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Schellings Rekonstruktion der „Geschichte des Selbstbewusstseins“

Im Folgenden soll Schellings 1800 erschienenes „System des Transzendentalen Idealismus“ fokussiert werden. Von Schellings Ich-Schrift war bereits die Rede, an diese soll nun angeknüpft werden. Schelling hatte dort den Begriff des „absoluten“ Ich als des dem menschlichen Wissen zu-grundeliegenden „Unbedingten“ eingeführt. Durch die Bestimmungen, die ihm infolge seiner Unbedingtheit zukommen, war das absolute Ich von der Sphäre alles „Bedingten“ scharf abgesetzt; damit aber auch vom Selbst-bewusstsein, das nur ein bedingtes, im Wechsel der Vorstellungen um seine Identität ringendes Subjekt zum Gegenstand haben kann. Die Weise, in der Schelling beides – das absolute Ich und den Standpunkt des Selbstbewusst-seins – in Beziehung setzen konnte, war der vom Selbstbewusstsein aus-gehende Nachweis seiner Bedingtheit durch das absolute Ich. Ohne dessen Voraussetzung ist das endliche Subjekt nicht zu verstehen, es existiert kein Bedingtes ohne Unbedingtes. Schelling verfügte in der Ich-Schrift aber über kein Argument, das, vom absoluten Ich ausgehend, zeigt, dass und wie dieses die Sphäre der Bedingtheit und damit das Selbstbewusstsein aus sich hervorgehen lässt. Eine solche Erklärung des bedingten Subjekts aus dem absoluten Ich war auf der Basis des dort eingeführten Ich-Begriffs gar aus-geschlossen. Denn dieser besagt, das absolute Ich sei ein reiner, vollkommen selbstgenügsamer Bezug auf sich; der Bezug auf Anderes, mit dem es in die Bedingtheit einträte, ist ihm also vollkommen fremd. Und so musste die von Schelling selbst in der Ich-Schrift aufgeworfene Frage, wie das ich dazu komme, sich als bedingt zu setzen, dort unbeantwortet bleiben.

Der Umstand, dass der in der Ich-Schrift angesetzte Begriff des „absoluten“

Ich kein Prinzip ist, aus dem sich die Struktur des Bewusstseins erklären

lässt, bewog Schelling, den für die Theorie grundlegenden Ich-Begriff anders zu fassen. Dies geschieht schon in den „Abhandlungen zur Er-läuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“185, die in mehreren Teilen 1797 erschienen sind. Dem „Ich“ beziehungsweise „Geist“, so heißt es dort, ist es wesentlich, dass es „[...] sein eignes Objekt [...]“186 und damit durch sich selbst „endlich“ wird. Fichte geht hier nicht mehr von einem Ich aus, das jenseits aller Bedingtheit steht und das zu dieser daher nicht übergehen kann; vielmehr wird die Selbstobjektivierung und damit -verendlichung nun direkt als die dem Ich wesentliche Tätigkeit angesetzt. Damit, dass vom Akt der Selbstvergegenständlichung des Ich ausgegangen wird, sieht Schelling ein Theorieprinzip gegeben, aus dem das Bewusstsein hinsichtlich seiner Struktur und seiner ihm wesentlichen Inhalte sich verstehen lässt. Somit soll nun ein Ich-Begriff zum Ausgang genommen sein, der umfassende Er-klärungskraft hat und auf den somit das ganze System der Transzendental-philosophie gegründet werden kann. Man kann das „System des transzendentalen Idealismus“ so verstehen, dass Fichte hierfür nun durch die Ausführung des Systems, das sich auf dieser Basis ergibt, den Beweis an-treten will. Denn hier soll nun, ausgehend vom Begriff des Ich als Selbst-objektivierung, das ganze System der Transzendentalphilosophie tatsächlich entwickelt werden.187 So heißt es in der „Vorrede“:

„Der Zweck des gegenwärtigen Werkes ist nun eben dieser, den transzendentalen Idealismus zu dem zu erweitern, was er wirklich sein soll, nämlich zu einem System des gesamten Wissens, also den Be-weis jenes Systems nicht bloß im allgemeinen, sondern durch die Tat selbst zu führen, d.h. durch die wirkliche Ausdehnung seiner

185 Ursprünglich trugen die Veröffentlichungen den Titel „Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur“.

186 Schelling SW I, 366

Prinzipien auf alle möglichen Probleme in Ansehung der Haupt-gegenstände des Wissens, welche entweder schon vorher aufgeworfen aber nicht aufgelöst waren, oder aber erst durch das System selbst möglich gemacht worden und neu entstanden sind“188.

