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Sexuelle Obsessionen der Ästhetik

Im Dokument Christine Weder Intime Beziehungen (Seite 152-200)

Liaisons stimulantes: Affinitäten von Sexualtheorie und Ästhetik um 1968

II. Sexuelle Obsessionen der Ästhetik

Nicht nur begeistert werden die ästhetischen Ambitionen der Sexualtheorien um 1968 von den Spezialisten für Literatur und Kunst bemerkt, die sich umgekehrt verstärkt mit der Thema-tik der Sexualität befassen. So beginnt etwa auf einem Kollo-quium der geisteswissenschaftlichen Forschergruppe Poetik und Hermeneutik im September 1966 ein Beitrag über Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem mit Kritik an der gegen-wärtigen juristischen Praxis, als obszön verdächtigte Bücher von Sexualwissenschaftlern beurteilen zu lassen. Als Paradefall führt der Verfasser, Romanist Wolf-Dieter Stempel, das Engagement von Hans Giese an, der seiner 1965 erschienenen Abhandlung Das obszöne Buch die Gutachten für Gerichtsverfahren über vier unlängst in Deutschland veröffentlichte Übersetzungen  – Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs (1960), Henry Millers Wendekreis des Krebses (1962), John Clelands Die Memoiren der Fanny Hill (1963) und Harold Robbins’ Die Unersättlichen (1963) – beigege-ben hat.1 Stempel findet, dass die juristische Ausgangsfrage ›Kunst oder Pornographie?‹ das »eigentliche Problem« nicht treffe, da

»auch die Pornographie ihre Kunstwerke hervorgebracht« habe, und dass die »literarwissenschaftliche Fragestellung bislang zum Schaden des Gegenstandes nicht die gebührende Berücksichtigung gefunden hat bzw. die forensische oder sexualwissenschaftliche Beurteilung sich in größerem Umfang der Kriterien literarischer Hermeneutik bedient, ohne für deren Prüfung die dafür zustän-dige Fachdisziplin zu Rate zu ziehen«.2

Für die höflich umschriebene Kompetenzüberschreitung der Juristen und Sexualwissenschaftler macht er implizit die eigene Fachdisziplin mitverantwortlich, denn er beurteilt die bisherigen

»Bemühungen um die begriffliche Klärung des Obszönen« von

1 Vgl. Stempel: Mittelalterliche Obszönität (1968), S.187f. – Die vier Bücher im Original: Notre-Dame-des-Fleurs (1944), Tropic of Cancer (1934), Fanny Hill: Memoirs of a Woman of Pleasure (1748/49), The Carpetbaggers (1961).

2 Ebd., S.188.

Büchern oder Bildern als völlig »unbefriedigend«.3 Entsprechend plädiert er für eine Neulancierung der Frage nach dem Obszönen als spezifisch literaturästhetischem Problem und untersucht vor-nehmlich am Beispiel mittelalterlicher Schwänke und Moralsatiren eine Reihe von literarischen Techniken, die der »Obszönität«, vornehm definiert als »unverhüllte Benennung der naturalia et pudenda, sowie die ausführliche Schilderung des im engeren Sinne Sexuellen und des Skatologischen«, zu einer »ästhetischen Existenz […] verhelfen«.4 In der protokollierten Diskussion von Stempels Aufsatz stimmen die Teilnehmer des Kolloquiums (in der Reihen-folge der Wortmeldungen: Manfred Fuhrmann, Karl Maurer, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Hans Blumenberg, Wolfgang Preisendanz) in der vorgeschlagenen Sicht auf das Obszöne als ästhetisches und nicht etwa moralisches Problem überein.5 Das zeittypische Gespräch steht folglich unter dem Titel Lässt sich das Obszöne ästhetisieren? und dreht sich um das Verhältnis zwischen der Darstellung von Sexuellem bzw. Obszönem, Stimulation, äs-thetischer Distanz und Kunst.

