Gestaltung

Ziele und Zielgruppen

Zielgruppen beitragsfreier Rentensysteme sind i.d.R. Personen ei-ner bestimmten Altersgruppe (meistens ab 60, 65 oder 70 Jahre), auf die in vielen Ländern noch ein Bedürftigkeitstest angewandt wird (Übersicht 4.1). Selten sind beitragsfreie Renten nur auf eine

Zielgruppen beitragsfreier Rentensysteme sind i.d.R. Personen ei-ner bestimmten Altersgruppe (meistens ab 60, 65 oder 70 Jahre), auf die in vielen Ländern noch ein Bedürftigkeitstest angewandt wird (Übersicht 4.1). Selten sind beitragsfreie Renten nur auf eine