• Keine Ergebnisse gefunden

Religion als „bridge“ oder „barrier“

Wie in den vorangegangenen Ausführungen illustriert wurde, bestand bei der Betrach-tung der Zusammenhänge zwischen Religion und Integration über viele Jahre hinweg ein scharfer Kontrast zwischen dem nordamerikanischen und dem deutschsprachigen Forschungsparadigma. Pointiert zusammengefasst wurde diese transatlantische Dicho-tomie schließlich durch die von Nancy Foner und Richard Alba (2008) geprägte

„bridge-vs.-barrier“-Metapher, welche die prävalente Sichtweise auf die Zusammen-hänge zwischen Religion und Integration in der Folge stark geprägt hat. Foner & Alba kommen auf Basis der bis dato bestehenden Forschung zu dem Ergebnis, dass in den USA und Kanada vorwiegend die durch Religion und Religionsgemeinschaften beste-henden Integrationsopportunitäten betont wurden, wohingegen sich die soziologische Integrationsforschung in Europa durch eine zurückhaltende und eher skeptische Haltung gegenüber der Religion auszeichne, wobei in erster Linie religiöse Gemeinschaften als Integrationsalternativen thematisiert würden (Foner und Alba 2008, 360f.).

Darüber hinaus interessieren sich Foner & Alba jedoch für die Frage, wie diese konträ-ren Perspektiven zu erkläkonträ-ren seien (2008, S. 374). Ihre Argumentation entwickeln sie dabei vor dem Hintergrund der sogenannten New Assimilation Theory (NAT), die bereits einige Jahre zuvor von Richard Alba in Zusammenarbeit mit Victor Nee als Reaktion auf die Kritik an den bestehenden Theorieansätzen der klassischen Assimilationstheorie (CAT) sowie der Theorie der segmentierten Assimilation (TSA) entwickelt worden war (Alba und Nee 1999; 2003; Alba 2008). Die Neoassimilationisten bauen zur Erklärung von Integrationsprozessen auf dem Konzept symbolischer Grenzziehungen auf. Diese lassen sich zunächst definieren als „conceptual distinctions made by social actors […]

[that] separate people into groups and generate feelings of similarity and group mem-bership” (Lamont und Molnár 2002, 168f.). Ethnie wird nach diesem Verständnis nicht mehr als die Summe askriptiver, starrer und unveränderlicher Persönlichkeitsmerkmale betrachtet, sondern vielmehr als das variable Resultat gesellschaftlicher Grenzziehungs- und Aushandlungsprozesse (Barth 1969; Wimmer 2008). Assimilation wird dann als ein Vorgang verstanden, bei dem ethnische Zugehörigkeitsmerkmale sukzessive ihre sozia-le Salienz für die Distinktion von Individuen oder Gruppen einbüßen (Alba 2008, S.

39). Neu ist an dieser neuen Assimilationstheorie zusätzlich die These, dass Assimilati-on nicht nur über einseitiges, individuelles „boundary crossing“ ablaufen könne, also einer Anpassung ethnischer Zugehörigkeitsmerkmale an die Mehrheitsgesellschaft, wie von der klassischen Assimilationstheorie angenommen, sondern vielmehr als ein

zwei-seitiger Prozess verstanden werden müsse, der Veränderungen auf der Seite der Ein-wanderer ebenso mit sich bringt wie auf der Seite der Aufnahmegesellschaft. Zusätzlich zum boundary crossing könne Assimilation daher auch durch die Verringerung oder sogar Auflösung der symbolischen Trennungslinie entstehen, indem distinktive Merk-male ihre Salienz einbüßen und die Grenze infolgedessen „verschwimmt“ („boundary blurring“), sowie darüber hinaus durch die Verlagerung oder Ausweitung der Grenz-ziehung auf andere Gruppen („boundary shifting“) (Bauböck 2018; Zolberg und Woon 1999).