Die Frage hat zwar spätestens seit der Sattelzeit um 1800 Tra-dition. So kann Preisendanz auf Jean Pauls »These« verweisen,

»der stärkste Einwand gegen die Ausmalung der sinnlichen Liebe sei kein sittlicher, sondern ein poetischer«, indem nämlich die

»sinnliche[] Liebe« wie der Ekel »aus dem Gemälde in den Zu-schauer hinabsteige[] und das Anschauen in Leiden verkehre[]«, mithin, sofern nicht durch den »Zynismus des Witzes und Humors«

suspendiert, »keinen reinen freien Kunstgenuß zulasse[]«.6 Doch die Folgerung, dass solche Darstellungen nicht in den Bereich der Kunst gehörten, weil bei ihrer Rezeption die ästhetische Distanz durch Stimulation gekappt sei, steht um 1968 neu zur Debatte.

Diese Abgrenzung von Kunst gegenüber Pornographie wird in jener Zeit breit und, wie die Professorenrunde des Kolloquiums zeigt, bis in die etablierte Geisteswissenschaft hinein diskutiert, 3 Ebd., S.187.

4 Ebd. S.193 bzw. 205.

5 Vgl. das Protokoll in Jauß (Hg.): Grenzphänomene (1968), S.611-617.

6 Ebd., S.615, Zitat aus Vorschule der Ästhetik, III. Abt., 2. bzw. §34, Vor-rede zu Doktor Katzenbergers Badereise und Jubilate-Vorlesung, Vierte Kautel des Herzens.

keineswegs nur von den jüngeren Exponenten oder den ›Achtund-sechzigern‹. In dem Ausmaß geschieht dies um 68 erstmals und insofern nachhaltig, als derartige Fragestellungen seither etwa in der Literaturwissenschaft gewöhnlich geworden sind. Entgegen einer Wahrnehmung aus dem Rückblick, die vornehmlich die Beiträge ›seit 1968‹ bzw. die feministischen Wortmeldungen der 1970er Jahre erinnert,7 intensiviert sich die ästhetische Diskussion um Pornographie bereits früher in den 1960er Jahren, auf die sich der Blick lohnt. Sie tendiert schon in dieser Zeit zu aufgeregt-polemischen Debatten bis hin zum (Zürcher Literatur-)Streit.

Die Intensivierung der Pornographie-Diskussion hängt eng mit dem fundamentalen Gestus zusammen, in dem um 1968 der Begriff der Kunst selbst theoretisch zur Disposition gestellt wird – h äufig erklärtermaßen als Reaktion auf die künstlerische Praxis der Ge-genwart. Das Gespräch über das Obszöne findet buchstäblich in diesem Kontext, nämlich auf einem Kolloquium zum Thema Die nicht mehr schönen Künste: Grenz phänomene des Ästheti-schen statt, das angesichts der »Erscheinungen der zeitgenössi-schen Kunst« für dringlich deklariert wird. Analog erscheinen in der gleichen Zeit Susan Sontags Überlegungen zur Pornographie in einer Sammlung übersetzter Aufsätze unter dem Titel Kunst und Antikunst (1968). Das Sexuelle und Obszöne gilt nicht als beliebiges Motiv oder Thema von Kunst und Literatur, es ist kein künstlerischer Gegenstand unter anderen. Vielmehr rückt es einerseits auf der allgemeinen Basis erotisierter Kunsttheorien – Theorien, die Ars und Eros in engste Beziehung setzen – in den Fokus der ästhetischen Aufmerksamkeit. Andererseits verspricht es, wie das oft im gleichen Atemzug genannte Grausame und Hässliche,8 die Grenzen des ›Ästhetischen‹ im Sinn von (schö-ner) Kunst überhaupt auszuloten; es wird als Provokation, als Entgrenzungspotenzial für einen bestimmten herkömm lichen Kunst begriff aufgefasst. Solche Provokationen erregen um 1968

7 Vgl. z.B. Klettenhammer (2008) v.a. mit Verweis auf Mertner/Mainusch:

Pornotopia (1970), Millett: Sexual politics (1970)/Sexus und Herrschaft (1971) und Gorsen: Sexualästhetik (1972); zur feministischen Debatte vgl.

etwa Mrosek (2013) und Read (1989).

