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Schizophrenie vs. DIS

Im Dokument FORENSISCHE WISSENSCHAFTEN IOT (Seite 22-26)

Die Diagnose Schizophrenie wird in 14 bis 40 Prozent der DIS-Fälle fehlerhaft vergeben (Fied-ler, 2013). Ein häufig auftretendes Problem stellen auditive bzw. akustische Halluzinationen dar.

Etwa 80% der DIS-Betroffenen berichten über dialogische, kommentierende und imperative Stimmen (Fiedler, 2008).

Störungen der Wahrnehmung und des Denkens wurden bei unterschiedlichen Gruppen trauma-tisierter Patienten beschrieben. So treten bei schweren dissoziativen Störungen nicht selten

„Schneidersche Erstrangsymptome“ auf (vgl. B-Kriterien nach Dell, Anhang S. 51). Störungen der Wahrnehmung können je nach Ausrichtung der diagnostizierenden Therapeuten entweder als „dissoziativ“ („Pseudohalluzinationen“) oder als „psychotisch“ („echte Halluzinationen“) inter-pretiert werden (Kurth, Gerhardt und Schäfer, 2012).

Die „Fragmentierung des Bewusstseins“ und die „Dissoziation des Bewusstseins“ stellen einen wichtigen Aspekt bei der differentialdiagnostischen Abgrenzung dar. Fiedler (2008) führt aus, dass die beiden Begriffe (Fragmentierung und Dissoziation) häufig leider unpräzise und zum Teil sogar synonym verwendet werden – und zwar sowohl von den Schizophrenie- wie auch von den Dissoziationsforschern. In der Schizophrenie liegt eine mehr oder weniger schwer ge-störte Fragmentierung der eigenen Bewusstheit und der Bewusstheitsprozesse vor, wogegen wir es bei der DIS nicht mit einer Fragmentierung zu tun haben, sondern mit dissoziierten, kla-ren Bewusstseinszuständen, die sich kohäkla-rent, sinnvoll und wenig bizarr ausnehmen – und die sich als persönliche Identitäten erleben und verhalten. Die Betroffenen können innere Dialoge der dissoziierten Identitäten erleben oder diese bewusst führen, und die Bewusstseinszustände können sich ziel- und zweckgerichtet „miteinander“ auseinandersetzen. Die Realitätskontrolle

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20 bleibt gewöhnlich erhalten (Fiedler, 2008). Die Schizophrenie-Betroffenen können nur selten mit den inneren Stimmen in einen vernünftigen Dialog treten, zumal sie nicht zur Person zugehörig erlebt werden. Diese innere Desorganisation geht nur zurück, wenn die Schizophrenie und da-mit die Fragmentierung der Bewusstheit z.B. im Rahmen einer neuroleptischen Behandlung erfolgreich behandelt wird oder wenn sich das innere Erleben beruhigt oder aber auch, wenn sich Psychose mit Entwicklung eines Wahnsystems stabilisiert (Fiedler, 2008).

Die Diagnose einer Schizophrenie ohne expliziten Ausschluss einer dissoziativen Störung ist zu vermeiden, ebenso sollte keine dissoziative Störung diagnostiziert werden ohne Ausschluss einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis (Gysi, 2020).

Ausschlaggebend bei der DIS ist gemäss Gast et al. (2006), dass dissoziierte Wahrnehmungen (insbesondere das Stimmenhören) pseudohalluzinatorischen Charakter haben sowie die insge-samt erhaltene Realitätskontrolle. Bei der DIS fehlen die meisten formalen sowie inhaltlichen Denkstörungen wie Wahnwahrnehmungen und paranoide Symptome, während bei der Schizo-phrenie Amnesien, nicht erinnerbares Verhalten (vgl. C-Kriterien nach Dell, Anhang S. 52) in Form gravierender und charakteristischer Gedächtnisstörungen nicht vorhanden sind (Gast et al., 2006).

Aufgrund der häufig diskreten Phänomenologie und der meist hohen Schamschwelle müssen gemäss Gast et al. (2006) die Symptome bei den DIS-Betroffenen aktiv erfragt werden, zumal DIS-Patienten diese in der Regel nicht spontan mitteilen. Der diagnostische Prozess stellt somit eine Herausforderung dar - die richtige Diagnose ist schliesslich aus psychiatrischer Sicht ent-scheidend für die Therapie sowie zur Einschätzung der Prognose nach einem Delikt (Gysi, 2020).

4.1 Gemeinsame Symptome

Nachfolgend die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale derjenigen Phänomene, die bei beiden psychischen Störungen in unterschiedlicher Art und Weise auftreten:

4.1.1 Halluzination

Bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind akustische Halluzinationen am häu-figsten; sie bestehen aus Geräuschen wie Klopfen, Summen, Schritten u.ä., häufig treten aber auch laute oder leise Stimmen auf, die meist in kurzen Sätzen oder auch nur in einzelnen

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21 ten sprechen oder sich miteinander unterhalten. Sie können drohen oder freundlich sein. Sie können von überall herkommen. Oft werden sie mit dem Verfolger im Rahmen eines Wahns in Verbindung gebracht. Manchmal sind es Stimmen von Menschen aus der Umgebung. Manch-mal werden die eigenen Gedanken laut. Gedanken-laut-Werden, Stimmen, die im Dialog über die Kranken reden, sowie Stimmen, die ihnen Befehle erteilen, gelten als besonders kennzeich-nen für Psychosen aus dem schizophrekennzeich-nen Formenkreis (Finzen, 2020).

