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Relationale Technik- und Organisationssoziologie

In Aachen wird seit einigen Jahren an der Entwicklung einer Relationalen Technik- und Organisationssoziologie gearbeitet. Ziel ist es, die theoreti-schen Implikationen insbesondere von Harrison Whites »Identity and Con-trol« für die Forschungsgegenstände Technisierung und Organisation aus-zuarbeiten. Konkret handelt es sich um das Konzept soziotechnischer Re-lationierungen und das Konzept der Organisation als transitorische Form.

Diese soziologischen Konzepte sind so entwickelt worden, dass sie direkt einer Operationalisierung zugänglich gemacht werden können, da unsere Forschungen in interdisziplinären Kontexten empirisch angelegt sind.

Beide Konzepte gehen von der Prämisse aus, dass nicht Entitäten (also Subjekte, Objekte, soziale Akteure, Gesellschaften) sondern Relationierun-gen und Prozesse den Ausgangspunkt der soziologischen Forschung bil-den. Damit gehen weitreichende Konsequenzen einher – sowohl von theo-retischer als auch empirischer Seite. Soziale Akteure werden ebenso als (fragile) Kompositionen aus Relationierungen aufgefasst wie gesamtgesell-schaftliche Phänomene, Organisationen oder andere soziale Gebilde.

Nimmt man Relationierungen als Explanans, dann stellt sich bei der Be-fassung mit Technisierungsprozessen die Frage, wie die soziotechnische Ver-kopplung zu denken ist, die soziale Akteure und Technik in einem soziotech-nischen Netzwerk instanziiert und positioniert. Anders als die Akteur-Netz-werk-Theorie geht die Relationale Techniksoziologie von der Heterogenität

technischer und sozialer Prozesse aus. Sie bringen jeweils Spezifisches in die Verkopplung mit ein – zum Beispiel die Unermüdlichkeit und Präzision technischer Prozesse und die Kreativität und »mindfulness« (Weick, Sutcliffe 2003) menschlicher Prozesse. Für die Verknüpfung dieser heterogenen Pro-zesse bedarf es einer Verkopplungsinstanz: der Schnittstelle, die in Anleh-nung an Herbert Simon (1994) eine »Welt der Möglichkeiten« eröffnet, in der die Dinge nicht so erscheinen, wie sie sind, sondern sein könnten, und in der eine eigene Logik vorherrscht.

Konkret handelt es sich um die Umstellung auf eine drei- bzw. mehr-wertige Logik (vgl. auch Häußling 2015a): Relationierungen werden auf gleicher Augenhöhe behandelt wie die heterogenen Prozesse, welche sie verkoppeln. Die Logik dieser Relationierungen lässt sich in sachlicher Hin-sicht dahingehend bestimmen, dass Sinnhaftes, insbesondere Ideen einer Verkörperung bedürfen, um über Raum und Zeit hinweg übertragen wer-den zu können. Régis Debray (2003: 149f.) hat dies mit wer-den Begriffen »or-ganisierte Materie« und »materialisierte Organisation« umrissen. Auch digi-tale Prozesse müssen früher oder später auf dem Bildschirm – dem ›user interface‹ – erscheinen. Dabei wird Materie nicht nur so geformt, dass sie zum Beispiel digitale Prozesse zu übertragen im Stande ist. Die Prozesse müssen darüber hinaus designierende Zeichen, Symbole bilden bzw. mit-führen, um als Ankopplungsofferte zu erscheinen. Doch fast bedeutsamer ist das, was hinter dem jeweiligen Interface verschwindet, sich gegenüber den anderen Prozessen abschottet. Die Ausblendung der fremden Kom-plexität erlaubt es zum Beispiel sozialen Akteuren, in den ›Genuss‹ der Funktionserbringung von Technik zu gelangen, ohne diese auch nur an-nähernd verstehen zu müssen. In zeitlicher Hinsicht kommt es zu Relationie-rungen, wenn zunächst Aufmerksamkeit,1 dann eine mit der Verkopp-lungsofferte verknüpfte Verheißung und – im Falle eines Einlassens auf die Offerte – eine Korridorisierung der beteiligten Prozesse eintritt. In sozialer Hinsicht bedeutet Relationierung, dass die Funktion eines Prozesses in eine Form gebracht wird, die in der Logik der adressierten Prozesse formuliert ist. In dieser anderen Logik muss die Funktion als relevant oder bedeutsam bewertet werden, damit es zu einer Verkopplung kommt. Die Letztinstanz für Entscheidungen bilden in einer wertpluralistischen Gesellschaft ästheti-sche Kriterien. Die Verkopplung führt zu einer Verteilung der Entästheti-schei- Entschei-dungen auf technische und soziale Prozesse. Insofern erscheinen Interfaces auch als Entscheidungsarchitekturen, die drohende »Zusammenbrüche«

1 Als ein Changieren zwischen »Irritation und Faszination« (Baecker 2005: 269).

(Winograd, Flores 1989) überbrücken. Diese Charakteristika soziotechni-scher Verkopplungen lassen sich bei Mensch-Maschine-Interaktionen eben-so beobachten wie bei Technisierungsprozessen auf der gesamtgesellschaft-lichen Ebene.