8 Vgl. z.B. Stempel: Mittelalterliche Obszönität, S.190, 193.

vermehrt die Aufmerksamkeit der Kunst- und Literaturspezialisten, die ihr eigenes Aufbruchsprojekt verfolgen, wie es typischerweise in Jauß’ Vorwort zur Publikation der Grenzphänomene-Beiträge anklingt: Ziel der Fragestellung sei, »der noch ungeschriebenen Geschichte und Systematik jener Realisationen der Kunst nach-zugehen, die aus dem Kanon des Schönen ausgeschlossen, an den Rand verwiesen oder antithetisch ausgeglichen wurden«, um der

»modernen Literatur und Kunst« in ihrer »jüngsten Entwicklung«

eine »theoretische Grundlage zu geben«.9

In dieser Absichtserklärung wird die Repressionsthese für die Geschichte der Kunsttheorie formuliert, und sie ist wie immer in jener Zeit kritisch-programmatisch. Jauß ruft zur kunsttheoreti-schen Befreiung vom unterdrückerikunsttheoreti-schen »Kanon des Schönen«

auf, damit den dadurch bisher ausgeschlossenen, an den Rand gedrängten oder nur zum Kontrast geduldeten Kunstphänomenen, die gegenwärtig eine neue Aktualität hätten, endlich die gebüh-rende historisiegebüh-rende und systematisiegebüh-rende Beachtung zukomme.

Man kann diese ästhetische Repressionsthese, wie die sexual-theoretische, als historische Behauptung kritisieren. Das tut denn schon Hans-Georg Gadamer in seiner Rezension des Poetik und Hermeneutik-Sammelbandes, wenn er – die Diagnose der »nicht mehr schönen Künste von heute« teilend  – das Resultat der Beiträge kommentiert: »Was überall siegreich bewiesen wird, ist lediglich, daß es allerhand Kunst und Kunsttheorie gab, die außer-halb eines klassizistischen Schönheitskanons beheimatet ist. Aber wer hat das eigentlich bezweifelt?«10

Abgesehen davon, dass Jauß und seine Kollegen nicht gegen einen derart grundsätzlich zweifelnden Strohmann antreten, son-dern nur behaupten, dieser Zweig der Kunst- und Ästhetikge-schichte sei bisher unterbelichtet geblieben, kann man sich jedoch alternativ für die Effekte der um 1968 auch im ästhetischen Feld beliebten Repressionserzählung interessieren. Das Narrativ von der Unterdrückung stimuliert insbesondere die Produktion neu perspektivierter Literaturgeschichten und Kunsttheorien. Es bildet

9 Jauß (Hg.): Grenzphänomene, Vorwort (unpaginiert).

10 Gadamer: Die nicht mehr schönen Künste, S.68. Die Rezension ist in der Philosophischen Rundschau 18 (1971) erschienen.

deshalb einen wichtigen Aspekt, wenn im Folgenden unterschied-liche Schauplätze der Sexualisierungstendenzen in der Ästhetik um 1968 schlaglichtartig beleuchtet werden. Die Auswahl zielt dabei auf Facettenvielfalt, suggeriert trotz chronologischer An-ordnung keine lineare Entwicklung und erstreckt sich ›örtlich‹

von Kalifornien und New York über Zürich und Frankfurt bis nach Paris.

Mit diesen Tendenzen hängen Trends der Literatur wissenschaft zusammen, die sich nicht nur als Verstärkung der Pornographie-Diskussion und des Interesses für die Sexual ästhetik der Litera-tur11 äußern. Insbesondere unter dem Einfluss der Psychoanalyse-Rezeption geht man neben einschlägigen literarischen Gegenstän-den und Darstellungsweisen grundsätzlicher noch der intimen Beziehung zwischen Literatur und Lustprinzip nach. Diesen Titel trägt eine Aufsatzsammlung (1973) von Dieter Wellershoff, der in einer früheren Sammlung mit der ebenso zeittypischen Überschrift Literatur und Veränderung (1969) die »Tendenz der modernen Ästhetik« kritisiert hat: Sie verhindere die »libidinöse Bindung an das ästhetische Objekt« durch die »zahlreichen Methoden der Distanzierung« zur Realisierung des »Identifikationsverbot[s]«

