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Schluss: Das sich versprechende Subjekt

In der zweiten Abhandlung seiner »Genealogie der Moral« schreibt ein prägnanter Beobachter jenes Zeitgeistes, dem das Gutachten über Rudolf B. entsprang, Friedrich Nietzsche:

Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – [...] Was setzt das aber Alles voraus!

Wie muss der Mensch, um dermassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst ge-lernt haben, das notwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, kausal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst berechenbar, regelmässig, notwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender tut, für sich als Zukunft gut sagen zu können!26

Ich habe dieses Nietzsche-Zitat an den Schluss gestellt, weil es in ein-drücklicher Weise das Problem der Voraussetzungen von Mündigkeit formuliert und diese mit dem bien dire, dem Gut-Sagen in Verbindung bringt. In meinem Beitrag ging es darum, etwas von diesen kulturellen Logiken ans Licht zu holen, die im Fundament der modernen Identität verankert – vorausgesetzt – sind.

In den Phänomenen, die sie verwirft, drückt eine Gesellschaft sich meist auch positiv aus. Insofern lässt das Interesse, das die Psychiatrie Ende des 19. Jahrhunderts Glossolalie und Sprachstörungen entgegenbrachte, auf den erhöhten Stellenwert schließen, den die bürgerliche Gesellschaft der Sprache als verbindendem und verbindlichem Medium zuwies. Da-bei stand sie der Sprache, wie jedem Machtmittel, ambivalent gegen-über. In der Verbindlichkeit, die dem geschriebenen und gesprochenen Wort in der Vertragsgesellschaft zukam und das im 19. Jahrhundert

im-Brigitta Bernet

mer mehr Gesellschaftsmitglieder miteinander verband, lag gleichzeitig auch eine neue Verletzbarkeit im Falle eines Wortbruchs. Daher musste die Macht des Wortes kontrolliert und geordnet, das Subjekt zu einer bestimmten Art des Sprechens, des Gut-Sagens gebracht werden. Von dieser Sorge um das sich versprechende Selbst legen die Gesetzesbücher positiv und das Sprachinteresse der Psychiatrie ex negativo Zeugnis ab.

Bien dire hieß aus dieser Sicht, die Ermächtigung durch die Sprache mit einer gleichzeitigen Verpflichtung ihren Regeln gegenüber zu verbinden.

Das Recht, um 1900 als »geordnetes Selbst« anerkannt zu werden, war daher an die Pflicht des »geordneten Sprechens« und damit an eine be-stimmte, sprachlich verfasste »Ordnung des Selbst« geknüpft. In dieser Betrachtung erscheint eine doppelte Subjektivation, durch die das Selbst sich dem Gesetz der Sprache unterwirft und in der Sprache des Gesetzes neu entwirft, als Voraussetzung der Mündigkeit. Im fin de siècle verfes-tigte sich diese vorerst bürgerliche Denkfigur zu einem sozial verbindli-chen Subjekttypus, der naturalisiert, universalisiert und auch für unter-bürgerliche Schichten verbindlich wurde. Es scheint daher, dass die Vertragsgesellschaft mit den Unverträglichen einige Voraussetzungen teilt. Ihr gemeinsamer Fluchtpunkt liegt in der Referenz, die beide dem

»verträglichen Selbst«, dem »Vertragssubjekt«, erweisen.

Anmerkungen

1 »Der 1. Brief des Paulus an die Korinther«, 14, 1-2. Vgl.: Die Bibel. Luther Überset-zung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999.

2 Der vorliegende Beitrag entstand mit Unterstützung des Schweizerischen National-fonds und im Rahmen des 51. Forschungsschwerpunktes zu »Integration und Aus-schluss« (NFP 51). Für ihre kritische Lektüre danke ich Koni Weber, Xenia Goslicka, Jakob Tanner und Urs Germann.

3 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 6, Leipzig:

S. Hirzel 1860, S. 2688.

4 Vgl. Ursula Krattinger: Mündigkeit. Ein Fragekomplex in der schweizerischen Diskus-sion im 19. Jahrhundert, vor allem zur Zeit der Armennot von 1840-1860, Frank-furt/Main: Peter Lang 1972.

5 Vgl. Ulla Pruss-Kaddatz: Wortergreifung. Zur Entstehung einer Arbeiterkultur in Frankreich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 14.

6 Als Beispiel: E. Martini: »Veränderung der Ausdrucksweisen bei Irren«, in: Allgemei-ne Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 13 (1856), S. 605-614.

7 Von der »Zürcher Schule« forschten Alphonse Maeder, C.G. Jung und Oskar Pfister zur Glossolalie.

8 Vgl. Anne Waldschmidt: »Subjekt und Macht. Die Humangenetik als eine Ordnung des Selbst«, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1999), S. 45-64.

Ordnung des Selbst

9 Manfred Sommer: »Mündigkeit: Begriff und Metapher«, in: Ders.: Identität im Über-gang: Kant, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 117-139, hier S. 137.

10 Ebd., S. 117.

11 Manfred Sommer: »Mündigkeit« , in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.): Histo-risches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Stuttgart: Schwabe 1984, S. 225-235. hier S. 225.

12 Vgl. Oskar Theiler: Das Vormundschaftsrecht nach den zürcherischen Rechtsquellen.

Ein Beitrag zur Zürcherischen Rechtsgeschichte (Diss. iur.), Zürich: Genossenschaft Grütli-Buchdruckerei 1926, S. 17f.

13 Privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich (1887), das hier dem Gesetz von 1841 entspricht.

14 Auf nationaler Ebene geschah diese Festlegung im Handlungsfähigkeitsgesetz von 1881.

15 Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« [1786], in: Ders.:

Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Akademie-Ausgabe), Berlin: de Gruyter 1969, S. 35.

16 Vgl. Norbert Rath: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800, Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 1996.

17 Immanuel Kant: »Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte« [1786], in:

Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Akademie-Ausgabe), Berlin: de Gruyter 1969, S. 116.

18 Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Bd.1, Berlin: Akademie-Verlag 1956, S. 145.

19 Julius Fröbel: Zwei Reden über die Erhebung der niederen Volksklassen, Zürich/Winterthur 1843, S. VI.

20 Vgl. Judith Butler: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/Main:

Suhrkamp 2001, S. 7-34.

21 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxis-tischen Theorie, Hamburg /Westberlin: VSA 1977, S. 108-153.

22 JudithButler: Psyche der Macht, a.a.O., S. 101f.

23 Eugen Huber: Erläuterungen zum Vorentwurf eines schweizerischen Zivilsgesetzbu-ches [1902], Bd. 1, Bern: Buchdruckerei Büchler&Co 1914, S. 53.

24 Staatsarchiv Zürich, PUK-GA, Buch 1, 5.5.1890-16.2.1892, S. 462-495 (18.2.1892).

25 Ebd.

26 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Mün-chen/Berlin/New York: dtv/de Gruyter (KSA 5) 1988, S. 45f. (Hervorhebung von mir).

Ulrich Meurer

Die ausgezeichnete Stirne