Organisationen sind aus einer Relationalen Perspektive große Katalysato-ren von Entscheidungen als Kontrollprojekte (vgl. Häußling 2015b). Ent-scheidungen lassen sich dabei als »social ambage«2 (White 1992), »cultural ambiguity«,3 »De-coupling«4 oder einer Mischung aus diesen drei Kontroll-formen fassen. Entsprechend dienen sie Organisationen dazu, sich in dem turbulenten Umfeld zu behaupten, in das sie eingebettet sind. Glücken die-se Entscheidungen, dienen sie der Stabilisierung der betreffenden Organi-sation und führen zur Turbulenzsteigerung für das organisatorische Um-feld. Auf diese Weise bieten Organisationen wirkungsvolle Entscheidungs-architekturen. Letztere verteilen Entscheidungen auf soziale, menschliche und technische Entscheidungsträger mit ihren jeweils spezifischen Prozes-sen. Durch das Wirksamwerden einer Entscheidungsarchitektur werden Entscheidungen invisibilisiert: diese verschwinden hinter Organisations-mauern, Pokerfaces bzw. Maschinengehäusen. Routinen, Programme, tech-nische Infrastrukturen, Organisationsmitglieder mit spezifischen Kompeten-zen können so als (vorläufige) Antworten einer Organisation auf drohende Zusammenbrüche ihres Prozessierens gedeutet werden. Sie werden mittels Kontrollprojekten wirkungsvoll miteinander verkoppelt. Entsprechend ist die Arbeitsteilung ein Effekt der Überlagerung von Kontrollprojekten. Die Austarierung und Kalibrierung dieser Kontrollprojekte untereinander lässt sich als ein Prozess der Netzwerkbildung fassen. Prozessual erscheinen Organisationen also als solche Relationierungsvorgänge im Modus der oben genannten drei Kontrolltypen, strukturell gesehen sind sie nichts Anderes als Interfaces.

In Anlehnung an die »extended mind«-Debatte (Clark, Chalmers 1998) kann von »extended organizations« gesprochen werden, weil Organisatio-nen ein Arrangement schaffen, innerhalb dessen sie ihr Umfeld für sich arbeiten lassen. Organisationen greifen zum Beispiel auf bestimmte kogni-tive Fähigkeiten von Menschen zurück, aber auch auf die Präzision von Technik, um Entscheidungen auszulagern. Organisationen tätigen also

2 Das heißt Eingriff auf das vorhandene bzw. knüpfbare Relationengefüge – zum Beispiel Aufbau eines Projektteams.

3 Zum Beispiel die Selbstbeschreibung eines Unternehmens als innovativ.

4 Zum Beispiel Auflösung eines Geschäftsfeldes.

stalterische Eingriffe in ihr Umfeld. Sie saugen – wie Attraktoren – Prozes-se von außen an. Da solche Ein- und Ausgriffe (aufgrund der Einbettungs-konstellationen) immer Rückkopplungseffekte aufweisen, ändern sich auch entsprechend die Organisationen.

Organisationen leisten vor allem eine Verkopplung von Prozessen un-terschiedlicher Skalenniveaus, wobei analytisch (und nicht wertend) zwi-schen einer ›Verkopplung nach oben‹ und einer ›Verkopplung nach unten‹

unterschieden werden kann. Bei ersterer geht es um das Wirksamwerden soziotechnischer Konstellationen unterer Skalenniveaus (zum Beispiel eines F&E-Labors) auf soziotechnische Konstellationen höherer Niveaus.

Insbesondere fallen darunter Innovations- und Diffusionsprozesse und da-mit Veränderungen der Netzwerke höherer Skalenniveaus. Bei der ›Ver-kopplung nach unten‹ geht es um das Wirksamwerden soziotechnischer Konstellationen höherer Skalenniveaus auf Konstellationen niedrigerer Ska-lenniveaus. Hierbei sind insbesondere institutionalisierte Prägungen sowie anderweitige Strukturierungen und damit die Festlegung von Aktivitäts-spielräumen unterer Skalenniveaus gemeint. Modelltheoretisch und analy-tisch lassen sich diese beiden Verkopplungsachsen als Schnittstellenphäno-mene fassen, sodass sie mit dem gleichen Instrumentarium (siehe oben) er-forscht werden können.

Roger Häußling

Literatur

Baecker, D. 2005: Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt am Main:

Suhrkamp.

Clark, A., Chalmers, D.J. 1998: The Extended Mind. Analysis, 58 Jg., 10–23.

Debray, R. 2003: Einführung in die Mediologie. Bern: Haupt.

Häußling, R. 2015a: Design statt Hybrid – Ein Plädoyer für eine dreiwertige rela-tionale Prozesssoziologie. In T. Kron (Hg.), Soziale Hybridität – hybride Sozia-lität. Weilerswist: Velbrück, 61–89.

Häußling, R. 2015b: Vorüberlegungen zu einer Relationalen Organisationssoziolo-gie. In M. Apelt, U. Wilkesmann (Hg.), Zukunft der OrganisationssozioloOrganisationssoziolo-gie.

Wiesbaden: VS, 227–251.

Simon, H. 1994: Die Wissenschaften vom Künstlichen. 2. Aufl., Wien: Springer.

Weick, K.E., Sutcliffe, K.M. 2003: Das Unerwartete managen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Winograd, T., Flores, F. 1989: Erkenntnis Maschinen Verstehen. Berlin: Rotbuch.

White, H.C. 1992: Identity and Control. Princeton: Princeton University Press.