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Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau?

Im Dokument Kampf um Wort und Schrift (Seite 52-90)

Konzepte imperialer Herrschaft im Königreich Polen (1863–1915)

Im Herbst 1903 gärte es unter den Studenten der Kaiserlichen Universität in Warschau. Die Polizeibehörden registrierten besorgt gesteigerte klandes-tine Aktivitäten, die auf einen bevorstehenden studentischen Streik hinzu-deuten schienen. Stein des Anstoßes, der den Aufruhr motivierte, war ein symbolischer Akt der Hochschulleitung: Der Rektor der Kaiserlichen Uni-versität hatte bei der Beerdigung des ehemaligen Kurators des Warschauer Lehrbezirks, Aleksandr Apuchtin, einen Kranz niederlegen lassen, auf des-sen Schärpe Apuchtin als »großer Patriot und russischer Aktivist« bezeich-net und seine Taten in den polnischen Provinzen gepriesen wurden1. In einer studentischen Proklamation »Wer ist Apuchtin?« vom 7.10.1903 machten die Gegner dieser Hommage ihre Position deutlich: Der Kurator sei nichts ande-res als ein »Russifizierer« gewesen, der nichts für die Entwicklung des Bil-dungssystems im Königreich getan habe. Die Universitätsleitung dürfe sich nicht im Namen der gesamten Institution und damit auch der Studenten vor dieser Person verbeugen. Denn »was ist das für ein Patriotismus, der eine andere Nationalität von der Erdoberfläche tilgen will? Alle, die Apuchtin jetzt ehren, verdienen nur unsere Verachtung«2.

Für die protestierenden Studenten war die Angelegenheit eindeutig: Die Regierungspolitik, die Amtsträger wie Apuchtin seit der Niederschlagung GHV SROQLVFKHQ -DQXDUDXIVWDQGV YRQ ௘௘ YHUIROJWHQ HQWVSUDQJ HLQHP Programm der Russifzierung, das auf die »Tilgung« anderer Nationalitäten abzielte. Nun endlich, nach vier Dekaden scharfen Russifizierungsdrucks im Königreich schien die Zeit gekommen, sich gegen die staatlichen Angriffe auf die polnische nationale Eigenart zur Wehr zu setzen. Was bereits als

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2 $*$'3RP**:6\JQ.DUW±Y>hEHUVHW]XQJGHU3URNODPDWLRQ@

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zeichen der kommenden Revolution und den sie begleitenden großen Studen-tenstreik von 1905 zu deuten ist, verweist zugleich grundsätzlich darauf, wie zentral das Deutungsmuster der Petersburger Politik nach 1864 als Russifi-]LHUXQJVRIIHQVLYHEHLLKUHQ:LGHUVDFKHUQZDU௘3.

Der vorliegende Beitrag wird allerdings eine andere Perspektive einneh-men. Er will danach fragen, wie die handelnden Akteure der imperialen Staatsverwaltung selber ihre Herrschaftspraktiken im Königreich wahrnah-men und beschrieben. Es soll geklärt werden, welche zentralen Motive jene politischen Entscheidungen prägten, mit denen die Petersburger Autoritäten auf die fundamentale Herausforderung des Januaraufstands reagierten und mit denen sie die innere Struktur der polnischen Provinzen radikal umge-stalteten. Bei einem solchen Fokus auf die Intentionen und die Selbstveror-tungen der zarischen Verwaltungselite ist zugleich zu identifizieren, welche Rolle eine »Russifizierungsoption« in einem der wichtigsten Randgebiete des russländischen Reichs spielte und welche Vorstellungen sich für die zeit-genössischen Administratoren damit verbanden4.

Um sich diesen imperialen Deutungshorizonten anzunähern, ist eingangs der Katalog der Maßnahmen zu beschreiben, mit denen die zarischen Auto-ULWlWHQQDFKGHUSROQLVFKHQ(UKHEXQJYRQ௘௘GDV.|QLJUHLFK3ROHQ]X pazifizieren und zugleich stärker in das Reichsgefüge zu integrieren versuch-ten5. Hier gilt es, vor allem das Panorama staatlicher Direktiven und

loka-3 Im Flugblatt wurde hier die Zäsur von 1864 als besonders einschneidend genannt. Ebenso explizit bei Graf LELIVA (Pseudonym von Anton TYSZKIEWICZ), Russko-pol’skie otnošenija.