und mache »aus dem Zuschauer oder Leser« eine rein rationale

»Dame ohne Unterleib«.12 Während ein Essay dem Thema Porno-graphie gewidmet ist, wird in den übrigen alles Mögliche bespro-chen, denn schon der Klappentext verkauft Literatur ganz generell als Medium, in dem das »ursprüngliche Lustprinzip der Psyche«

gegen eine »zu enge unbefriedigende Wirklichkeit« »revoltiert«

und die alltäg lichen »Gewohnheiten und Verkehrsregeln« aufge-löst werden, um »neue Erfahrungen« zu ermöglichen.13

11 So exemplarisch der Untertitel einer Zusammenstellung von Studien zu de Sade, Bataille, Genet, Miller, Nabokov, Schnitzler und Wedekind von Horst Albert Glaser: Wollüstige Phantasie (1974).

12 Wellershoff: Literatur und Veränderung, S.111f.; vgl. dazu Anz (1998), S.17, der mit seiner Lust-Theorie der Literatur die erotisierenden Ansätze der Literaturwissenschaft um 1968 aufnimmt und weiterführt. Brecht, den Wellershoff hier kritisiert, gilt freilich anderen zeitgenössischen Ero-tisierern von Literatur wie bes. Roland Barthes gerade als vorbildlicher Vereiniger von Kritik und Lust; vgl. dazu unten S.336

13 Wellershoff: Literatur und Lustprinzip.

Als späteres, aber umso breiter wahrgenommenes Produkt dieser psychoanalytisch sexualisierten Literaturwissenschaft sind Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78) lesbar.14 Der Beitrag re-präsentiert zugleich die häufige Verbindung mit einer betonten Gender-Perspektive, die an sich indes nicht automatisch Sexua-lisierung bedeutet. Letzteres zeigen etwa die Arbeiten von Silvia Bovenschen, namentlich Die imaginierte Weiblichkeit (1979) als Untersuchung – womöglich unter selbstverständlicher Anknüp-fung an Theweleit, der jedoch nicht zitiert wird – über die »irritie-rende Diskrepanz« zwischen der Flut von »Weiblichkeitsbilder[n]«

in der Literatur und der marginalen Beteiligung von Frauen an der Literatur(produktion).15

Unter Aufgebot von Reichs Konzept des ›Körperpanzers‹

und der neusten psychoanalytischen Theorien von Deleuze und G uattari über Margaret Mahler bis hin zu Michael Balint und Melanie Klein wird in Theweleits Männerphantasien zunächst Freikorps-Literatur der Zwischenkriegszeit analysiert. Daraus re-sultiert eine Erklärung des Faschismus aus (männlichen) sex uellen Wünschen. Die These, dass der Faschismus den Massen – anstatt bloßer Vortäuschungen – tatsächlich etwas geboten habe, nämlich Abwehr bzw. Abtötung der Angst einflößenden, frei fluktuie-renden, weiblich konnotierten Sinnlichkeit durch die lustvolle Feier von Gewalt,16 trifft gleich mehrfach den Nerv der Zeit. Sie verknüpft Sexualität engstens mit Politik, konkret: sexuelle Unter-drückung mit faschistischer Gewalt, behandelt das Faschistoide als nach wie vor aktuelles Problem und streicht die Verbindung zum Patriarchat hervor. Für den rasch erlangten Kultstatus der

14 Theweleit: Männerphantasien I (1977), Theweleit: Männerphantasien II (1978). Für eine andere zeitgeschichtliche Kontextualisierung, d.h.

all gemein hinsichtlich der »Kultur der späten 1970er-Jahre und der Welt-sichten der linksalternativen Szene«, sowie für eine kritische Würdigung der Studien als Beitrag zur Körper- und Geschlechtergeschichte des Faschismus vgl. bes. Reichardt (2006), Zitat Abschn. 2; zusammenfassend erneut Reichardt (2014), S.700f.