Auch viele DIS-Betroffene (etwa 80 Prozent) berichten über dialogische, kommentierende und imperative Stimmen (Fiedler, 2008). Bei den auditiven (Pseudo)Halluzinationen bei DIS-Betroffenen handelt es sich um Stimmen, die die DIS-Patienten ausschelten oder herabsetzen oder die ihnen befehlen, selbstschädigende oder gewalttätige Handlungen auszuführen. Die Stimmen können in der dritten Person über die Betroffenen diskutieren, ihre Gedanken und Ak-tivitäten kommentieren oder miteinander streiten. Es kann auch sein, dass die DIS-Betroffenen Weinen, Brüllen oder Gelächter hören. Meist klingt das Weinen wie das eines unglücklichen Säuglings oder Kleinkindes. Es können aber auch tröstende, unterstützende und Rat gebende Stimmen auftauchen. Die halluzinatorischen Stimmen von DIS-Betroffenen führen oft (als kohä-rent und logisch empfundene) lange Diskussionen. Fast immer scheinen bei DIS-Betroffenen die meist klaren und deutlichen Stimmen im Kopf gehört oder als laute Gedanken wahrgenom-men zu werden (Putnam, 2013). DIS-Betroffene sind sich ihrer „Trugwahrnehmung“ in der Re-gel durchaus bewusst (Gast et al., 2006). Die Stimmen werden von den DIS-Betroffenen ge-wöhnlich nicht als „fremdbestimmt“, „von aussen gemacht“ erlebt oder anderweitig paranoid ausgedeutet. Sie erscheinen wie eigene Erinnerungen oder gleichzeitig ablaufende Mitdenkpro-zesse eigener alternativer „Persönlichkeiten“, die häufig versuchen, auf das aktuelle Handeln zielgerichtet Einfluss zu nehmen. Oder die Stimmen kommentieren - vielfach hochgradig plau-sibel – die ablaufenden Tätigkeiten (Fiedler 2008).

Die Unterscheidung, dass dissoziative Stimmen eher innerhalb des Kopfes erlebt, während psychotische Stimmen von aussen kommend gehört würden, konnte nicht bestätigt werden (Moskowitz & Corstens, 2008; zitiert nach Gysi, 2020). Folglich sind auditive Halluzinationen sowohl bei der DIS als auch bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ein häufiges Phänomen, wobei DIS-Betroffene dies nur selten schon zu Beginn einer Therapie zugeben (Putnam, 2013).

Wahnhafte Botschaften von Stimmen weisen eher auf psychotisches Erleben hin, Stimmen im Zusammenhang mit emotionalen Konflikten und Gewalt in der Vergangenheit sind eher Zeichen

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22 eines dissoziativen Stimmenhörens. Das Hören von Kindern scheint pathognomonisch für struk-turelle Dissoziation zu sein und eine Schizophrenie auszuschliessen (Gysi, 2020).

Laut Gysi (2020) ist für Diagnostiker die Erkenntnis wichtig, dass die Differentialdiagnose zwi-schen Schizophrenie und struktureller Dissoziation nicht nur aufgrund der Stimmenhörerfahrung erfolgen sollte, sondern dass weitere Symptome abgeklärt werden müssen (z.B. formale Denk-störungen, Amnesien, teil- und volldissoziiertes Handeln etc.).

In der Tabelle 6 (Anhang S. 46) werden die wichtigsten Unterscheidungen in Bezug auf das Stimmenhören bei Schizophrenie und DIS aufgeführt (nach Gysi, 2020).

4.1.2 Wahn und Misstrauen

Bizarre Wahnvorstellungen werden bei Menschen mit dissoziativen Störungen kaum beobach-tet. Hingegen können Menschen mit dissoziativen Störungen manchmal wahnähnliche Symp-tome zeigen, die aber in der Regel mit traumatischen Erfahrungen in Verbindung stehen (zum Beispiel können Betroffene in wahnhaft anmutender Weise die Überzeugung vertreten, für die erlittene Gewalt selbst verantwortlich zu sein oder andere Betroffene können sich in akuter Ge-fahr durch Täter wähnen und einen posttraumatischen Verfolgungswahn entwickeln). Die wahnhaften Ideen bei struktureller Dissoziation sind in der Regel auf einen oder einige wenige Persönlichkeitszustände zurückzuführen und werden nicht vom Gesamtsystem geteilt. Unty-pisch für dissoziative Störungen sind Bedrohungsängste durch übernatürliche oder andere nicht-menschliche Mächte (z.B. Teufel, Ausserirdische Kräfte) oder durch Mafia-Verschwörungen sowie Wahnsysteme im Rahmen von Liebeswahn, Eifersuchtswahn, religiö-sem Wahn oder anderen bizarren unkorrigierbaren Fehlüberzeugungen (Gysi, 2020).

4.1.3 Negativsymptomatik

Posttraumatisches Hypoarousal bei DIS kann Negativsymptomen bei Schizophrenie und Symp-tomen im Rahmen einer Depression ähneln. Die Hauptsymptome sind gemäss Gysi (2020):

emotionale Taubheit, soziale Isolation, Erschöpfung, Paralyse (Erstarrung, Lähmung) und Hoff-nungslosigkeit.

In Tabelle 7 (nach Gysi, Anhang S. 48) werden die wichtigsten Unterschiede zwischen Schizo-phrenie und DIS aufgelistet.

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