2þHUN >5XVVLVFKSROQLVFKH %H]LHKXQJHQ (LQH 6NL]]H@ /HLS]LJ 6I 6WDQLVáDZ .5=(0,ē6., 'ZDG]LHĞFLD SLĊü ODW 5RVML Z 3ROVFH ± >)QIXQG]ZDQ]LJ -DKUH 5XV-VODQGLQ3ROHQ±@/HPEHUJ9JO]XU5HYROXWLRQYRQXQG]XGHQ6FKOHU und Studentenstreiks u.a. Robert E. BLOBAUM, Rewoljucja. Russian Poland, 1904–1907, Ithaca 1995; Malte ROLF, Revolution, Repression und Reform 1905 im Königreich Polen, in: Lilia ANTIPOW௘௘0DWWKLDVSTADELMANN (Hg.), Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte, Stuttgart 2011, S. 219–232.

4 Das Königreich Polen stellte nicht nur die bevölkerungsstärkste und militärstrategisch sowie wirtschaftlich bedeutendste Reichsperipherie dar, Kongresspolen war zudem in vielem ein Laboratorium des Vielvölkerreichs, in dem Praktiken der imperialen Herrschaftssicherung und des Umgangs mit nicht-russischen Bevölkerungsgruppen erprobt, verworfen, aber zum Teil auch erst erfunden wurden. Nicht selten kamen diese später in anderen Randgebieten zum Einsatz. Insofern verspricht der Blick auf die Petersburger Herrschaft im Königreich auch Ein-sichten, die für das zarische Vielvölkerreich insgesamt von Relevanz sind.

5 Der Aufsatz beschränkt sich dabei auf die Petersburger Maßnahmen und ihre programma-tischen Hintergründe im »Königreich Polen«. Der Umgang mit den »westlichen Gouverne-ments« – die Territorien der Gouvernements Kovno, Wilna, Vitebsk, Grodno, Minsk, Mogi-lev, Volyn’, Kiew und Podolia – werden dagegen hier ausgeklammert; zu grundsätzlich unter-schied sich die Petersburger Politik zwischen dem Königreich und den Westgouvernements.

Vgl. zu den »zapadnye gubernii« und den dortigen Russifizierungspolitiken u.a. Daniel BEAU

-VOIS/DEDWDLOOHGHODWHUUHHQ8NUDLQH±/HV3RORQDLVHWOHVFRQIOLWVVRFLRHWKQLTXHV Lille 1993; Mikhail DOLBILOV, Russification and the Bureaucratic Mind in the Russian Empire’s Northwestern Region in the 1860s, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 5 (2004), H. 2, S. 245–272; Anna A. KOMZOLOVA 3ROLWLND VDPRGHUåDYLMD Y

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ler Politiken aus den ersten zwei Dekaden der Nachaufstandperiode in den Blick zu nehmen. Denn bereits in dieser Phase wurde jenes neue Herrschafts-regime etabliert, das bis zum Ersten Weltkrieg Bestand haben sollte (vgl.

Abschnitt 2). Weiterführend soll diskutiert werden, welche Intentionen die imperialen Akteure mit den Reformen in den Bereichen Verwaltung, Recht, Bildung und Wirtschaft verfolgten. Das Hauptaugenmerk der Ausführun-gen liegt hier auf den hochdekorierten Amtsträgern der zarischen Verwal-tungselite, die sowohl im Petersburger Zentrum wie auch in der Periphe-rie selber die Umgestaltung des Weichsellands maßgeblich vorantPeriphe-rieben (vgl.

Abschnitt 3)6. Es gilt des Weiteren, die Selbstentwürfe dieser hohen Beam-tenschaft zu reflektieren und danach zu fragen, wie sie ihr Handeln mit Blick auf den zeitgenössischen Russifizierungsdiskurs verorteten und wel-che Semantiken sie mit dieser Begrifflichkeit verknüpften (vgl. Abschnitt 4).