15 Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit (1979), Zitat S.15. Vgl. bes.

auch Bovenschen: Gibt es eine ›weibliche‹ Ästhetik? (1976).

16 Vgl. zusammenfassend etwa in Einer Art Nachbemerkung: Theweleit:

Männerphantasien II, S.532-542.

beiden dicken Bücher mit ihrem »gigantischen Gewirr an Über-legungen und Zitatanalogien«17 dürfte zumindest in Literatur-wissenschaftler-Kreisen außerdem die spezielle Machart entschei-dend gewesen sein: Wie in der zugrunde liegenden Dissertation im Fach Germanistik an der Universität Freiburg konzentriert sich die politisch brisante Analyse neben Ernst Jünger auf ›Auto-ren‹ jenseits eines noch so erweiterten Kanons, auf »verbotene«18 Literatur. Mit den assoziativen Brückenschlägen und Aktualisie-rungen, den inspirierenden Andeutungen, saloppen Wendungen und Comic- Bebilderungen verkörpern die Männerphantasien eine Wissenschaft jenseits etablierter Disziplin und orthodoxen Drills.

Das locker-verspielte Verfahren, gleichermaßen theoretisch am-bitioniert und politisch engagiert, verspricht zeitgemäß sinnliche Wissenschaft, eine Art neue Sensibilität der Literaturwissenschaft.

Ausdrücklich auf die ›neue Sensibilität‹ beruft sich die euphori-sche Benjamin-Rezeption im Stil von Helmut Salzingers Swinging Benjamin (1973), die einen weiteren Erotisierungsherd von Lite-raturwissenschaft um 1968 darstellt.19 Das obsessive Beharren auf der »Tatsache, daß auch« Benjamin »einen Schwanz hatte«, ist hier mehr als bloß antiautoritäre Staffage zur Provokation der ›anstän-digen‹ Wissenschaft.20 Ebenso wie die mutwillige Frisierung zum langhaarigen »Gammler[]«, »Hascher« und »rauschgiftsüchtige[n]

Prä-Hippie« gehört dies zur Lancierung Benjamins als Idol einer materialistisch-hedonistischen Ästhetik bzw. Philologie, die Kunst und Literatur als Funktion ihrer Produktionsbedingungen und zu-gleich als »edelste[s] aller Genußmittel« begreift.21 Entsprechend spielt Salzinger Benjamins Konzeptionen gegen diejenigen Adornos

17 Reichardt (2006), Abschn. 2.

18 Theweleit präsentiert die untersuchten Texte als »Stoff«, der dem Leser

»als durchschnittlichem Opfer des hiesigen Verbots, den Faschismus und seine Vorläufer zu kennen, relativ unbekannt sein dürfte« (Theweleit:

Männerphantasien I, S.81).

19 Salzinger: Swinging Benjamin, S.174. Für den Hinweis auf dieses Buch danke ich Alexander Honold.

20 Ebd., S.15.

21 Ebd., S.22, 132 (vgl. auch 111), 24, 138. Für die Herausarbeitung dieser Ästhetik, welche die Philologie übernehmen solle, vgl. ebd., bes. S.34, 41f., 66, 72f., 111, 125.

aus und fusioniert sie mit Marcuses Theorie.22 Hierzu akzentuiert er die positiv-progressiven Bedeutungsaspekte zweischneidiger (»dialektischer«) Konzepte Benjamins, namentlich des ›Auraver-lusts‹ von Kunstwerken, der »kathartischen Charakter« habe, mithin »neue[] Möglichkeiten« freilege, sowie der ›Zerstreuung‹

der Rezipienten, die den »Zusammenfall von kritischer und ge-nießender Haltung« ermögliche.23 Letzteres sieht Salzinger etwa darin realisiert, wie die gegenwärtige »Gegenkultur« – seine größte bzw. einzige Hoffnungsträgerin bezüglich Verwirklichung der