Zunächst soll vom „Selbstobjektwerden“ des Ich die Rede sein. Schelling führt dorthin, indem er vom Akt des „Sichdenkens“, vom bewussten Selbst-bezug im Denken, ausgeht. Die Transzendentalphilosophie geht, so Schelling, von einem Postulat aus, nämlich von der Anweisung, einen solchen Akt zu vollziehen und auf ihn zu reflektieren.189

Hier lassen sich Ähnlichkeiten zu Fichtes Darstellung der Wissenschafts-lehre „nova methodo“ konstatieren, auch Fichte geht von dem Postulat aus, sich zu denken. Es kann angenommen werden, dass Schelling hier durch Fichtes Schrift beeinflusst ist.190 Schelling schreibt:

„Der erste Akt, von welchem die ganze Geschichte der Intelligenz ausgeht, ist der Akt des Selbstbewußtseins, insofern er nicht frei, sondern noch unbewußt ist. Derselbe Akt, welchen der Philosoph gleich anfangs postuliert, als bewußtlos gedacht, gibt den ersten Akt unsers Objekts, des Ichs“191.

An anderer Stelle heißt es:

„Für wen es z. B. in aller Tätigkeit des Geistes überall nichts

187 vgl. Berg 2003, 232f.

188 Schelling-W Bd II, System, 4

189 vgl. Schelling-W Bd II, System, 39ff.

190 vgl. Klotz 2007, 243f.

191 Schelling-W Bd II, System, 124

Bewußtloses gibt, und keine Region außer der des Bewußtseins, wird so wenig begreifen, wie die Intelligenz in ihren Produkten sich ver-gesse, als wie der Künstler in seinem Werk verloren sein könne. Es gibt für ihn kein anderes als das gemeine moralische Hervorbringen, und überall kein Produzieren, in welchem Notwendigkeit mit Freiheit vereinigt ist“192.

Die Intention, die Schelling beim Ausgang vom „Denke dich“ verfolgt, ist eine andere als die Fichtes, diesem ging es darum, das unmittelbare, vor-reflexive Selbstbewusstsein als ermöglichende Bedingung der Reflexion aufzuweisen. Das unmittelbare Selbstbewusstsein sollte die „absolute Grenze“ allen Nachfragens sein. Schelling hingegen geht vom bewussten Selbstbezug aus, um zu einer vorbewussten Ich-Tätigkeit zurückzugehen. Im bewussten Selbstbezug soll sich zeigen, dass es dem Geist wesentlich ist, sich zu erzeugen, indem er sich zum Objekt macht. Als „Ich“ erzeuge ich mich, indem ich mich denke. Diese selbsterzeugende Tätigkeit wird, so Schelling, ursprünglich unbewusst ausgeübt. Der Geist konstituiert sich ursprünglich in einem vorbewussten Selbstbezug. Schelling geht es, wenn er vom bewussten Sich-Denken ausgeht, also darum, hierdurch die Tätigkeits-struktur aufzuweisen, durch die die ursprüngliche, unbewusste Tätigkeit des Geistes gekennzeichnet ist. Für Schellings Position scheint wesentlich, dass

„Geist“ und „Bewusstsein“ voneinander unterschieden sind, ersterer besitzt einen unbewussten Aspekt.193 Diesen Gedanken greift Schelling nun in

