• Keine Ergebnisse gefunden

4.1 Vorspann

4.1.1 Einführung

Es ist davon auszugehen, dass die Pythaïs-Prozession jedes Mal einer genau festgeleg-ten Route folgte. Dafür geben die aufgefundene Horos-Inschrift zur Pythaïs, aber auch die Strabon-Quelle deutliche Hinweise.1432Auch scheinen die Athener diese ,Heilige Straße‘ nach Delphi alsihreStraße angesehen zu haben: Die Athener hätten die Straße selbst gebaut, und Apollon habe die an der Straße lagernden Übeltäter aus dem Weg geräumt beziehungsweise das vorher dort herrschende Chaos beseitigt und alles Wilde gezähmt.1433

In diesem Kapitel wird die Route rekonstruiert und nachvollzogen, an welchen Sta-tionen die Pythaïs-Prozession Halt machte. In Kapitel 3.2.2 wurde offengelegt, dass es etliche Versionen der mythischen Apollonwanderung gegeben hat, die jeweils von ver-schiedenen Poleis erdacht wurden. Im Folgenden wird es darum gehen, der attischen Version dieser Wanderung auf die Spur zu kommen.

In dem relevanten Zeitraum vom fünften Jahrhundert bis in die Kaiserzeit kam es in Griechenland zu einschneidenden historischen Ereignissen,1434die auch in dem physischen Raum, den die Pythaïs-Prozession durchzog, deutliche Spuren hinterlassen haben. Daher wird in den folgenden Unterkapiteln auch jeweils zu untersuchen sein, welchen Veränderungen einzelne Stationen, Landschaften und Städte unterlagen, die sich auf dem Weg der Pythaïs befanden. So wird anhand der Analyse des Weges der Pythaïs und des sich über die Jahrhunderte verändernden Raumes gleichzeitig auch ein Querschnitt durch die Geschichte der drei hier relevanten Regionen entstehen.

1432 Siehe Kap. 3.2.2 u. Exkurs 2 in Kap. 1.3; siehe auch Chaniotis 1995, 156.

1433 Siehe Aischyl. Eum., V. 13: „κελευθοποιοὶ παῖδες Ἡφαίστου“; Schol. zu Aischyl. Eum., V. 13; Aristeid.

Panath., 363: „τὸ δὲ δὴ καὶ τὴν εἰς Δελφοὺς ὁδὸν ἔργον εἶναι τῆς πόλεως“. Vgl. Kap. 3.2.2.

1434 Zum historischen Hintergrund siehe die Kap. 3.1.3, 3.2.1, 3.2.4, 3.3.3 u. 3.4.

Da wir wissen, dass die Pythaïs-Prozession die gesamte Distanz von Athen nach Delphi zu Fuß beziehungsweise auf Pferden und Wagen zurückgelegt hat und vom See-weg kein Gebrauch gemacht wurde,1435kann die Route durch die drei Regionen Attika, Böotien und Phokis als gesichert angenommen werden, da sie die direkteste Verbindung zwischen Athen und Delphi darstellt.1436Auch war es ganz im Sinne der athenischen Mythologie, dass Apollon von Athen aus direkt nach Delphi gegangen ist, ohne etwai-ge Umweetwai-ge.1437Die zurückzulegende Distanz von Athen nach Delphi betrug etwa 160 Kilometer. Wenn man davon ausgeht, dass die Prozession 20 bis 24 Kilometer pro Tag zurücklegte, dürfte sie für eine Wegstrecke sieben bis acht Tage gebraucht haben. Somit wird das Pythaïs-Ritual insgesamt bis zur Rückkehr der Teilnehmer etwa drei Wochen beansprucht haben.

Die Forschenden, die sich bislang eingehender mit der Pythaïs-Prozession beschäf-tigt haben, haben teilweise auch Hypothesen zur möglichen Route aufgestellt, die die Prozession von Athen nach Delphi nahm. Im Folgenden werden die vorliegenden Weg-hypothesen kurz zusammengefasst; als relevante Forschende sind insbesondere Ernst Curtius1438, Johannes Toepffer1439, Gaston Colin1440, Axel Boëthius1441, Arthur W. Par-sons1442sowie Giovanna Daverio Rocchi1443zu nennen. Die ersten Forschenden gin-gen noch davon aus, dass sich der Prozessionsweg der athenischen Pythaïs mit dem der ursprünglichen tetrapoleischen Pythaïs1444überschnitten hat. Auch hielten sie neben Panopeus, wo der Kampf zwischen Apollon und Tityos stattgefunden haben soll, den Ort Tanagra für eine feste Station auf dem Weg der athenischen Prozession und zo-gen hierfür Pindar als Quelle heran.1445So ließ Curtius die Prozessionsroute von Athen zunächst in den Nordosten Attikas über das Pythion vom marathonischen Oinoë1446, Tanagra1447, von dort weiter durch das Asopostal und über Panopeus1448nach Delphi

1435 Siehe Kap. 3.3.2.

1436 Vgl. die Quellenzitate auf den Seiten 234 bis 237.

Siehe auch den von Nils Hempel verfassten An-hang G zur Rekonstruktion des Prozessionsweges mit Hilfe computergesteuerter Programme.

