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3 Sucht aus psychoanalytischer Sicht

3.2 Das Suchtmodell von Voigtel

3.2.1 Psychische Voraussetzungen der schweren Sucht

Die strukturelle Ich- bzw. Selbstschwäche der Süchtigen führt Voigtel auf eine frühe affektive Beziehungsstörung zwischen dem Kleinkind und seinem Primärobjekt (der ersten Bezugsperson, also häufig der Mutter) zurück (ebd., S. 135ff). Diese dyadische Beziehung war bei schwer Süchtigen dadurch gekennzeichnet, dass das Bezugsobjekt nicht affektiv auf das Kind bezogen war und als unzureichend ‚gut’ erlebt wurde, weil es entweder emotional gleichgültig oder unterschwellig feindselig war, oder weil es das Kind nicht halten und begrenzen konnte bzw. wollte, oder weil es dem Kind unter allen Umständen seinen eigenen erwachsenen Willen aufzwingen wollte (vgl. Kapitel 3.2.3).

In allen drei Fällen wurden die affektiven Bedürfnisse und Signale des Kindes von der Bezugsperson missachtet.

Besonders in den ersten Lebensmonaten ist das Kleinkind auf eine affektive Steuerung durch ein äußeres haltendes und begrenzendes Objekt angewiesen, da es noch keine aus-reichenden psychischen Strukturen entwickelt hat, um diese Affektregulation selber zu übernehmen (Voigtel, 2001, S. 137ff). Intensive Affekte des Kindes müssen von der Bezugsperson moduliert werden, was bedeutet, dass diese z.B. dafür sorgen muss,

„Anlässe für übermäßig starke und langandauernde Furcht (...) oder für Ärger, aber auch für Überraschung und Neugier, die beim Säugling in Überforderung umschlagen“, zu vermeiden bzw. zu beseitigen (ebd., S. 140). Nur wenn eine „verläßliche Regulation von außen“ stattfindet, wenn also eine Überforderung des Säuglings von dem Bezugsobjekt erkannt und in der Mehrzahl der Fälle frühzeitig für Beruhigung und Hilfe gesorgt wird, kann das Kind Vertrauen aufbauen und zunehmend längere Zeitspannen und ein stärkeres Ausmaß an Frustrationen oder „Affektüberflutung“ aushalten. Es verliert so die Angst vor den Affektspannungen und kann sie „als ‚guten’ (im Sinne von integrierbaren) Teil seines Selbst erleben“ (ebd., S. 140). Bei ausreichender Steuerung durch ein affektiv bezogenes Objekt kann sich das „vorsprachlich gefühlte ‚Kernselbst’“ des Kindes entwickeln, das sich aus den Vorläufern der späteren Selbst- und Objektrepräsentanzen34 zusammensetzt (ebd., S. 139f). Bei einem wiederholten Ausbleiben der äußeren Regulation kann der Säugling keine „positive Affektivität“

entwickeln: Es entsteht ein „nicht lokalisierbares ganzheitliches Unbehagen“; die nicht

34 Selbst- und Objektrepräsentanzen sind in der psychoanalytischen Theorie innere Vorstellungen von sich selbst und den Objekten. Diese können nach Erkenntnissen der modernen Säuglingsforschung erst ab dem zweiten Lebensjahr entstehen, da die Symbolisierungsfähigkeit vorher nicht ausreichend ausgebildet ist (Voigtel, 2001, S. 138, in Anlehnung an Lichtenberg, 1991, S. 51ff;; Stern, 1985, S. 354f; Dornes 1993, S. 69ff, u.a.)

modulierten Affekte können nicht in das Selbst integriert werden und werden schließlich gefürchtet bzw. vermieden (ebd., S. 140).

Auch in seiner weiteren Entwicklung bleibt das Kleinkind auf den affektiven Kontakt mit seiner Bezugsperson angewiesen, um die notwendigen Entwicklungsschritte der

„verschiedenen Individuations- und Annäherungsphasen“ affektiv bewältigen zu können: Es muss sowohl Trennungsangst, als auch die Angst vor Verschmelzung bzw.

davor, die eigene Identität zu verlieren, und Wutaffekte gegenüber der Mutter, von der es sich „quälend abhängig fühlt“, aushalten (ebd., S. 143, in Bezug auf Mahler u.a., 1980, S. 101ff). Wenn das Kind in dieser Phase unzureichend emotional begleitet wird, wird es „Affektquantitäten ausgesetzt, die es nicht ertragen kann, unter denen seine unreife Affektregulierung zusammenbricht“, was dann später auch zu selbstreflexiven Affekten der Scham für die eigene Hilflosigkeit und Unfähigkeit und der Schuld für die Wutaffekte, die sich gegen das ‚böse’ Objekt richten, führt (ebd., S. 143).

Bei vielen der zur schweren Sucht prädisponierten Menschen geht Voigtel von einer lange anhaltenden affektiven Beziehungsstörung bzw. einem wiederholten Ausbleiben der äußeren Affektregulation und einer damit verbundenen „Reizüberflutung“ bereits in der präsymbolischen Entwicklungsphase (die sich über die ersten zwei Lebensjahre des Kleinkindes erstreckt) aus (ebd., S. 141f, 146). Das Kind kann nur ein schwaches Kernselbst mit einer geringen Affekttoleranz entwickeln und bleibt „hintergründig ängstlich sowie passiv-hilflos“ (ebd., S. 146). Aufgrund der mangelhaften affektiven Rückversicherung durch das Bezugsobjekt bleibt das Kind in Bezug auf die eigenen Affekte unsicher und „erlebt sie und die sie auslösenden Ereignisse der Umwelt als bedrohlich“ (ebd.). Dies erklärt, warum Süchtige häufig als „beziehungsgestört, als affektiv undifferenziert bzw. regrediert, (...) als selbstunsicher oder selbsthassend und ich-schwach“ beschrieben werden (ebd., S. 141f).