192 Schelling-W Bd II, System, 104

193 vgl. Leibniz 1996, ,171ff.; Leibniz führte als erster den Begriff der unbewußten Perzeptionen ein. Im Zusammenhang mit seiner Lehre vom Stufenreich der Monaden die durch den Grad an Klarheit und Deutlichkeit ihrer Vorstellungen geordnet sind schuf Leibniz den Begriff der unbewußten Wahrnehmungen oder Vorstellungen, deren Be-reich er für wesentlich größer hielt als den BeBe-reich derjenigen Perzeptionen die durch Apperzeption ins Bewusstsein gelangen. Dabei ordnet er die beiden Arten der

Per-systembildender Weise auf und hinterfragt den vorbewussten, selbst-konstituierenden Akt des Geistes. Der Geist wird hier für sich Objekt, er wird für sich etwas Bestimmtes, somit beschränkt er sich selbst. Sich zum Objekt machen wird analog zu sich bestimmen. Der Geist produziert sich in dem Sinn, dass er durch sich etwas Bestimmtes wird. Die Bestimmtheit des Geistes, verstanden als die Gegebenheit, dass er bestimmte Inhalte in sich findet, beruht nicht auf einer „Affektion“, sondern auf der vorbewussten, selbstbestimmenden Tätigkeit des Ich. Die Rede von einem solchen Selbst-beschränkungsakt des Ich impliziert eine interne Zweiheit im Ich. Schelling spricht hier von einer „ursprünglichen Duplizität“194 des Ich. Nach Schelling besteht eine dem Ich wesentliche Zweiheit von „subjektiver“ und

„objektiver“ Tätigkeit beziehungsweise von „ideeller“ und „reeller“ Tätig-keit.195

Schelling setzt hier die Reflexionsstruktur mit der internen Differenz, die sie beinhaltet, als Grundform der ursprünglichen Tätigkeit des Geistes. Hier zeigt sich auch der unbewusste Charakter dieses Akts; nach Schelling gilt hier, was im Zusammenhang der Fichteschen Darstellung der Reflexion deutlich wurde, der Reflexionsakt kann sich nicht selbst im Blick haben, wenn er vollzogen wird. Indem der Akt vollzogen wird, wird das Ich für sich etwas Bestimmtes, es wird für sich Objekt. Damit ist jedoch noch nicht die

zeptionen wie folgt: Leibniz unterscheidet die „petites perceptions“ von den

„perceptions insensibles“, erstere entwickeln keine große Intensität für das Subjekt, gemeint sind Geräusche, flüchtige visuelle Eindrücke oder flüchtige physische Ein-drücke. Also Eindrücke ohne große Wirkungen auf das Bewusstsein, also lediglich mit Bedeutung für das Unbewußte, welches Leibniz als „Seele“ bezeichnet. Zweitere, sind jene Perzeptionen, die nicht bewusst wahrgenommen und nicht reflektiert werden, die aber den Charakter von Vorstellungen annehmen können. Wobei die Möglichkeit be-steht, dass diese im Unbewussten abgelegten Perzeptionen unter bestimmten Assoziationen wieder aktiviert werden können.

194 vgl. Schelling-W Bd II, System, 48

195 vgl. Fukaya 2006, 111ff.

Tätigkeit erfasst, durch die dies geschieht. Der Reflexionsakt leidet in seinem Vollzug unter einem „blinden Fleck“, ein unmittelbares Tätigkeitbewusstsein kann es nach Schelling hier nicht geben. Dies be-deutet, dass der Geist, indem er sich durch den reflexiven Selbst-bestimmungsakt konstituiert, noch nicht weiß, was er ist. Mit dieser Fest-stellung verbindet Schelling nun eine Zielbestimmung, die für den Geist gelten soll: er muss darauf aus sein, sich als ursprünglich unbewusste Selbstbestimmung zu erfassen, also für sich transparent zu werden. Dieses Ziel bezeichnet Schelling nun im „System“ als „Selbstbewusstsein“. Der Begriff des Selbstbewusstseins wird somit vom Gedanken einer ursprüng-lichen unbewussten Tätigkeit des Geistes her gefasst. Selbstbewusstsein besteht darin, dass der Geist seine ursprünglich unbewusste Tätigkeit als das für ihn Wesentliche erfasst, dass er sich in diesem Sinn „transparent“ wird.