»Benjaminschen Forderung, Belieferung und Veränderung des Apparats« zu vereinbaren – Filme nach Art von Warhols bis zu 24-stündigen Produktionen präsentiert: Im Rahmen von Happen-ings wird mit dem ständigen Kommen und Gehen des Pub likums gerechnet und der »Zwang« der Zuschauer zum »passiven Objekt der Vorführung […] zumindest tendenziell aufgehoben«.24 Aus dem gleichen Grund gefällt Salzinger die neue Aufführungspraxis von »Living Theatre« und verwandten Truppen, die »das Pub-likum zu aktivieren und unmittelbar in die Aktionen der Darsteller einzubeziehen« versuchen.25 Das Lob, mit dem er sich unaus-gesprochen von Living Theatre-Kritiker Marcuse abseilt,26 gilt dabei, typisch für die erotisierte ästhetische Diskussion der Zeit, nicht primär inhaltlichen Aspekten, sondern den Verfahren (»Prä-sentationsformen«). Dies, obwohl oder gerade wenn die Beispiele thematisch einen sexuellen Schwerpunkt aufweisen, denkt man an Paradise now oder an Warhols Experimentalfilme wie **** (Four Stars, 1967).

Deutlich ist der formale Fokus bei der ausführlichsten Inter-pretation eines künstlerischen Werkes in Salzingers Buch, näm-lich des  – wiederum von Warhol stammenden  – Plattencovers des Rolling Stones Albums Sticky Fingers (1971). Die Analyse, die keine Abbildung des besprochenen begehrenswerten Objekts

22 Vgl. zu Adorno ebd., S.32-36, 109, 124 142f., zu Marcuse S.108f., 130f., 133f., 143, 145, 147, 151, 161, 174.

23 Ebd., S.99f. (vgl. bis 103) bzw. S.119.

24 Ebd., S.93 bzw. 119.

25 Ebd., S.119.

26 Vgl. dazu oben S.106.

spendiert27 und sich hauptsächlich in kleinstgedruckten Fuß noten abspielt (als bildeten diese das beste, da buchstäbliche Medium der Subversion), ist mehr noch Analyse einer Analyse: Kritik an einer bestimmten orthodox-marxistischen Kritik an Kunst als Ware, repräsentiert durch die in der Neuen Linken allseits gelesene Kritik der Warenästhetik (1971) von Wolfgang Fritz Haug.28 Salzingers Kommentar zu Haugs Kommentar zum Sticky Fingers-Cover zeigt exemplarisch, was die hedonistische Benjamin-Rezeption von der rigorosen Kritik der kapitalistischen Konsumgesellschaft trennt und wie eine erotisierte Ästhetik ›Werke‹ und Dinge zu genießen erlaubt, denen von jener militanten Warte aus miesepetrig misstraut werden muss. Deshalb und weil das alles nicht zuletzt in Salzingers genüsslichem Gestus liegt, sei die längere Passage samt exzessiven Fußnoten29 zum Schluss dieser einleitenden Bemerkun-gen wiedergegeben:

Durch Lukács’ Marx-Auslegung konnte man darüber belehrt sein, daß im Kapitalismus jedes Ding und jede Beziehung zwi-schen Menzwi-schen die Form der Ware annimmt und zur Ware wird. Haug nun will uns verklaren, daß jede Ware – eben weil sie Ware ist – notwendig Schund ist.19

Andy Warhol hat für einen amerikanischen Konzern eine Schallplattenhülle entworfen, die die Werbung für den Penis wieder rücküberträgt auf die Oberfläche einer andern Ware, eben einer Schallplatte […] Die Hülle der Platte zeigt hautenge, von einem Schmalhüftigen getragene Jeans vom Gürtel abwärts bis zum oberen Drittel der Schenkel. Der Stoff der Hose macht sich […] zum betont anschmiegsamen Material, unter dem sich der Körper abzeichnet.20 Durch Warhols Technik der grafischen Bearbeitung von Fotos hervorgehoben, zeichnet sich überdeutlich das Glied ab.21 In die Abbildung ist ein wirklicher

27 Was heutige Leser und Leserinnen dank Google Bilder kompensieren können und also nur noch auf den ›echten‹ Reißverschluss des Covers verzichten müssen.

