Geschichtliches
Wenn man neueren Forschungen glauben darf, ist das Schachspiel zwischen 550 und 660 n.Chr. entstanden [10]. Es gilt als sicher, dass sich dieses Spiel von Indien aus (dort hieß es
”Tschaturanga“) nach Westen verbreitete [10], [11]. Einem Zeitungsbericht zufolge haben Arch¨aologen in S¨ud-Usbekistan Schachfiguren entdeckt, die aus dem 2. Jahrhundert n.Chr.
stammen [12].
Es ranken sich viele ¨ahnlich klingende Erz¨ahlungen um die Ausbreitung dieses Spieles.
Die folgende legt den Schauplatz nach Indien:
Vor der Residenz eines Maharadschas, der durch seinen Reichtum zum
”s¨ußen“ Nichtstun verurteilt ist, begehrt ein Mann Einlass, der ein Schachspiel bei sich tr¨agt. Auf die neu-gierigen Fragen des Herrn gibt der Besucher bereitwillig Auskunft. Der F¨urst erkennt sofort, welche tiefgr¨undigen und vielf¨altigen Varianten dem ¨uberaus spannenden Spiel-ablauf innewohnen und ist entz¨uckt. Aus Freude dar¨uber, dass ihm dieses Spiel k¨unftig jede Langeweile vertreibt, bietet er seinem Gast die Erf¨ullung eines beliebigen Wunsches an. Wider Erwarten ¨außert sich dieser scheinbar bescheiden:
”Lege auf das erste Feld mei-nes Schachbrettes ein Reiskorn, auf das n¨achste 2 K¨orner, auf das folgende 4, dann 8 usw.
bis zum letzten (64.) Feld meines Schachbrettes.“
Schnell wies der Maharadscha einige seiner Beamten an, mit der Z¨ahlung zu beginnen (damit es sich der Gast nicht noch anders ¨uberlegt). Wie ihnen befohlen, begannen sie zu z¨ahlen und zu z¨ahlen und zu z¨ahlen . . . . Seitdem hat man nie wieder etwas von ihnen geh¨ort.
Potenzen kommen ins Spiel
Die Untersuchung der Frage nach der Anzahl der Reisk¨orner macht dem Leser deutlich, dass ihn der Potenzbegriff mit seinen Rechenregeln bef¨ahigt, den ¨Uberblick zu behalten.
Exakte Zahlen, wie sie inzwischen jeder hergelaufene Computer liefern kann, sind dabei eher hinderlich. Am Horizont tauchen schließlich Vergleiche mit geographischen, astro-nomischen und statistischen Daten auf, damit Potenzen mit relativ große Exponenten dingfest gemacht und eingeordnet werden k¨onnen. (Anregungen zu diesem Thema finden wir z.B. auch in [13]).
Machen wir uns zun¨achst eine Tabelle. Das Schachbrett hat 64 Felder:
Feld-Nr. Anzahl der Reisk¨orner Potenzschreibweise
Subtrahiert man die Zahl 1 von der jeweiligen Nummer des Feldes, so erh¨alt man den Exponenten der zugeh¨origen Potenz mit der Basis 2. Jetzt erscheint es sinnvoll, dem Wert 1 die Potenz 20 nachtr¨aglich zuzuordnen.
Nun gilt es, die Zahl 263abzusch¨atzen. (Unruhe im Hintergrund.) Was ist?”Wir sind vom Deutschen Rechenverein und m¨ochten die genaue Anzahl der Reisk¨orner auf dem 64.
Feld wissen.“ Warum?
”Weil wir immer alles genau wissen wollen.“ Nichts da! Machen Sie sich selber an die Arbeit! (Abordnung entfernt sich murrend.)
Die Absch¨atzung von Potenzwerten Auf dem 64. Feld des Brettes liegen 263 K¨orner.
263= 23·260 = 23·(210)6. (*)
Wir stapeln tief: 210= 1024≈1000 = 103. Mit (*) ergibt sich: 263 ≈8·(103)6 = 8·1018. Auf dem letzten Feld befinden sich
”etwas mehr“ als 8 Trillionen Reisk¨orner.
Auf das ganze Schachbrett m¨ussen S = 1 + 21+ 22+ 23+ 24+ . . . 261+ 262+ 263 K¨orner
(L¨arm im Hintergrund.) Was ist? Sie schon wieder!
”Ja, wir m¨ochten gerne wissen, wie viele . . . “ Raus!
”Aber wir m¨ochten wenigstens noch wissen, . . .“ Was? ”. . . ob 264 −1 eine Primzahl ist.“ Also gut:
1. M¨oglichkeit:
264−1 = (232)2−12 = (232+ 1)·(232−1) . Also ist 264−1 keine Primzahl.
Nebenbei: 232+ 1 = 641·6 700 417 und 232−1 = (216)2−12 usw.
2. M¨oglichkeit:
21 = 2 22 = 4 23 = 8 24 = 16 25 = 32 .
Die Endziffern der Potenzwerte wiederholen sich in der gleichen Reihenfolge nach der vierten Potenz. Die vierte Potenz endet auf 6 . Weil aber 4 ein Teiler des Exponenten 64 ist, muss die Endziffer von 264die 6 sein. Dann endet 264−1 auf 5. Alle nat¨urlichen Zahlen (>5), die auf 5 enden, sind keine Primzahlen.