Die nächste Entwicklungsphase, in der sich die Fähigkeiten der Symbolisierung ent-wickeln sollte, beginnt im Verlauf des zweiten Lebensjahres (ebd., S. 148). Ungefähr ab dem dritten Lebensjahr nimmt das Kind bei einer positiven affektiven Begleitung durch ein begrenzendes, haltendes und fürsorgliches Selbst-Objekt35 die Vorstellung dieses Objekts und seiner Beziehung zu ihm in sich auf. Es entstehen in ihm innere Vorstellungen von sich selbst und den Objekten, bzw. „eine (vom Objekt) ‚gehaltene’

Selbstrepräsentanz und eine (auf das Selbst) ‚bezogene’ Objektrepräsentanz“ (ebd., S. 189). Durch die Verinnerlichung dieser Repräsentanzen, aus denen sich das Ich bzw.

das Selbst zusammensetzt, wird das Kind fähig, Funktionen wie die Affektregulation, die Selbsttröstung und die Selbstberuhigung, die vorher das äußere Objekt gesteuert hat, zunehmend selber zu übernehmen.

35 Unter Selbst-Objekt wird nach Kohut ein Objekt verstanden, das dem Kind zur Verfügung steht und seine Bedürfnisse nach Spiegelung, Anerkennung und Sicherheit befriedigt. In der kindlichen Entwicklung gibt es eine Phase, in der die Bezugsobjekte als Selbst-Objekte zur narzisstischen Stabilisierung benötigt werden, da das Kind diese Selbstbestätigung und Selbstregulierung noch nicht selber übernehmen kann (Kohut, 1997, S. 19, 45, 129f).

Bei den zur schweren Sucht prädisponierten Menschen ist neueren psychoanalytischen Suchttheorien zufolge insbesondere diese Internalisierung einer fürsorglichen Objekt-repräsentanz aufgrund mangelnder einfühlender Begleitung durch ein Bezugsobjekt nicht gelungen. Das Objekt wurde als so abwesend, unkonturiert oder ängstigend erlebt, dass es von der Selbstrepräsentanz ferngehalten werden musste und so nicht in die eigene Psyche integriert werden konnte (Voigtel, 2001, S. 21ff).

Die Folge ist, dass bei den Süchtigen das frühe ‚allmächtige Objekt’ nicht durch eine reifere Objektrepräsentanz abgelöst werden konnte und somit die frühkindliche Vorstellung aufrechterhalten wurde, dass allein das äußere Bezugsobjekt für die eigenen guten oder schlechten Gefühle verantwortlich ist (Burian, 1994, S. 62). Die Selbstrepräsentanz und das Ich des Süchtigen konnten also nicht durch die Integration eines ‚guten Objekts’ gestärkt werden und eine relative Unabhängigkeit vom äußeren Objekt erreichen (Krystal und Raskin, 1983, S. 52):

„Indem er die heilende, fürsorgliche Mutter aus seiner Selbst-Identität entfernte, hat er einen wichtigen Teil der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Fähigkeiten verloren, sich selbst zu erhalten, zu heilen und zu trösten, sich anzuerkennen und zu akzeptieren“ (ebd., S. 71).

Dadurch entsteht bei Süchtigen eine starke Abhängigkeit von äußerer narzisstischer Zufuhr bzw. von äußeren Objekten (Voigtel, 2001, S. 22):

„Unter der Voraussetzung der Selbstschwäche und der heftigen Gier nach einem ‚guten Objekt’, das aber nicht in der eigenen Seele angesiedelt sein kann, ergibt sich die Abhängigkeit von den guten Seiten realer, im Außen existierender Menschen“.

Gleichzeitig wird jedoch der Kontakt zu anderen Menschen vermieden, da die

„Selbstschwäche, die Angst vor den eigenen Gefühlen“ und die Unfähigkeit, diese zu kommunizieren, zu Hilflosigkeit und Scham führen und „zwischenmenschlichen Kontakt generell qualvoll erscheinen“ lassen (ebd., S. 126). Darüber hinaus sind Frustrationen und Enttäuschungen im Kontakt zu den Mitmenschen oft unvermeidbar, da an diese unerfüllbar hohe Wünsche gestellt werden, „versorgt (…) und einfühlend verstanden und geachtet zu werden“. Sie sollen die das Selbst stärkende narzisstische Zufuhr liefern, die in der frühen Kindheit schmerzlich vermisst wurde (ebd.).

Die hier beschriebenen Entwicklungsstörungen gelten in diesem Ausmaß lediglich für die schwere Sucht. Sie sind nicht nur darauf zurückzuführen, dass das erste Bezugsobjekt unzureichend für die psychische Entwicklung des Kindes zur Verfügung stand, sondern auch darauf, dass keine Triangulierung im Sinne einer alternativen Beziehungserfahrung möglich war, die die Beziehungsstörung in der frühen Dyade zwischen dem Kleinkind und seinem primären Bezugsobjekt hätte modifizieren können (Voigtel, 2001, S. 159, 169, 175).

3.2.2 Psychodynamik der Sucht