28 Für die Absetzung von den ›orthodoxen Linken‹ vgl. des Weiteren Salzin-ger: Swinging Benjamin‚ S.123, 140, 150.

29 Ebd., S.104-107; die Fußnoten erscheinen im Folgenden am Ende der zitierten Passage, vgl. unten S.162f.

Reißverschluß eingelassen. Der Reißverschluß kann geöffnet werden.  – Wer die Platte kauft, kauft mithin zugleich einen Abzug vom Hosenlatz eines jungen Mannes22, als Verpackung kenntlich an den grafischen Tricks, die den Penis hervorheben23 und dadurch zum versprochenen Inhalt hochstilisieren24. Der Käufer hat die Möglichkeit mitgekauft, die Verpackung zu öffnen25, den Reißverschluß aufzuziehen, und er findet dahinter – nichts.26 ( Haug, S.111f.)

Nicht nur entlarvt Warhol die Warenästhetik auf eine Weise, die ihre Larve wieder nur als Werbung fungieren läßt, die raffi-nierter ist als die entlarvte. Schlimmer noch: auf diese Weise teilt die angeblich mit ihren eigenen Mitteln unterlaufene Waren-ästhetik Zynismus mit, der mit der Enttäuschung darüber ver-schmilzt, daß man nur mehr Verpackung in den Händen hält.

Die Verpackung nimmt aber dadurch, daß sie sich dem öffnen-den Zugriff als leer erweist27, ihren imaginären Raum mit seinen Verlockungen und Verhaltensbahnen nicht in sich zurück. Viel-mehr scheint das enthüllte Nichts beschämend und süchtigend auf den Besitzer zurückzufallen.28 (Haug, S.112f.)

[…] Haugs Einwände gegen die Verpackungsästhetik sind deswegen undialektisch, weil er übersieht, daß die Verpackung in diesem Zusammenhang bereits selber Inhalt geworden ist.

Das Album ist nicht bloß die Platte, sondern die Platte in einem ästhetisch-funktionalen Kontext, der das ganz Ding, das Album, zur eigentlichen Ware macht. Haug will natürlich bloß die Platte.

Es scheint, er kann nicht spielen. Darum aber entgeht ihm, wie weit die Ästhetisierung des gesamten Warenverkehrts im Kon-sumbereich bereits fortgeschritten ist. Warenkonsum als Spiel.

[…] Haug analysiert politisch. Ich, wenn überhaupt, ästhe-tisch. Bin ich deswegen unpolitisch? Ich zweifle, daß Haug mit dem, was er für politische Analyse hält, dem Sachverhalt, den er analysiert, voll gerecht wird. Denn sein einseitiger Politizismus ist nur die Kehrseite der politischen Einseitigkeit. Haugs poli-tische Analysen laufen  – unausgesprochen  – in der Regel auf moralische Werturteile hinaus. Daß der Kapitalismus schlecht sei, strukturell falsch, gemessen am Ziel der Geschichte, das mit den kapitalistischen Methoden unerreichbar bleibt (was die Kapitalisten sehr gut wissen, weshalb sie alles, was auf

histori-sche Überwindung ihres Systems ausgerichtet ist, als utopihistori-sche Schwärmerei abzutun versuchen; und die Marxisten, die meis-ten, nicht alle, tun es ihnen gleich). Aber – so teilt er durch die Wortwahl mit – auch böse. An sich böse und böse eben drum.

Die Revolution als Teufelsaustreibung.

Daß die Platte »massenhaft« verkauft wurde, sagt Haug so beiläufig wie mißbilligend daher. Dabei liegt gerade darin

Daß die Platte »massenhaft« verkauft wurde, sagt Haug so beiläufig wie mißbilligend daher. Dabei liegt gerade darin

Im Dokument Christine Weder Intime Beziehungen (Seite 152-200)