Religion ist in diesem Prozess von zentraler Bedeutung, da sie ethnische Grenzen ver-stärken oder verwischen kann (Zolberg und Woon 1999; Trittler 2017; Alba 2005). Die unterschiedliche Funktion, die Religion bei Integrationsprozessen in den USA und Eu-ropa einnimmt, lässt sich demzufolge vor allem über ihre variierende Salienz für ethni-sche Grenzziehungen erklären. Laut Foner & Alba (2008, S. 361) seien es in erster Li-nie drei Faktoren, die diese unterschiedliche Salienz diesseits und jenseits des Atlantiks bedingen: erstens eine jeweils unterschiedliche religiöse Zusammensetzung der Zuwan-derungsströme auf beiden Seiten des Atlantiks; zweitens das variierende Ausmaß religi-öser Vitalität bzw. der unterschiedliche Säkularisierungsgrad; sowie drittens die Varia-tion in den historisch gewachsenen Arrangements zwischen Staat und religiösen Institu-tionen. Insgesamt führe dies dazu, dass nationale und kulturelle Identitäten in (West)Europa nach wie vor stark in einem „christlich-okzidentalen“ oder auch „säkular-liberalen“ Selbstverständnis verankert sind, das vor allem in scharfer Abgrenzung ge-genüber „der“ islamischen Welt oder einem damit assoziierten „religiös-traditionellem“

Selbstverständnis steht (Casanova 2006; Alba 2005). Laut Alba (2005, S. 32) führt dies zu einer paradoxen Bedeutung von Religion in den Einwanderungsgesellschaften Euro-pas: Während sich die Gesellschaften ihrem Selbstverständnis nach überwiegend als säkular definieren und darüber hinaus die Religion für die Mehrheit der Bevölkerung keine große Bedeutung mehr besitze, erlangen religiöse Identitäten als Distinktions-merkmale vorwiegend gegenüber Einwanderern aus islamischen Herkunftsländern an besonderem Gewicht: Religion sei in Europa daher „evidently a key institutional site for the demarcation of native-immigrant boundaries“ (Alba 2005, S. 30). Die bereits in der Einleitung dieser Arbeit geschilderten, religionspolitischen Kontroversen des beginnen-den 21. Jahrhunderts werbeginnen-den dabei als Beispiel dafür angeführt, dass in vielen Gesell-schaften Westeuropas, in erster Linie aber in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden eine „bright boundary“ (Alba 2005, 21f.) rings um ein christlich-jüdisches oder auch säkulares Selbstverständnis verlaufe, die vor allem Zuwanderer aus muslimischen Herkunftsländern zu „visible others“ (Zolberg und Woon 1999, S. 7), zu ultimativ Anderen und Fremden werden lasse und deren Integration in diese Gesell-schaften langfristig behindere. Während die USA ein Problem mit einem tief verwurzel-ten „biological racism“ haben, der ethnische Grenzen vorwiegend über die Hautfarbe definiert, sei Europa gekennzeichnet durch einen „anti-Muslim cultural racism“ (Foner und Alba 2008, S. 384). Die Religion, die in den USA eine „Brückenfunktion“ einneh-me, sei in Europa somit eine „Integrationsbarriere“.

Das Verdienst der Neo-Assimilationisten besteht sicherlich darin, dass sie nicht nur auf die besondere Rolle von Religion im Prozess des „ethnic boundary making“ hingewie-sen haben, sondern auch und vor allem in dem Umstand, dass sie die Kontextabhängig-keit der Zusammenhänge zwischen Religion und Integration hervorgehoben haben. Re-ligion kann sich je nach gesellschaftlichen, institutionellen oder regionalen Rahmenbe-dingungen integrationshinderlich oder -förderlich auswirken. Dabei scheinen die Über-legungen zur Rolle von Religion in Grenzziehungsprozessen in Europa vor allem vor dem Hintergrund der „Flüchtlingskrise“ von 2015 aktueller denn je: da ein Großteil der derzeit in Deutschland lebenden Geflüchteten aus muslimisch geprägten Herkunftslän-dern, insbesondere Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammt, kreiste die öffentliche Debatte vielfach um die Frage, ob und inwieweit die Integration von Menschen aus ei-nem „fremden“, in diesem Fall „islamischen Kulturraum“ in das Gebiet des „christli-chen Abendlandes“ gelingen kann (Pickel und Pickel 2019; Hidalgo und Pickel 2019).

