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1. EINLEITUNG UND THEORETISCHER HINTERGRUND

1.4. Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen

1.4.2. Prosoziales Verhalten

Prosoziales Verhalten kann definiert werden als freiwilliges intrinsisch motivier-tes Verhalten, das einen beabsichtigten Nutzen für eine andere Person oder mehrere andere Personen mit sich bringt (Eisenberg et al., 2015; Grusec, Davidov & Lundell, 2002). Hinsichtlich der Frage, welche Verhaltensweisen von Schülern darunter subsu-miert werden können, haben Warden und Kollegen (1996, 2003) ebenso wie für antiso-ziales Verhalten Schüler, Eltern und Lehrer nach den Inhalten von prosozialem Verhal-ten befragt. Dabei entstanden die Kategorien „Teilen“, „Helfen“, „Kümmern“ und „In-tegrieren“, die gut die Bereiche widerspiegeln, die sich auch ansonsten häufig in der Literatur wiederfinden (siehe z.B. Eisenberg et al., 2015). Prosoziales Verhalten ist von zweifelsfreier Wichtigkeit. Es geht für das Individuum selbst einher mit positiven sozia-len, akademischen und psychologischen Folgen (Bandura et al., 1999; Caprara, Barbaranelli, Pastorelli, Bandura & Zimbardo, 2000; Miller et al., 2015). Die im Unter-kapitel zu antisozialem Verhalten beschriebene Untersuchung von Wentzel (1993) un-tersuchte ebenso das durch Klassenkameraden eingeschätzte prosoziale Verhalten. Es zeigten sich wiederum bedeutsame, hier positive, Zusammenhänge mit dem Ansehen beim Lehrer (r = .30), dem akademischen Verhalten (r = .43) sowie der akademischen Leistung (r = .54), wobei letzterer Zusammenhang auch durch das akademische Verhal-ten vermittelt wurde. Zudem wird prosoziales VerhalVerhal-ten insbesondere als zentraler Pfei-ler für das Bestehen menschlicher Gesellschaften gesehen, da es fortgeschrittene For-men der Kooperation ermöglicht, die bei keiner anderen Spezies zu finden sind (Falk, Fehr & Fischbacher, 2003; Fehr et al., 2008).

In den ersten Lebensjahren ist die Entwicklung von prosozialen Verhaltenswei-sen stark an die Entwicklung der Bewusstheit über die eigene Person und andere Perso-nen sowie die Sprachentwicklung geknüpft (Hoffman, 2000). Wenngleich simple For-men des prosozialen Verhaltens bereits bei ganz jungen Kindern zu beobachten sind, entwickeln sich Voraussetzungen für prosoziales Verhalten vom Beginn des zweiten bis hin zum vierten Lebensjahr zunehmend, sodass auch die Umsetzung von prosozialem Verhalten stark ansteigt (siehe dazu Eisenberg et al., 2015).

Vom Vorschulalter an bis ins Schulalter hinein ergibt sich eine Zunahme proso-zialen Verhaltens (Fabes & Eisenberg, 1998). Dies steht auch in Einklang mit den Be-funden zu fairem Verteilungsverhalten in Entscheidungsspielen, wobei in diesen expe-rimentellen Studien gleichzeitig deutlich wird, dass auch das Motiv, von anderen als

prosozial oder fair wahrgenommen zu werden, stärker wird (Benenson, Pascoe &

Radmore, 2007; Fehr et al., 2008; Shaw et al., 2014). Ebenso scheint auch die Selektivi-tät der Ausführung von prosozialem Verhalten zu steigen, da dieses sich zunehmend auch an Regeln, Rollenbildern sowie Gruppenzugehörigkeiten orientiert (Eisenberg et al., 2015; Hay & Cook, 2007; Weller & Hansen Lagattuta, 2013). Die grundsätzliche Zunahme an prosozialem Verhalten im Laufe der Kindheit wird häufig mit der Zunah-me an soziokognitiven Fähigkeiten wie der zur PerspektivübernahZunah-me oder der zur Ab-schätzung von Bedürfnissen anderer (Hoffmann, 2000) sowie der Moralentwicklung (Gummerum, Hanoch, Keller, Parsons & Hummel, 2010; Hoffman, 2000; Kohlberg, 1981) in Verbindung gebracht. Für spätere Entwicklungsphasen ist die Forschung hin-sichtlich Zu- oder Abnahmen an prosozialem Verhalten weniger eindeutig (Fabes &

Eisenberg, 1998). Einige Studien geben jedoch Hinweise darauf, dass das Ausmaß pro-sozialen Verhaltens in der Adoleszenz (ca. 13 bis 17 Jahre) leicht zurückgeht und im frühen Erwachsenenalter wieder zunimmt (Carlo, Crockett, Randall & Roesch, 2007;

Luengo Kanacri, Pastorelli, Eisenberg, Zuffianò & Caprara, 2013). Geschlechtsunter-schiede zugunsten von Mädchen lassen sich auch für prosoziales Verhalten finden, wenngleich diese weniger eindeutig als für antisoziales Verhalten zu sein scheinen (Fabes & Eisenberg, 1998).