Diese Selbstbilder der imperialen Akteure leisten zugleich einen Beitrag zur Begriffsgeschichte der »Russifizierung«. Es wird dabei deutlich, wie der Gehalt und die Wertung dieser Terminologie in den Deutungskämpfen einer breiteren Öffentlichkeit verhandelt wurden. Der Aufsatz thematisiert daher abschließend, welche Herausforderungen die kommunikative Dynamik, die die Denkfigur »Russifizierung« in den gesellschaftlichen Meinungsforen entfaltete, für die zarischen Beamtenschaft darstellte (vgl. Abschnitt 5).

Angesichts der regen Debatten, die die Forschung in jüngster Zeit über den analytischen Stellenwert der Kategorie »Russifizierung« geführt hat, und mit Blick auf die zum Teil vehement geäußerte Kritik an deren heuristischem Wert ist es jedoch angebracht, mit einer kritischen Reflexion der Begrifflich-keit zu beginnen.

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Witold RODKIEWICZ, Russian Nationality Policy in the Western Provinces of the Empire (1863–

1905), Lublin 1998; Timothy SNYDER, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lith-uania, Belarus, 1569–1999, New Haven 2003; Darius STALIUNAS, Making Russians. Meaning and Practices of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam 2007; Ricarda VULPIUS, Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbil-dung 1860–1920, Wiesbaden 2005; Theodore R. WEEKS, Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863–1914, DeKalb, Ill. 1996;

Curt WOOLHISER, Constructing National Identities in the Polish-Belarusian Borderlands, in: Ab Imperio 1 (2003), S. 293–346.

6 Nach 1864 bezeichneten die zarischen Autoritäten das Königreich Polen offiziell als »Weich-selland«. Vgl. zu dieser terminologischen Zäsur im Detail den Abschnitt 2 dieses Beitrages.

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1. »Russifizierung«?

Kritische Anmerkungen zu einem problematischen Begriff Es ist in der älteren Literatur gerade auch mit Blick auf die Petersburger Herrschaft im Königreich schnell die Rede von einem umfassenden Russi-fizierungsprogramm gewesen7. Erst seit den 1990er Jahren wird eine der-artige Interpretation kritischer gesehen. Die Forschung betont nun generell die Vielschichtigkeit der Formulierung politischer Optionen und die Wider-sprüchlichkeiten bei der Implementierung von administrativen Maßnah-men in den Peripherien des Reichs. Es gab keinen zentralen master plan in Sachen »Nationalitätenpolitik«, sondern nur ein Lavieren zwischen verschie-denen Konzeptionen von Völkerschaften, Ethnien sowie ihren politischen Zuschreibungen, zwischen ad-hoc-Handlungen, reaktiven Maßnahmen und unterschiedlichen, sich zum Teil ausschließenden Loyalitätsmodellen8. Es gilt, einige dieser kritischen Positionen zu referieren, um sich Klarheit über die Fallstricke des Begriffs der »Russifizierung« zu verschaffen.

7 Vgl. z.B. Stephen D. CORRSIN, Warsaw before the First World War. Poles and Jews in the Third City of the Russian Empire 1880–1914, Boulder, Col. 1989, S. 11; Norman DAVIES, God’s Play-ground. A History of Poland, Oxford 1981, S. 148f.; Hedwig FLEISCHHACKER, Russische Antwor-ten auf die polnische Frage 1795–1917, München 1941, S. 139f.; Arnon GILL, Freiheitskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert. Erhebungen – Aufstände – Revolutionen, Frankfurt a.M. 1997;

Guido HAUSMANN'RNXPHQWDWLRQ%LOGXQJ௘௘$OSKDEHWLVLHUXQJLQ+HQQLQJBAUER u.a. (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Bd. A, Stuttgart 1991, S. 324–376, hier S. 330–332; Enno MEYER, Grundzüge der Geschichte Polens, Darmstadt 1990, S. 67f.; Gotthold RHODE, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, S. 400–409; Eitel Karl ROHR 5XVVLIL]LHUXQJVSROLWLN LP .|QLJUHLFK 3ROHQ QDFK GHP -DQXDUDXIVWDQG ௘௘

Berlin 2003; Günther STÖKL, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 513f.; Piotr S. WANDYCZ, The Lands of Partitioned Poland 1795–1918, Seattle 1974, S. 196.