Vor dem Hintergrund der aktuellen Fluchtmigration in Deutschland stellt Liedhegener (2019, S. 71) sogar die These auf, „dass es ohne Religion, ohne die Berücksichtigung des religiösen Faktors auf Dauer keine erfolgreiche Integration geben wird“.

Dennoch hat die einflussreiche Metapher der transatlantischen Dichotomie zu einer ge-wissen Simplifizierung und Engführung der Forschung geführt und den Blick dafür ver-deckt, dass es auf beiden Seiten des Atlantiks gegenteilige Entwicklungen gab und gibt.

Vor allem in Deutschland haben qualitative und ethnographische Studien auf die zahl-reichen integrationsförderlichen Aspekte religiöser Gemeinschaften hingewiesen (Nagel 2016, 2015, 2012; Elwert 2015; Baumann 2015). Demgegenüber sind auch in den USA anti-islamische Tendenzen bereits in der Integrationspolitik zu finden, wie etwa an Bei-spiel des 2017 per Dekret vom US-Präsidenten verabschiedeten „muslim (travel) ban“

deutlich wird, der Immigranten und Geflüchteten aus muslimisch geprägten Herkunfts-ländern die Einreise in die USA temporär untersagte. Darüber hinaus wurden innereuro-päische Variationen in der Rolle der Religion nur selten in den Blick genommen (vgl.

hierzu: Trittler 2017, S. 709). Und schließlich muss auch gefragt werden, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist von einer integrationshemmenden Wirkung „der“ Religion zu sprechen, da zumindest im europäischen Kontext vor allem die (des)integrativen Wir-kungen des Islams thematisiert werden.

Religion – so lässt sich schlussfolgern – wirkt sich weder per se in den USA als Brücke in die neue Gesellschaft aus, noch ist eine pauschale Verurteilung als Integrationshin-dernis, wie in Deutschland und Europa hilfreich. Vielmehr muss es die Aufgabe der sozialempirischen Forschung sein, die jeweiligen Bedingungen und Kontexte systema-tisch und differenziert herauszuarbeiten und zu testen unter denen spezifische Religio-nen und Religionsgemeinschaften als „bridge“ oder als „barrier“ fungieren könReligio-nen. Vor allem in diesem Bereich besteht jedoch nach wie vor ein erhebliches Forschungsdefizit.

Erst seit etwa einem knappen Jahrzehnt entstanden vermehrt Forschungsarbeiten, die sich durch ein stärker empirisches, vorwiegend quantitatives man könnte auch sagen:

kausal-analytischen Vorgehen auszeichnen (zum Literaturüberblick: Kogan et al. 2019).

Anders als die ethnographischen Fallstudien zu einzelnen Religionsgemeinschaften oder als die makrotheoretisch argumentierenden Ländervergleiche, verfolgen diese Arbeiten eine mikro-soziologische Perspektive, die Religion als ein soziales Merkmal von Perso-nen operationalisiert, das sich ähnlich wie Ethnie, Geschlecht oder soziale Herkunft je nach situativem „framing“ unterschiedlich auf soziales Handeln auswirken kann Zu diesen Arbeiten lassen sich auch die Rahmen der vorliegenden Dissertation entstande-nen Forschungsarbeiten zählen, die den Inhalt der drei folgenden Kapitel darstellen.

3 Soziale Integration:

Die Entstehung interethnischer Kontakte von