Zur Erklärung von prosozialem Verhalten werden vergleichbare Bereiche wie zur Erklärung antisozialen Verhaltens herangezogen (vgl. Eisenberg et al., 2015; Eisner

& Malti, 2015). Zusätzlich wurden intensive Überlegungen dahingehend angestrengt, wie prosoziales Verhalten trotz möglicher Kosten für den Einzelnen evolutionär als Phänomen bestehen konnte. Dabei werden als Erklärungen der Nutzen durch Reziprozi-tät, Erhaltung des Genpools bei der Hilfe für Verwandte sowie das erfolgreichere Über-leben von kooperativen versus unkooperativen Gruppen angeführt (Nowak, 2006). Wei-terhin wurden Zwillingsstudien durchgeführt, um den genetischen Anteil an prosozia-lem Verhalten abzuschätzen. Bei relativ hoher Inkonsistenz der verschiedenen Studien kann im Mittel von ungefähr 30 bis 60% vererbtem Anteil der Prosozialität ausgegan-gen werden (was in etwa den Zahlen für das antisoziale Verhalten entspricht; vgl. Eisner

& Malti, 2015; Moffitt, 2005). Dieser substantielle (und damit vielleicht überraschend hohe) erbliche Anteile geht mit dem Befund einher, dass auch für prosoziales Verhalten kindliche Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften, die wiederum biologisch determiniert sind, einen wichtigen Einfluss auf das Verhalten von Heranwachsenden

haben. Selbstregulatorische Aspekte wurden als ein bedeutsamer Einfluss gefunden, da Kontrollmechanismen es ermöglichen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen und die an-derer zu erkennen. Kindliche Gehemmtheit ist mit weniger prosozialem Verhalten, ins-besondere gegenüber Fremden, verbunden (Eisenberg et al., 2015). Hinsichtlich Traits der Persönlichkeit wurde neben Verträglichkeit, die mit sozialer Anpassung in Verbin-dung steht, auch Extraversion als bedeutsam identifiziert. Vor allem lässt dieser Trait Rückschlüsse darüber zu, wann prosoziale Verhaltensweisen ausgeführt werden, näm-lich bei hoch-extravertierten Personen eher dann, wenn noch weitere Personen anwe-send sind (Eisenberg et al., 2015; Matthews et al., 2006). Der Persönlichkeitstrait Ehr-lichkeit-Bescheidenheit wurde mit Blick auf das prosoziale Verhalten von Kindern und Jugendlichen bis dato noch nicht untersucht.

Wie auch für antisoziales Verhalten, finden sich wichtige Entwicklungshinter-gründe für prosoziales Verhalten in der Familie und in der Schule. Als prädiktiv haben sich die elterliche Wärme und die damit verbundene positive Eltern-Kind-Beziehung erwiesen (Carlo, Mestre, Samper, Tur & Armenta, 2011; Nickerson, Mele & Princiotta, 2008; Yoo, Feng & Day, 2013). Daneben sind die regelmäßige Betonung von prosozia-len Werten, die Benennung von Gründen für prosoziales Verhalten sowie das modell-hafte Ausführen von derartigen Verhaltensweisen positive Einflussfaktoren (Eisenberg et al., 2015). Außerfamiliäre Einflüsse auf die Entwicklung von prosozialem Verhalten wurden seltener untersucht, sind jedoch gleichsam bedeutend. Wie in Kapitel 1.2 darge-stellt, ist die Schule ein bedeutender Sozialisationskontext. Hinsichtlich prosozialen Verhaltens zeigten sich erneut eine warme, konfliktfreie Lehrer-Schüler-Beziehung als bedeutender Faktor (Eisenberg et al., 2015; Wentzel, 2009). Barry und Wentzel (2006) zeigten einhergehend damit, dass die Beziehung zu den Mitschülern die zweite wichtige Beziehungsform in der Schule ist, den Einfluss des prosozialen Habitus eines Freundes auf eigene prosoziale Absichten, insbesondere dann, wenn die Beziehung besonders eng ist. Darüber hinaus ist nicht nur die Bindung an die Personen, sondern auch an die Schu-le als Institution von Bedeutung (Batanova & Loukas, 2012).

Auch bei prosozialem Verhalten kann die Frage danach gestellt werden, welche Erklärungen für eine grundsätzlich prosoziale Tendenz gelten, und welche für aktuelles prosoziales Verhalten. Eindeutige Zusammenhänge mit dem aktuellen prosozialen Ver-halten lassen sich in der Empathie und Sympathie für die andere Person finden. Ergeb-nisse, die die tatsächliche Situation betreffen, sind in der aktuellen

(entwicklungspsy-chologischen) Literatur jedoch rar (Eisenberg et al., 2015). Ältere Studien zeigten ent-stehende Kosten und Nutzen sowie Charakteristika einer hilfsbedürftigen Person als relevante situative Aspekte auf (Eisenberg & Fabes, 1998). So stellt es auch für das pro-soziale Verhalten eine wichtige Aufgabe der aktuellen Forschung dar, relevante Situati-onen für prosoziales Verhalten zu identifizieren und das Zusammenspiel aus überdau-ernderen Faktoren sowie aktuellen Situationsmerkmalen zu untersuchen (Eisenberg et al., 2015).

Dieses Kapitel stellt den Abschluss der allgemeinen theoretischen Grundlage dieser Dissertation dar. Es beschreibt das antisoziale und prosoziale Verhalten von Her-anwachsenden, von denen das antisoziale Verhalten bis dato in der Forschung stärker beachtet wurde. Antisozialität und Prosozialität können dabei aus dem Blickwinkel des sich entwickelnden Individuums betrachtet werden oder mit Blick auf ein spezifisches Verhalten. In jedem Fall spielt die Wechselwirkung aus personeninternen und perso-nenexternen Einflüssen eine entscheidende Rolle, sodass die Konzepte, die in den Kapi-teln 1.1, .1.2 und 1.3 beschrieben wurden, genutzt werden können, um das Sozialverhal-ten von Kindern und Jugendlichen zu erklären.

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Fragestellung