Also:S= 264−1≈264= 2·263. Auf das ganze Schachbrett geh¨oren etwa doppelt so viele Reisk¨orner wie sich auf dem 64. Feld befinden: S ≈ 16 Trillionen K¨orner. Wohlgemerkt:
”In Wirklichkeit“ sind es
”etwas“ mehr.
H¨atte Goethes Thoas nicht mit Iphigenie geredet, sondern uns ¨uber die Schulter geschaut, m¨usste man ihn wohl so zitieren:
”Du schreibst eine große Zahl gelassen hin.“
Was sind 16 Trillionen?
B¨ose ¨Uberraschungen f¨ur den Maharadscha und seine Beamten! Nehmen wir an, dass zum Z¨ahlen 100 von ihnen herangezogen wurden und dass pro Sekunde von jedem ein Reiskorn abgez¨ahlt werden kann. (Bei den ersten hundert K¨ornern erscheint dieser Zeitraum zu lang, aber man bedenke, dass z.B. in der Gegend des 800 573 421 999-sten Reiskorns eine hohe und zeitaufwendige Konzentration erforderlich ist.)
Der gesamte Abz¨ahlprozess w¨urde etwa 5 Milliarden Jahre dauern; das entspricht ungef¨ahr dem Alter unserer Erde.
264−1 K¨orner: Etwa 100 000 Welt-Getreideernten (Reis, Roggen, Hafer, Hirse, . . . ) w¨aren daf¨ur n¨otig.
”Erst“ seit etwa 10 000 Jahren betreiben Menschen Ackerbau (siehe z.B. [14]).
Etwa 20 Reisk¨orner ergeben ein Gramm. 16·1018 Reisk¨orner haben dann eine Masse von 16·1018·5·10−5kg = 8·1014kg, das sind 800 Billionen kg.
Eine Handelskette bietet Reis in quaderf¨ormigen 1 kg-Schachteln mit den Abmessungen 5 cm×13 cm×20 cm an.
Mit den K¨ornern auf dem Schachbrett k¨onnte man damit 800 Billionen solche Schachteln f¨ullen. Wenn man diese dann flach ¨ubereinander legen und zu einem Turm stapeln w¨urde, w¨are dieser Turm 8·1014·5·10−5km = 4·1010km, also 40 Milliarden km hoch.
Der Bahndurchmesser der Erde um die Sonne betr¨agt ca. 300 Millionen km. Der Bahn-durchmesser des Pluto um die Sonne betr¨agt etwa 12 Milliarden km. Die Dimensionen unseres Sonnensytems w¨urden locker gesprengt!
Der internationale Eisenbahnverband UIC hat f¨ur den gedeckten Einheitsg¨uterwagen vom Typ 571-2 folgende Gr¨oßen vorgegeben:
Zuladung maximal: 60 bis 75 t, also ca. 70 t L¨ange ¨uber Puffer: 21,70 m, also ca. 20 m maximale Geschwindigkeit: 120kmh
8 ·1014kg = 8 ·1011t. Anzahl der vollbeladenen G¨uterwagen: 8 · 1011t : 70 t ≈ 1010 Waggons.
L¨ange des G¨uterzuges: 1010·20 m = 2·108km. Die ¨Aquatorl¨ange unserer Erde betr¨agt ca. 4·104km. Die Gesamtl¨ange des globalen Schienennetzes betr¨agt ca. 2·106km. Aber egal:
Angenommen, ein G¨uterzug, der alle Reiskorner geladen hat, passiert mit der maximal zul¨assigen Geschwindigkeit einen beschrankten Bahn¨ubergang, vor dem die Autofahrer anhalten mussten. Die Wartezeit, bis sich die Schranken wieder heben, betr¨agt dann:
2· 108km : 120kmh ≈ 1,7·106h ≈ 71 000 d; das w¨aren etwa 194 Jahre. Hoffnungslos, sowohl f¨ur den Lockf¨uhrer, die Wartenden und f¨ur den Bahn¨ubergang. Die Unentwegten k¨onnen zwar nicht h¨oren, aber lebenslang im Wandel der Jahreszeiten zuschauen, wie das Gras w¨achst. Die L¨osung von Catering-Problemen und die Antwort auf die Frage, was alles beim und nach dem Ableben der Insassen in die Wege geleitet werden soll, werden an dieser Stelle auf einen sp¨ateren Termin verschoben.
16 Reisk¨orner lassen sich l¨uckenlos zu einer ca. 10 cm langen geraden Kette aneinander reihen.
16·1018 Reisk¨orner ergeben dann eine Streckenl¨ange von 16·1018· 1016cm = 1014km.
Das Licht legt in einem Jahr ca. 1013km zur¨uck.
Wenn also eine Maus das Reiskorn am Anfang der Kette stibitzt, wird dieser Diebstahl am Kettenende fr¨uhestens in zehn Jahren registriert.
Schließen wir die besagte Kette jedoch zu einem Kreis, so h¨atte dieser einen Durchmesser von ca. 30 Billionen km. Damit r¨uckt diese Kreislinie an den uns am n¨achsten gelegenen Stern
”proxima centauri“, bis auf etwa ein Lichtjahr (≈1010km) heran.
Zur¨uck zum Schachspiel. S = 264 −1: Es heißt, so viele sinnvolle Z¨uge st¨unden dem Schachspieler am Brett zu Verf¨ugung [15].
”K¨onnten wir nicht doch . . . ?“
Also, dass
”a Ruah is“: 264−1 = 18 446 744 073 709 551 615 .