8 Vgl. die Bemühungen zur Ausdifferenzierung des Begriffs bzw. die Kritik an seinem analyti-schen Gehalt bei DOLBILOV, Russification and the Bureaucratic Mind, bes. S. 245–249; Andreas KAPPELER, The Ambiguities of Russification, in: Kritika. Explorations in Russian and Eura-sian History 5 (2004), H. 2, S. 291–297; Aleksej MILLER, Russifikacija-klassifitsirovat’ i pon-MDW¶>5XVVLIL]LHUXQJNODVVLIL]LHUHQXQGYHUVWHKHQ@LQ$E,PSHULR6±GHUV The Romanov Empire and Nationalism. Essay on the Methodology of Historical Research, Budapest 2008, S. 45–65; Gert VON PISTOHLKORS, »Russifizierung« in den baltischen Provin-zen und in Finnland im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmittel-europa-Forschung 33 (1984), S. 592–606, bes. S. 592–596; RODKIEWICZ, Russian Nationality Policy, bes. S. 29–43; Robert SCHWEITZER, Die »Baltische Parallele«. Gemeinsame Konzep-tion oder zufällige Koinzidenz in der russischen Finnland- und Baltikumspolitik des 19. Jahr-hunderts?, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 33 (1984), S. 551–576, bes. S. 575f.;

STALIUNAS, Making Russians, S. 57–70; Edward C. THADEN, Introduction, in: Ders. (Hg.), Rus-sification in the Baltic Provinces and Finland, 1855–1914, Princeton 1981, S. 3–14, bes. S. 8f.;

ebenso ders., The Russian Government, in: Ebd., S. 15–110, bes. S. 54–59; Theodore R. WEEKS, Defining Us and Them. Poles and Russians in the »Western Provinces«, 1863–1914, in: Slavic Review 53 (1994), H. 1, S. 26–40; ders., Russification and the Lithuanians, 1863–1905, in:

Slavic Review 60 (2001), H. 1, S. 96–114; ders., Russification. Word and Practice 1863–1914,

55 5XVVL¿]LHUXQJ'HSRORQLVLHUXQJRGHULQQHUHU6WDDWVDXIEDX"

Vor allem ist die Kohärenz eines »Russifizierungsprogramms« der Peters-burger Instanzen und ihrer Repräsentanten in den Reichsrandgebieten in Frage gestellt worden. Während sich die lokalen Administratoren an kon-kreten, begrenzten Aufgaben orientierten, bestand im Zarenreich generell ein »Vakuum in der zentralen Politikformulierung«, das gerade auch den 8PJDQJPLWGHQ9|ONHUVFKDIWHQGHV,PSHULXPVEHWUDI௘௘9. Dies ermöglichte, dass sich in unterschiedlichen Räumen des Vielvölkerreichs divergierende Praktiken imperialer Herrschaft und der Verbreitung russischer (administ-rativer oder kultureller) Standards entwickelten. Nur der genaue Blick auf die politischen Maßnahmen und die dahinter stehenden Intentionen zentraler und lokaler Autoritäten vermag daher Auskunft darüber geben, ob und mit Blick auf welche Bereiche von »Russifizierung« gesprochen werden kann10. Dabei ist die Differenz von Programmatiken und Diskursen innerhalb der zarischen Bürokratie und der Öffentlichkeit ebenso zu berücksichtigen wie ihre Interaktion. Denn auch die administrativen Maßnahmen eines autokra-tischen Regimes mussten sich seit den 1860er Jahren immer stärker mit den Anforderungen und auch Anklagen gesellschaftlicher Meinungsträger ausei-nandersetzen und sich zu diesen verhalten. »Russifizierung« konnte dabei als Kampfbegriff sowohl affirmativ von einer sich formierenden nationalen rus-sischen Öffentlichkeit wie negativ konnotiert von kritischen Stimmen in den betroffenen Reichsgebieten in die Debatte eingebracht werden. Es gilt daher, die zeitgenössische Wahrnehmung von politischen Praktiken daraufhin zu befragen, wer wann und mit welchem Ziel von »Russifizierung« sprach. Die diskursive Dynamik trug dabei erheblich zur Ausdifferenzierung der Reichs-gebiete und ihrer spezifischen »Russifizierungsdebatten« bei11. Denn eine

»Russifizierung« erfolgte eben nicht als reine Umsetzung einer Program-matik, sondern nahm erst im lokalen Wechselverhältnis zwischen Agenten

in: PAPS 148 (2004), H. 4, S. 471–489; ders., Managing Empire. Tsarist Nationalities Policy, in:

Dominic LIEVEN (Hg.), The Cambridge History of Russia, Bd. 2: Imperial Russia, 1689–1917, Cambridge 2006, S. 7–44, bes. S. 37–39.

