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Eben das ist auch der Grund, warum eine Politik, die eine solche Erkenntnis zur Aufrechter-haltung ihrer Macht unbedingt zurückhalten muss, die Kunst unter ihre Kontrolle bringen muss. Denn die Kunst bietet uns die Möglichkeit in eine ganz andere Welt einzutauchen, von der aus wir unser eigenes Leben und unsere eigene Welt beobachten können. Sie kann auf diese Weise gesellschaftlich bedingte Ungerechtigkeiten hervorbringen und nährt so unsere Hoffnung auf eine bessere Welt. Jedoch kann sie dadurch genauso gut etablierte Ungerechtig-keitsverhältnisse, und seien es ‚nur’ stereotype Ansichten über bestimmte gesellschaftliche Minderheiten, reproduzieren. Vielleicht liegt die große Stärke der Kunst genau darin, diese als harmlos dargestellten Stereotype kritisch hervorzubringen – im Umkehrschluss kann diese Stärke aber auch genauso gut dazu dienen, die Bedeutung und Anschlussfähigkeit solcher Stereotypen zu verstärken.

Die Kritik am Kunstwerk, das Hervorbringen der gesellschaftlichen Aussagen erhält dadurch eine zunehmende Wichtigkeit. Wenn die Kunst uns in einem hohen Maße die Konstruktion unserer Wirklichkeit zulässt, so ist damit keinesfalls gesagt, sie würde notwendigerweise zu einem ‚besseren’ Leben führen oder gar die ‚tatsächlichen’ gesellschaftlichen Umstände her-vorbringen können – aber sie lässt eben die Welt erschließen, ob dies den Tatsachen ent-spricht oder nicht, ob dies zu einem Besseren führt oder nicht. Und exakt deswegen muss nicht nur der Einfluss der Kunst auf unser Leben und auf die Gesellschaft ernstgenommen werden, sondern vor allem kommt nun der Kritik an ihr eine noch größere Wichtigkeit zu.

Nur durch die Kritik kann die verborgene gesellschaftliche Wahrheit des Kunstwerks hervor-gebracht werden. Dahingehend wusste auch schon Adorno um die Tatsache bescheid, dass die

„von oben her gestellte Frage, ob ein Phänomen wie der Film noch Kunst sei oder nicht, nir-gendwo hinführt.“ (Adorno 2014a: 10). Es kommt in der Kunstkritik nicht darauf an, welche Werke es verdient haben auf den Sockel der hohen Kunst gestellt zu werden, denn das ist nichts weiter, als ein elitistischer Distinktionsmechanismus, der lediglich der Aufrechterhal-tung des herrschenden Kunstgeschmacks dient. Vielmehr ist die Aufgabe der Kunstkritik aus jedem Werk die gesellschaftliche Aussage herauszufiltern und zwar obgleich, wie verachtet oder anerkannt es ist und ungeachtet der Tatsache, ob es den Vorlieben des Kritikers ent-spricht oder nicht.

Die Aussagekraft der Kritik an der Kunst erstreckt sich so nicht nur auf genuin künstlerische Objekte, denn die Kunstkritik, als das Hervorbringen der gesellschaftlichen Aussage der äs-thetischen Organisation im Kunstwerk, kann genauso auf andere Formen ästhetischer Organi-sation angewendet werden. So erlangt man beispielsweise auch eine enorm gesteigerte Sensi-bilität für den sozialen Einfluss der Werbung, durch den sie eben nicht mehr als eine

unbedeu-tende Inszenierung von Konsumgütern verharmlost werden kann. Die ästhetische Organisati-on vOrganisati-on Figuren und Materialien in aller Art menschlichen Erzeugnissen, seien es Kunstwerke oder Gebrauchsgüter, ist nach dem selben Muster aufgebaut, wie jede Art von menschlicher Erfahrung, durch die wir uns einzig und allein unsere Realität erschließen können und aus denen wir einzig und allein unsere moralischen und politischen Ideale gewinnen können. Da-mit kann diese bewusst durchgeführte ästhetische Organisation in einem hohen Maße unsere Erfahrungen bestärken, verwerfen oder sogar zu ganz neuartigen Ansichten führen. Wenn die Aufgabe der Sozialwissenschaft die Offenlegung sozialer Machtverhältnisse sein soll, so würde sie demnach selbst von ihrer eigenen Orthodoxie abrücken, wenn sie blind für den im-mensen gesellschaftlichen Einfluss der Kunst wäre. Eine Sozialwissenschaft, die den sozialen Einfluss eines bedeutenden Teils der Gesellschaft – wie beispielsweise das Feld der Kunst – nicht mitberücksichtigt, würde sich auf diese Art und Weise selbst zum Orchideenthema ma-chen.

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