Dies verdeutlicht Schelling in gewisser Weise an folgenden Stellen des

„Systems“:

„Der Begriff, von dem wir ausgehen, ist der des Ichs, d.h. des Subjekt-Objekts, zu dem wir uns durch absolute Freiheit erheben.

Durch jenen Akt nun ist für uns, die wir philosophieren, etwas in das Ich als Objekt, deswegen aber noch nicht in das Ich als Subjekt gesetzt (für das Ich selbst ist in einem und demselben Akt, was reell gesetzt ist, auch ideell gesetzt), unsere Untersuchung wird also so lange fortgehen müssen, bis dasselbe, was für uns in das Ich als Objekt gesetzt ist, auch in das Ich als Subjekt für uns gesetzt ist, d.h.

so lange, bis für uns das Bewußtsein unseres Objekts mit dem unsrigen zusammentrifft, also bis das Ich selbst für uns bis zu dem Punkt gekommen ist, von dem wir ausgegangen sind“196

196 Schelling-W Bd II, System, 63

und

„Nun ist aber die Transzendental-Philosophie erst dann vollendet, wenn das Ich sich selbst ebenso zum Objekt wird, wie es dem Philo-sophen wird“197.

Diese Selbsttransparenz erfordert für den Geist einen höchst komplexen Akt.

Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie sieht Schelling darin, diesen Akt zu analysieren, seine „Zwischenglieder“, also die darin enthaltenen Teilakte, sukzessiv zu entwickeln. In diesem methodischen Sinn sagt Schelling, die Transzendentalphilosophie sei eine „Geschichte des Selbst-bewusstseins“, sie entfaltet in einer Folge, diskursiv, was der Geist in einem komplexen Akt leistet:

„Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseins, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis sukzessiv zusammengesetzt wird“198.199

Auf diesen Gedankengang gründet sich nun die Struktur des „Systems“. Der erste Teil gilt der „theoretischen“ Philosophie. Der Sache nach geht es hier um unseren Bezug auf Gegenstände, und letztlich auf eine Welt, die wir als unabhängig von uns verstehen. Schelling bestimmt den Sinn dieses System-teils aber ganz von seinem systematischen Ansatz her: Die theoretische Philosophie hat diejenigen Akte des Geistes zum Thema, in denen dieser seine selbstbestimmende Tätigkeit zum Gegenstand macht, ohne ihrer aber

197 Schelling-W Bd II, System, 126

198 Schelling-W Bd II, System,73

199 Später wird sich zeigen, dass diese Programmvorgabe Schellings Nachwirkung auf

als eigener bewusst zu werden. Der Bezug auf eine als unabhängig ver-standene Welt geht also aus einem als solchem nicht durchschauten Selbst-bezug des Ich hervor. Der Geist begegnet sich in der Welt, aber in verding-lichter Form. Schelling versucht den verdeckten Reflexionscharakter des Gegenstandsbezugs aufzuweisen, indem er die Struktur der Materie und des Organischen analysiert. In der Materie-Anschauung sind entgegengesetzte Tätigkeiten synthetisiert, eine Expansionskraft, durch die die Materie sich im Raum ausbreitet, und eine Repulsionskraft, die diese Ausbreitung be-schränkt.200 Die Dualität von beschränkender und beschränkter Tätigkeit, die ja den Geist ausmacht, begegnet hier also in vergegenständlichter Form. In einer noch weitergehenden Form vergegenständlicht der Geist sich in der Anschauung des Organismus. Organismen entwickeln und erhalten sich selbst, durch eigene Tätigkeit. Hier stellt sich also der selbsterzeugende, spontane Charakter des Geistes dar. Damit tritt ein Grundgedanke der Natur-philosophie Schellings hervor: Die Natur steht dem Geist nicht als das schlechthin Andere gegenüber; sie ist vielmehr ein Bild des Geistes.