9 SCHWEITZER, Die »Baltische Parallele«, bes. S. 575f. Ähnlich VON PISTOHLKORS, »Russifizie-rung« in den baltischen Provinzen, S. 596; Ronald Grigor SUNY௘௘7HUU\MARTIN, The Empire Strikes Out. Imperial Russia, »National« Identity, and Theories of Empire, in: Dies. (Hg.), A State of Nations. Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 23–66, hier S. 53–56; WEEKS, Nation and State, S. 12–14.

10 Vgl. dazu Aleksei MILLER, Between Local and Inter-Imperial. Russian Imperial History in Search of Scope and Paradigm, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 5 (2004), H. 1, S. 7–26; ders., Russifikacija-klassificirovat’ i ponjat’; ders., The Empire and the 1DWLRQLQWKH,PDJLQDWLRQRI5XVVLDQ1DWLRQDOLVPLQ'HUV௘௘$OIUHG-RIEBER (Hg.), Imperial Rule, Budapest 2004, S. 9–45; MILLER, The Romanov Empire and Nationalism, Kap. »Russifi-cation or Russifi»Russifi-cations?«, S. 45–65.

11 ,QVRIHUQ LVW 0LOOHU ]X]XVWLPPHQ GHU HV IROJHQGHUPD‰HQ IRUPXOLHUW 5XVVLIL]LHUXQJHQ >VLF@

seien zu verstehen als »a whole cluster of various processes and interactions that often dif-IHU>«@LQWKHLULQQHUORJLFDQGQDWXUH©MILLER, The Romanov Empire and Nationalism, S. 45.

Zum Aspekt der Interaktion und Begegnung einer Vielzahl an »agents of russification« vgl.

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und Objekten der Assimilierungspolitik Gestalt an12. In diesen Kommunika-tionssituationen wandelte sich nicht zuletzt auch die Vorstellung der Akteure davon, was denn als »das Russische« zu bezeichnen sei13.

Zugleich ist darauf verwiesen worden, dass zwischen nicht intendierten, freiwilligen sowie zwanghaften Elementen der Assimilierung- und Akkultu-rationprozesse zu unterscheiden ist. Dies drückte sich bereits in der zeitgenös-sischen Begrifflichkeit aus. Während REUXVHQLH und REUXVLW¶das aktive »Rus-sisch-Machen« bezeichneten, standen die Termini REUXVČQLH (ɨɛɪɭɫ ׳ɧɢɟ, mit jat’) und REUXVHW¶eher für eine schrittweise, oft nicht bewusste Wand-lung eines »Russisch-Werdens«. Ein Russifizierungsprozess konnte beides bedeuten und er konnte vor allem auch unterschiedlich weitreichende Folgen für die Selbstverortung der Untertanen haben. Nicht immer waren die iden-titären Grundfesten der Subjekte von den Maßnahmen der imperialen Herr-schaft betroffen. Und eher in Ausnahmefällen stellte die Maßgabe der weit-gehenden Akkulturation überhaupt einen Bestandteil der Agenda staatlicher Akteure dar14.

Edward C. Thaden hat deshalb die begriffliche Differenzierung in »unge-plante«, »administrative« und »kulturelle Russifizierung« angeregt. Wäh-rend Erstere sich im Zuge kultureller Interaktion schrittweise und uninten-diert vollzieht, zielt die »administrative Russifizierung« vor allem auf die Angleichung von Verwaltung, Recht und partiell auch dem Bildungssystem.

