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6 Diskussion

6.1 Die Rekonstruktion der Meinungsbildung

ihnen ergangen ist. Stattdessen sieht man immer wieder die Gestalten, die sich auf-gegeben haben und nur noch „mit einer Pulle Schnaps am Hals“ vor der „Bahnhofs-kneipe“ sitzen und „ewig dieselben Sätze lallen“. In diese Szene fährt nun der „The-rapiezug“ CCSVI, der aus einer völlig anderen Richtung kommt, als die bisherigen Züge, und der eine Fahrt in das paradiesische Ziel „Heilung“ verspricht.

Zunächst beginnen die User, sich so gründlich wie möglich über diesen „neuen Zug“

zu informieren. Bemerkenswert ist hierbei vor allem, dass innerhalb von fünf Stunden Zambonis Originalartikel verlinkt wurde. In den ersten zwei Tagen fällt den Usern auf, dass diese Entwicklung keineswegs neu sei und Franz Schelling aus Österreich in den 80ger Jahren bereits Verfechter der Theorie der venösen MS gewesen ist. In den ersten zwei Tagen wird Schellings Originalartikel verlinkt. Die Patienten scheinen gut informiert zu sein.

Bereits in den ersten Threads zeichnen sich die verschiedenen Meinungen ab. Für manche User ist CCSVI eine vielversprechende Theorie, andere erklären, dass sie ohne umfassendere medizinische Informationen noch keine Aussage treffen können, wobei der fortschreitende Krankheitsverlauf auf eine schnelle Antwort dringe. Wieder andere halten die neue Theorie nur für „eine weitere Sau, die durchs Dorf der MS-Erkrankten getrieben wird“. Um sich der neuen Theorie gegenüber positionieren zu können, beginnen die User, diesen Ansatz mit ihrem eigenen Bezugssystem zu ver-gleichen. Hierbei findet einerseits der Abgleich mit eigenem Wissen (dem medizini-schen Vorwissen und dem medizinisch konstruierten Wissen), zum anderen der Ab-gleich mit den eigenen Erfahrungen statt (dem subjektiven Krankheitsbild, der eige-nen Körperwahrnehmung und den eigeeige-nen Untersuchungsergebnissen).

Im Rahmen der Positionierung treten zwei User besonders in den Vordergrund. „Rici“

als überzeugter Befürworter von CCSVI scheint schon lange auf diesen Therapiean-satz gewartet zu haben. Während die meisten User ihre Positionen im Laufe der Dis-kussion leicht verändern, bleibt er im gesamten untersuchten Zeitraum der überzeug-teste Vertreter der enthusiastischen Position. Ihm lässt sich „Fritz“ gegenüberstellen.

Auch dieser positioniert sich sehr früh im Diskurs als ablehnender User und kritisiert

„Rici“ scharf. Die gesamte Diskussion scheint sich zwischen diesen beiden extremen Positionen zu erstrecken.

An mehreren Stellen werden Kommentare nicht nur auf der inhaltlichen Ebene kriti-siert, sondern einige User greifen andere, die eine von ihnen nicht geteilte Position vertreten, auf persönlicher Ebene an. Besonders deutlich wird dies an den rassis-tischanmutenden Kommentaren gegenüber "Rici", wie sie im Kapitel 5.1.2 dargestellt wurden. Es scheint sich bei den Usern offensichtlich nicht um eine solidarische Schicksalsgemeinschaft zu handeln. Es soll jedoch festgehalten werden, dass dies Diskussionsverhalten nur bei einigen Usern im Forum zu beobachten ist.

Immer wieder baten die Patienten um weitere medizinische Informationen oder for-derten diese ein. Als auch nach drei Monaten noch immer keine neuen Artikel publi-ziert wurden, zeichnete sich zunehmend ein Misstrauen ab. Immer häufiger wurde die Vermutung geäußert, dass verschiedene Parteien (wie beispielsweise die Phar-maindustrie) aus unterschiedlichen Gründen nicht zum Wohl der Patienten entschei-den, sondern die Durchführung von Studien oder die Publikation von Studienergeb-nissen verhindern.