In der theoretischen Philosophie des dritten Hauptabschnitts des „Systems“

geht es um eine unbewusste Produktion, zu der der Geist getrieben wird, indem er seine eigene Struktur zum Gegenstand macht, ohne sie als eigene zu erkennen. Aus dieser unbewussten Produktion tritt der Geist erst im praktischen Selbstbezug heraus. Hier, im Bewusstsein eigenen Wollens, wird er sich dessen bewusst, dass er selbstbestimmend ist. Damit, dass die selbstbestimmende Tätigkeit als eigene bewusst, und nicht mehr vergegen-ständlicht, wird, beginnt die bewusste Produktion des Geistes. Schelling sagt entsprechend, das Bewusstsein des Wollens sei der „Anfang des Bewusst-seins“; hier erfasst sich das Ich als selbstbestimmend. Auch hier findet sich

Hegels „Phänomenologie des Geistes“ gehabt hat.

eine Nähe zu Fichte, der den primären bewussten Selbstbezug als praktisches Selbstverhältnis setzte.

Der Schritt von der „theoretischen“ zur „praktischen“ Philosophie in Schellings Schrift entspricht dem, von der Theorie der unbewussten Selbst-bestimmung und Produktion des Ich, zur Betrachtung von deren bewusster Ausübung. Insofern ist die praktische Philosophie höher gestellt als die theoretische, sie hat das Ich auf einer Stufe fortgeschrittener Selbsterfassung zum Gegenstand. Schelling betont, dass damit die Einheit beider hervortritt.

Denn in beiden geht es darum, dass der Geist sich auf die Selbstbestimmung, die sein Wesen ausmacht, bezieht; einerseits in unbewusst produktiver, ver-dinglichender Weise, andererseits bewusst.

Die grundlegende Verfassung des Wollens sieht Schelling darin, dass sie nichts anderes als Selbstbestimmung zum Inhalt hat. Unser primäres, allem anderen übergeordnetes Wollen besteht darin, dass wir nichts anderes als Selbstbestimmung wollen. Sie ist der letzte Zweck des Wollens. Dabei geht es nicht etwa nur um die je eigene Selbstbestimmung, sondern auch um die Selbstbestimmung Anderer; Selbstbestimmung als solche, nicht nur als meine ist Inhalt des primären Wollens. Selbstbestimmung als grundlegender, vorbewusster Akt des Ich ist die überindividuelle Grundstruktur des Geistes;

wenn anzunehmen ist, dass sie hier Inhalt des Bewusstseins wird, so ist sie hier ebenso überindividuell, also universalistisch zu verstehen. Schelling bezeichnet dieses übergeordnete Wollen als den „reinen“ Willen. Wie Fichte versucht Schelling, diesen zentralen Begriff der Moraltheorie Kants Selbstbewusstseinstheoretisch zu begründen. Der reine Wille soll sich als primärer Inhalt des praktischen Selbstbezugs erweisen; und wie in Fichtes

200 vgl. Kroner 2006, 27ff.

Darstellung verbindet sich damit die These, das Bewusstsein der eigenen Wahlfreiheit, also der „Willkür“, sei gegenüber dem reinen Willen sekundär.

Schelling rekonstruiert es als „Erscheinung“ des reinen Willens: Zum Er-scheinen gehört die Bestimmtheit, das Abgegrenztsein gegen Anderes.

Damit der reine Wille uns erscheinen kann, müssen wir ihn also als eine Möglichkeit unter anderen sehen, unter denen wir wählen können.

Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen mit Fichtes Darstellung des praktischen Selbstbezugs, existiert eine Differenz, die Schellings Systematik von Fichtes Vorstellungen abhebt. Fichte sieht im praktischen Selbstbezug nämlich auch schon die Erfüllung des Selbstbewusstseins; mit ihm erlangen wir ein angemessenes Verständnis dessen, was wir wesentlich sind. Genau dies aber wird in Schellings Darstellung bestritten, der praktische Selbstbezug ist nach Schelling als Selbstbezug des Geistes immer noch defizitär; auch hier gelingt es dem Geist noch nicht, sich selbst an-gemessen zu erfassen. Daher treibt Schellings Systematik auch über die praktische Philosophie hinaus. Schelling bringt dieses Defizit des praktischen Selbstbezugs zum Ausdruck, indem er vom Bewusstsein der willentlichen Selbstbestimmung sagt:

„Denn eben dadurch, daß die Intelligenz sich als produzierend an-schaut, trennt sich das bloß ideelle Ich von demjenigen, welches ideell und reell zugleich, also jetzt ganz objektiv und vom bloß ideellen un-abhängig ist. In derselben Anschauung wird die Intelligenz produzierend mit Bewußtsein, aber sie sollte sich ihrer selbst als bewußtlos produzierend bewußt werden“201.