Dagegen ist unter einer »kulturellen Russifizierung« ein aktives Programm zur Assimilierung von Nicht-Russen zu verstehen15. Thaden und andere betonen, dass die geplante »kulturelle Russifizierung« als Extremfall zu betrachten sei, der von den Regierungsinstanzen nicht systematisch betrie-ben und nur in gewissen Teilen des Imperiums umgesetzt wurde. Von ihr könne daher nicht als kohärente und langfristig angelegte Politik gesprochen werden16.

auch S. 46–50. Ähnlich auch STALIUNAS, Making Russians, S. 57–70; ders., Did the Govern-ment Seek to Russify Lithuanians and Poles in the Northwest Region after the Uprising of

௘௘"LQ.ULWLND([SORUDWLRQVLQ5XVVLDQDQG(XUDVLDQ+LVWRU\+6±

12 DOLBILOV, Russification and the Bureaucratic Mind, bes. S. 245–249.

13 Ebd., S. 249; MILLER, The Romanov Empire and Nationalism, S. 55f. Es wandelten sich bei-spielsweise die Bestimmungskriterien »des Russischen«. Seine traditionelle Identifikation mit der Orthodoxie wurde durch eine ethnisch-nationale Interpretation herausgefordert. Vgl. dazu KAPPELER, The Ambiguities of Russification, bes. S. 294f.

14 MILLER, The Romanov Empire and Nationalism, S. 50. Vgl. dazu ebenso WEEKS, Nation and State, S. 14.

15 THADEN, Introduction, S. 8f.; ders., The Russian Government, S. 57; ähnlich auch bei WEEKS, Nation and State, S. 16.

16 THADEN, The Russian Government, S. 54–57. Vgl. auch ders., Russia’s Western Borderlands, 1710–1870, Princeton 1984; Michael H. HALTZEL, Der Abbau der deutschen ständischen Selbst-verwaltung in den Ostseeprovinzen Russlands. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen

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Theodore R. Weeks geht mit Blick auf die »westlichen Gouvernements«

sogar einen Schritt weiter und hält grundsätzlich fest, dass eine kulturelle Russifizierung als aktives Projekt, das sich gegen Nicht-Russen richtete, zu keinem Zeitpunkt Teil der offiziellen Regierungspolitik gewesen sei. Zwei-fellos erfolgte eine Privilegierung der russischen Kultur und Sprache sowie auch der Orthodoxie in Verwaltung, Bildung und im öffentlichen Raum. Dies dürfe jedoch nicht mit dem Programm einer forcierten oder gar zwanghaf-ten kulturellen Russifizierung gleichgesetzt werden, da es um eine Domi-nanzmarkierung, aber nicht um die vollständige Verdrängung oder gar Aus-löschung nicht-russischer Kulturen ging17.

Teile der jüngeren Forschung, die sich mit den multiethnischen und -kon-fessionellen Randgebieten des Imperiums befasst, mahnen also zu einem vor-sichtigen Umgang mit dem Begriff der »Russifzierung«. Zudem erscheint ein situativer Ansatz, wie ihn Aleksej Miller angeregt hat, als vielversprechend:

Es ist nur in der komplexen Gemengelage einer spezifischen Reichsregion zu klären, ob und inwieweit die Maßnahmen der zentralen und lokalen Autori-täten auf eine »Russifzierung« abzielten18. Dabei muss die Frage nach den ursprünglichen Intentionen der imperialen Akteure im Mittelpunkt einer sol-chen Analyse stehen. Denn ein solcher Akteursbezug ermöglicht zugleich, den Prozesscharakter Petersburger Eingriffe in die lokale Verfassung von Verwaltung und Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Dies soll im Folgen-den für die zarischen Entscheidungsträger im Königreich Polen vorgenom-men werden. Es gilt, jene Maßnahvorgenom-men zu schildern, mit denen die Petersbur-ger Instanzen und ihre lokalen Repräsentanten auf die Herausforderung des polnischen Januaraufstands reagierten und welche Intentionen sie mit ihren Direktiven verbanden.