1444 Die Tetrapolis war ein kultischer Zusammenschluss von vier Orten im Nordosten Attikas. Die Orte wa-ren Marathon, Probalinthos, Trikorythos und Oi-noë. Zur tetrapoleischen Pythaïs siehe Boëthius 1918, 34–46.

1445 Siehe Schol. zu Aischyl. Eum., V. 11: „χαριζόμενος

Ἀθηναίοις καταχθῆναί φησιν ἐκεῖσε Ἀπόλλωνα κἀκεῖθεν τὴν περιπομπὴν αὐτῷ εἶναι. ὁ δὲ Πίνδαρος ἐκ Τανάγρας τῆς Βοιωτίας.“

1446 Dies war einerseits der Anfangspunkt der tetrapolei-schen Pythaïs (Philochoros in Schol. zu Soph. Oid.

K., V. 1047). Außerdem sei bei diesem Oinoë An-drogeos ums Leben gekommen, bei dessen Grabmal die Pythaïs-Prozession sicherlich vorbeigezogen sei, siehe Curtius 1894, 40.

1447 Neben der Berufung auf Pindar sei es außerdem laut Curtius sehr wahrscheinlich, dass die Blitzzeichen auch die Richtung der Prozession mitbestimmt hät-ten; siehe Curtius 1894, 38 sowie Toepffer 1888, 326.

1448 Curtius 1894, 40. Hier ist der Kampf zwischen Apol-lon und Tityos überliefert. Allerdings erwähnt Cur-tius 1894, 38 ebenfalls eine andere Alternativroute, die zunächst mit der ,Hl. Straße‘ nach Eleusis

zu-verlaufen. Toepffer schloß sich der These von Curtius an. Colin veränderte diese Weghy-pothese dahingehend, dass er als erste Station das Pythion bei Daphni1449annahm. Von dort sei die Prozession möglicherweise nordwärts über Acharnai1450weiter nach Tana-gra1451gezogen, um dann weiter der Route der tetrapoleischen Pythaïs über Panopeus zu folgen.

Mit Boëthius hat sich eine entscheidende Zäsur in der Erforschung des Prozessi-onsweges eingestellt, da er überzeugend dargelegt hat, dass die tetrapoleische und die athenische Pythaïs deutlich voneinander zu trennen sind.1452Aufgrund dieser Tatsache bestand nun kein Grund mehr, die athenische Pythaïs durch die Tetrapolis ziehen zu las-sen, worin ihm die späteren Forscher gefolgt sind. Da Boëthius außerdem zeigte, dass die Tötung des Androgeos1453beim Oinoë am Kithairon und nicht beim tetrapoleischen Oi-noë stattgefunden haben muss, kam er zu folgender Route: Athen – Pythion bei Daphni – Eleusis – Oinoë – Eleutherai – Theben – Delphi.1454Auf weitere Zwischenstationen ab Theben ging er nicht ein.

Für Parsons stand das Pythion bei Daphni als einzige Station der gesamten Weg-strecke wirklich fest. Von dort sei der Zug wahrscheinlich über Phyle im Parnesgebirge und Theben nach Delphi gezogen, da dieser Weg einerseits während der türkischen Be-satzungszeit die üblicherweise benutzte Verbindung zwischen Athen und Theben war, andererseits die Prozession so zunächst in die Richtung der zuvor beobachteten Blitze gezogen sei.1455

Rocchi hat für den attischen Teil der Wegstrecke die Version von Boëthius über Eleusis und Eleutherai übernommen.1456Beim böotischen Teil ging sie nicht ins Detail, da man über diesen Abschnitt nichts Genaues wisse. Für den phokischen Teil führte sie drei Möglichkeiten an: Entweder habe der Zug die südliche Wegstrecke über Stei-ris und Ambrysos nehmen können oder die westliche über Theben, Lebadeia und das

sammengefallen wäre, dann über die Kithaironpässe nach Böotien und weiter über Lebadeia nach Del-phi geführt hätte.

1449 Colin 1905, 170.

1450 Als Beleg dafür führt Colin folgende Textstellen bei Athen., 6, 234–235 an: „Θύειν τῷ Ἀπόλλωνι το-ὺς Ἀχαρνέων παρασίτους.“ u. 235c: „Τὸν δ’ ἑκτέα παρέχειν εἰς τὰ ἀρχεῖα τῷ Ἀπόλλωνι τοὺς Ἀχαρ-νέων παρασίτους ἀπὸ τῆς ἐκλογῆς τῶν κριθῶν.“

Diese Textstellen belegen, dass es einen Verein der παράσιτοιin Acharnai gegeben hat, der Apollon verehrt hat. Ich sehe jedoch keinen Anlass, des-halb auf einen Zusammenhang mit der Pythaïs-Prozession und der von ihr genommenen Wegroute zu schließen.