201 Schelling-W Bd II, System, 211

Das Ich ist sich hier also zwar einer eigenen Produktivität bewusst; aber es weiß nicht, dass es ursprünglich unbewusst produziert. Indem es von seiner Selbstbestimmung nur als dem bewussten Akt des Wollens weiß, hat es also noch nicht das erfasst, was es ursprünglich ist. Es ist also noch nicht auf dem Standpunkt angekommen, der von Anfang an der Standpunkt des Be-trachters war und den es zu seinem eigenen machen soll.

Das Ich muss zu der Einsicht kommen, dass es nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst selbstbestimmend ist. Die Voraussetzung einer Einheit von bewusster, freier Tätigkeit und Unbewusstem gilt nach Schelling aber auch schon im Hinblick auf die Geschichte der Menschheit, wie sie aus dem Standpunkt des moralischen Wollens verstanden werden muss; denn der moralischen Einstellung geht es um die Selbstbestimmung als solche; daher zielt sie auf einen Zustand ab, in dem das Selbstbestimmungsrecht aller Menschen anerkannt und gesichert ist. Die Zuversicht, dass ein solcher Zu-stand als Ergebnis der Geschichte eintreten wird, ist für den moralisch Handelnden unveräußerlich. Doch sie ließe sich nicht aufrechterhalten, wenn man annehmen würde, dass die Geschichte nichts weiter als ein Spiel-feld der Willkür Einzelner ist. Wäre sie nichts als dies, so könnte man die Geschichte gar nicht als zielgerichtet verstehen. Das moralische Bewusstsein setzt daher voraus, dass durch das Handeln der Einzelnen, auch wenn sie zweifellos in eigener Willkür und oft nicht in moralischer Absicht handeln, sozusagen hinter ihrem Rücken und in geschichtlicher Notwendigkeit der Zustand eintreten wird, der das Ziel der Geschichte ist. Aus der moralischen Sicht realisiert das bewusste Handeln der Einzelnen einen zielgerichteten Vorgang, der als solcher den Einzelnen verborgen ist. So schreibt Schelling:

„Es ist also eine Voraussetzung, die selbst zum Behuf der Freiheit

notwendig ist, daß der Mensch zwar, was das Handeln selbst betrifft, frei, was aber das endliche Resultat seiner Handlungen betrifft, ab-hängig sei von einer Notwendigkeit, die über ihm ist, und die selbst im Spiel seiner Freiheit die Hand hat“202.

Schelling vergleicht die Handelnden mit Schauspielern, die das Bewusstsein haben, ihre Rollen selbst zu erfinden, damit aber zugleich einen ihnen un-bekannten Spielplan realisieren:

„Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Teil hat, ganz frei und nach Gutdünken seine Rolle spielt, so läßt sich eine vernünftige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, daß es Ein Geist ist, der in allen dichtet, und daß der Dichter, dessen bloße Bruchstücke (disjecti membra poëtae) die einzelnen Schauspieler sind, den objektiven Erfolg des Ganzen mit dem freien Spiel aller einzelnen schon zum voraus so in Harmonie gesetzt hat, daß am Ende wirklich etwas Vernünftiges

„Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Teil hat, ganz frei und nach Gutdünken seine Rolle spielt, so läßt sich eine vernünftige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, daß es Ein Geist ist, der in allen dichtet, und daß der Dichter, dessen bloße Bruchstücke (disjecti membra poëtae) die einzelnen Schauspieler sind, den objektiven Erfolg des Ganzen mit dem freien Spiel aller einzelnen schon zum voraus so in Harmonie gesetzt hat, daß am Ende wirklich etwas Vernünftiges