2. Imperiale Herrschaft im Königreich Polen nach 1863

Die imperiale Herrschaft St. Petersburgs über den Großteil der ehemaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik dauerte bekanntlich vom Zeitpunkt der Teilungen von 1772, 1793 und 1795 bis zum Rückzug der russischen Armee

LP(UVWHQ:HOWNULHJ௘௘KDWWH=DU$OH[DQGHU,DXIGHP:LHQHU.RQ-fizierungspolitik 1855–1905, Marburg 1977; und ders., Triumphs and Frustrations of Admini-strative Russification, 1881–1914, in: THADEN, Russification in the Baltic Provinces and Fin-land, S. 150–160.

17 Theodore R. WEEKS, Religion and Russification. Russian Language in the Catholic Churches of the »Northwestern Provinces« after 1863, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 2 (2001), H. 1, S. 87–110, bes. S. 89.

18 Zu seinem Plädoyer für einen solchen »situational approach« vgl. MILLER, The Romanov Empire and Nationalism, S. 10–20 u. 211–216.

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gress die Zwangsintegration sanktionieren lassen und zugleich mit dem

»Königreich Polen« HLQHQ5HFKWVVRQGHUEHUHLFKJHVFKDIIHQGHUELV௘௘

Bestand hatte19. Zwar war die Verfassung Kongresspolens nach dem polni- VFKHQ1RYHPEHUDXIVWDQGYRQ௘௘VXVSHQGLHUWZRUGHQXQGKDWWH1LNR-laus I. den Ausnahmezustand in den rebellischen Provinzen auf Permanenz gestellt20. An der grundlegenden administrativen und rechtlichen Sonderstel-lung des Königreichs änderte dies jedoch wenig. Der Petersburger Umgang mit Kongresspolen unterschied sich dabei deutlich von jenen Praktiken, mit denen die zarischen Autoritäten die »westlichen Gouvernements« bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts umgestalteten und forciert an die innerrussischen Verhältnisse anglichen. Denn während diese Westgebiete in der Petersburger Sicht als »ur-russische« Territorien verstanden wurden, blieb das Königreich auch auf der mentalen Landkarte der imperialen Amts-träger ein »fremdes Land«, das zwar Bestandteil des unteilbaren Russländi-schen Imperiums war, aber dennoch als »fremder Boden« wahrgenommen ZXUGH௘21.

19 Zur Einrichtung des Königreichs Polens und seiner inneren Verfasstheit vgl. Ekkehard VÖLKL, Zar Alexander I. und die »polnische Frage«, in: Saec. 24 (1973), S. 112–132; W.H. ZAWADZKI, Russia and the Re-opening of the Polish Question, 1801–1814, in: The International History Review 7 (1985), H. 1, S. 19–44; ders., A Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland, 1795–1831, Oxford 1993. Zu den Teilungen vgl. bes. Michael G. MÜLLER, Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984.

20 1832 hatte Nikolas I. das »Organische Statut« als neues Verfassungsgesetz für das König-reich erlassen, es blieb aber während des von 1833 bis 1856 dauernden Ausnahmezustands außer Kraft. Vgl. dazu sowie zum vorausgehenden Novemberaufstand Norman DAVIES, Heart of Europe. The Past in Poland’s Present, Oxford 2001, S. 142–148; GILL, Freiheitskämpfe der Polen S. 131–188; Jerzy LUKOWSKI௘௘+XEHUWZAWADZKI, A Concise History of Poland, Cambridge 2001, S. 129–141; Hans ROOS, Die polnische Nationsgesellschaft und die Staatsgewalt der Tei-lungsmächte in der europäischen Geschichte (1795–1863), in: JGO 14 (1966), H. 3, S. 388–399.

20 1832 hatte Nikolas I. das »Organische Statut« als neues Verfassungsgesetz für das König-reich erlassen, es blieb aber während des von 1833 bis 1856 dauernden Ausnahmezustands außer Kraft. Vgl. dazu sowie zum vorausgehenden Novemberaufstand Norman DAVIES, Heart of Europe. The Past in Poland’s Present, Oxford 2001, S. 142–148; GILL, Freiheitskämpfe der Polen S. 131–188; Jerzy LUKOWSKI௘௘+XEHUWZAWADZKI, A Concise History of Poland, Cambridge 2001, S. 129–141; Hans ROOS, Die polnische Nationsgesellschaft und die Staatsgewalt der Tei-lungsmächte in der europäischen Geschichte (1795–1863), in: JGO 14 (1966), H. 3, S. 388–399.

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