1451 Colin führt für die Station Tanagra – wie schon

Cur-tius und Toepffer – das Pindar-Zitat bei Schol. zu Aischyl. Eum., V. 11 an.

1452 Boëthius 1918, 34–46.

1453 Zum Androgeos-Mythos siehe S. 234–235.

1454 Boëthius 1918, 47–50.

1455 Parsons 1943, 238. Das Argument der Blitzzeichen hatte bereits Curtius genannt, siehe Anm. 1447.

1456 Rocchi 2002, 151. Das Pythion von Daphni erwähnt Rocchi ebenfalls, allerdings bezeichnet sie es als

„Pythion ai Rheitoi”. Die zwei Rheitoi-Seen befin-den sich aber ein gutes Stück weiter die ,Heilige Straße‘ hinunter als die Stelle, wo heute das Kloster steht und welche unbestritten als der Platz ange-nommen wird, wo sich einmal das Heiligtum des Apollon befunden hat, siehe Rocchi 2002, 151.

heutige Arachova oder aber die nördliche über Chaironeia, Panopeus und Daulis.1457 Rocchi entschied sich für die dritte Variante, ohne allerdings ihre Entscheidung weiter zu begründen.

Die genannten bisherigen Vermutungen zum Weg der Pythaïs-Prozession gilt es zu überprüfen, um schließlich eine eigene Hypothese diesbezüglich aufzustellen. Dafür werden alle zur Verfügung stehenden Quellen und Hilfsmittel – sowohl die antiken Texte wie auch moderne Landschaftsuntersuchungsmethoden1458– herangezogen und ausgewertet werden.

4.1.2 Die Quellen

Zu allererst sind alle diejenigen Quellen heranzuziehen, die über die attische Version der Apollonwanderung Auskunft geben. Hierfür ist zunächst auf das in Kapitel 3.2.2.1459 bereits Gesagte zurückzugreifen. So steckt Aischylos in seinenEumeniden1460die grobe Route Apollons von Delos über Athen nach Delphi ab; der dazugehörige Kommen-tar1461bestätigt diesen Weg als athenische Version. Der Limenios-Hymnos1462, der ei-gens für eine Pythaïs-Prozession in hellenistischer Zeit komponiert wurde, benennt die-selbe Route.1463

Die Strabon-Quelle1464, die ebenfalls bereits in Kapitel 3.2.2 herangezogen wurde, benennt außerdem eine erste Station zwischen Anfangs- und Endpunkt der Wanderung.

In demselben Abschnitt nämlich, in dem Strabon das Pythaïs-Ritual beschreibt, führt er weiter aus, dass Apollon in der phokischen Stadt Panopeus den Übeltäter Tityos getötet habe.1465Hier kommt erneut das „reinigende Element“1466, die Beseitigung von Gefah-ren und Übeltätern auf Apollons Wanderung, eindeutig zum Zuge. Auch von andeGefah-ren Quellen wird die Tötung des Tityos in Panopeus bezeugt.1467

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass auch die sogenannten Thyiaden, d.h. attische Frauen, alle zwei Jahre zu Ehren des Dionysos von Athen nach Delphi

zo-1457 Rocchi 2002, 152. Mir ist nicht ersichtlich, warum sie Variante 2 von Variante 3 trennt, da sich beide Wegrouten wunderbar zu einer ergänzen lassen.

1458 Die landschaftsarchäologischen Untersuchungen zur Pythaïs-Prozession wurden von dem Archäo-logen Nils Hempel durchgeführt und sind im An-hang G näher beschrieben, der diesem Buch bei-gefügt ist.

1459 Siehe S. 124–128.

1460 Aischyl. Eum., V. 9–14.

1461 Schol. des Cod. Medic. zu Aischyl. Eum., V. 11.

1462 FdD III 2, 138. Siehe Kap. 3.3.7.

1463 Einige Forscher haben in der Formulierung Käppel,

Pai. 46 V. 13/14: „[…]ἐπὶ γαλ[όφωι πρῶνι] Τριτω-νίδος·“ einen Beweis dafür sehen wollen, dass die Apollon geweihte Grotte unterhalb der Akropo-lis Startpunkt der Pythaïs gewesen sei, siehe dazu Kap. 4.2.2.

1464 Strab., 9, 3, 12.

1465 Siehe detaillierter hierzu Kap. 4.5.2. Auch wird die Tötung des Tityos im Limenios-Hymnos erwähnt (siehe Kap. 3.3.7).

1466 Auch den Athenern sowie dem Heros Theseus wur-de diese ,Reinigungsaktion‘ zugeschrieben. Siehe Kap. 3.1.2 u. Kap. 3.2.2.

1467 Siehe Kap. 4.5.2.

ÄHNLICHE DOKUMENTE