Allerdings treten andere Informationen über die Behandlung von CCSVI in den Vor-dergrund. „Rici“ und „Erika“ planen für alle im Forum deutlich vernehmbar, sich die Venen dilatieren zu lassen. Anstelle von evidenzbasiertem Wissen erlangt Erfah-rungswissen nun im Forum eine besondere Bedeutung.

In einem ersten Anlauf könnte man die Ergebnisse so interpretieren, dass Online-Foren nicht ausschließlich dem Informationsaustausch dienen. Ob sie ein wirksames Instrument auf dem Weg zu einem im Kantschen Sinne mündigen Patienten sind("Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" Kant 1784), wie in zahlreichen Artikeln diskutiert wird(Nettleton et al.; Shaw, Baker 2004; Vera et al. 2012), lässt sich an dieser Stelle nicht mit aus-reichender Sicherheit sagen. Der Mangel an wissenschaftlichen Informationen auf der einen Seite und der durch das Fortschreiten der Erkrankung erzeugte Zeitdruck auf der anderen Seite scheinen die Patienten in ein außergewöhnliches Dilemma zu bringen, in dem Rationalität und Mündigkeit nicht an objektivenMaßstäben gemessen werden können. Interessanter und auch relevanter für die Medizin ist jedoch eine andere Interpretation der Ergebnisse: Bereits in der Darstellung der zeitlichen Abläu-fe der Diskussion im Forum deutete sich eine tiefgreiAbläu-fende möglicherweise

unüber-windbare Dissoziation zwischen der „scientific community“ (der Wissenschaft) und der „lay community“ (der Patientenschaft) an.

6.2.1 Zeitliche Dissoziation

Im untersuchten Zeitraum (Juli bis Dezember 2009) gab es in der Wissenschaft noch keine Forschungsergebnisse, da größere, systematische Studien zur Überprüfung von Zambonis Ergebnissen erst begonnen wurden(Baker 2010).Ein Artikel über die erste verblindete randomisierte Studie, die den tatsächlichen Nutzen einer Venendi-latation gegen eine Placebo-Operation testete, wurde im erst März 2014 veröffent-licht, also mehr als 5 Jahre nach dem untersuchten Zeitraum(Siddiqui et al. 2014).An dieser Stelle lässt sich darüber streiten, ob ein solcher Zeitraum ohne Informationen von wissenschaftlicher Seite normal ist. Einerseits ist es üblich, dass es einige An-laufzeit kostet, bis Wissenschaftler sich einer völlig neuen Theorie annehmen wollen, eine Finanzierung gefunden haben und mit der eigentlichen Durchführung der Studie beginnen können. Andererseits kann man CCSVI möglicherweise auch als Extrem-beispiel bezeichnen, da hier ein Ansatz aus einer Richtung vorgeschlagen wurde, der völlig konträr zu der damaligen Forschung verlief(Laupacis, Slutsky 2010).Im Forum wurde der Zeitraum bis zur ersten umfassenden Überprüfung der CCSVI-Theoriejedoch als sehr lang wahrgenommen. Häufig wurde das Argument geäußert, man habe aufgrund der fortschreitenden Erkrankung keine Zeit zu warten, obwohl die Langwierigkeit wissenschaftlicher Prozesse vielen Usern bekannt war.

Die zeitliche Dissoziation zwischen Online-Realität und Wissenschafts-Realität in Bezug auf die CCSVI-Debatte wurde bereits in anderen Studien für anderen Medien dargestellt. Unter dem Titel „The internet racing ahead of scientific evidence“stellte Fragoso (Fragoso 2011) dar, dass es zu jenem Zeitpunkt weltweit erst 23 wissen-schaftliche Artikel zu CCSVI gab.Die meisten waren Zusammenfassungen, Kommen-tare, Meinungen, Interpretationen und Schmähreden, selten aberBerichte über klini-sche Evidenz für oder gegen CCSVI (Dake et al. 2011). Im Internet fanden sich über CCSVI zu diesem Zeitpunkt bereits über 650.000 Google-Treffer, und es gab über 700 YoutuVideos von erfolgreichen Dilatationen(Fragoso 2011). Fragoso