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1.1 Stress und Stressbewältigung

1.1.3 Proaktives Coping nach Schwarzer

In den letzten Jahrzehnten hat die Bewältigung psychischer Belastungen in der Forschung zahlreiche Konzeptualisierungen erfahren. Neben den Ansätzen von Hobfoll (1998), Holmes & Rahe (1967) erweisen sich die prozeßorientierte Betrachtung von Lazarus (1966, 1991) und Konzepte, die stärker auf Bewältigungsdispositionen ausgerichtet sind, als die fruchtbarsten Ansätze.

Leitend hierbei ist der Versuch, die verschiedenen Formen von Stressbewältigung zu systematisieren und übergeordnete Dimensionen zu identifizieren.

Beispielsweise wird bei Lazarus das problemorientierte vom emotionsorientierten Coping unterschieden. Die klassischen Versuche, solche Dimensionen zu finden, implizieren ein reales oder hypothetisches stressreiches Ereignis, das entweder schon stattgefunden hat oder in der Zukunft liegt.

Obwohl die Unterscheidung zwischen problem- und emotionsorientiertem Coping sehr wichtig ist, hat die spätere Stressforschung gezeigt, dass diese zwei Richtungen allein nicht den multivariaten Aspekten von Stressbewältigung gerecht werden können.

Nach Schwarzer (2000) fehlt die positive Seite von Coping im Sinne von persönlichem Wachstum, dem Meistern von Anforderungen und dem Streben nach Lebenszielen. Dabei wird angenommen, dass das Leben insgesamt stressreich ist und einer ständigen Bewältigung bedarf. Dies bildet den Hintergrund für die Entstehung des Konzeptes „Proaktives Coping“ (Aspinwell &

Taylor, 1997; Schwarzer, 2000). Die grundlegende Struktur dieser in die Zukunft gerichteten Perspektive eröffnet neue Forschungsfragen und hilft, traditionelle Copingkonzepte zu überwinden, die die reaktive Natur des Coping überbetonen und Faktoren wie Ziele und Lebensbedeutungen sowie zeitliche Aspekte vernachlässigen (Beehr & McGrath, 1996; Wong, 1998).

Als Ergänzung zu den früheren Copingdimensionen wird eine systematische Unterscheidung zwischen reaktivem, antizipatorischem, präventivem und proaktivem Coping getroffen (Schwarzer & Knoll, 2002; Schwarzer & Taubert, 2002). Die vier alternativen Perspektiven von Coping beinhalten unterschiedliche Grade der Gewissheit über das Auftreten eines Ereignisses. Wie in Abbildung 2

dargestellt, ist der Differenzierung der verschiedenen Bewältigungsformen eine Zeitachse zu Grunde gelegt.

Abbildung 2: Modell der „Proaktiven Coping Theorie“

(Quelle: Schwarzer et al., 2002)

Eine erweiterte Betrachtung des Coping-Konzeptes hat den Vorteil, auch die menschlichen Verhaltensweisen zu evaluieren, die darauf abzielen, das eigene Leben kreativ und selbstverantwortlich zu gestalten. In diesem Sinne ist es angebracht, den Fokus stärker auf das Risiko- und Zielmanagement zu richten.

Reaktives Coping bezieht sich auf das Bemühen, ein bereits abgeschlossenes oder noch laufendes Ereignis durch die Kompensation von Schaden und Verlust zu bewältigen. Das Coping von z. B. einer Trennungssituation oder Versagen im Beruf, kann sich darauf richten, Ziele umzudefinieren, Sinn zu suchen oder das Verlorene wiederherzustellen. Die Bewältigungsbemühungen können problem-,

hoher Grad an Gewissheit

niedriger Grad an Gewissheit Vergangenheit

Schaden/Verlust

Zukunft Bedrohungen/

Herausforderungen Reaktives Coping

Antizipatorisches Coping

Proaktives Coping

Präventives Coping

emotions- oder sozial orientiert sein und erfordern eine optimistische Grundhaltung, um die Schädigungen zu überwinden.

Die folgenden Formen der Stressbewältigung unterscheiden sich vom reaktiven Coping grundsätzlich dadurch, dass sie in die Zukunft gerichtet sind und kognitive Einschätzungen von Bedrohung oder Herausforderung enthalten.

Antizipatorisches Coping bezieht sich auf den Umgang mit kritischen Ereignissen, die noch nicht stattgefunden haben, aber unausweichlich eintreten werden, wie z. B. eine Prüfung oder ein Bewerbungsgespräch. Schaden oder Verlust treten nur dann ein, wenn es einer Person nicht gelingt, die mit dem Ereignis antizipierte Bedrohung oder Herausforderung zu bewältigen. Die Funktion von Coping liegt hier darin, ein aktuelles Problem zu lösen, z. B. indem die Anstrengung erhöht, nach Hilfe gesucht oder auf Ressourcen zurückgegriffen wird. Eine andere Funktion von Coping liegt in der Regulierung von Emotionen angesichts der bevorstehenden Ereignisse, z. B. dadurch, dass die Situation umdefiniert wird, so dass sie keine Bedrohung mehr darstellt, oder durch Zerstreuung bzw. Ablenkung.

Antizipatorisches Coping kann aufgefasst werden als das „Management bekannter Risiken“. Dabei werden die eigenen Ressourcen präventiv zur Bekämpfung des potentiellen Stressors aktiviert, oder indem man sich auf den Nutzen respektive Erfolg konzentriert, der mit dem Ereignis verbundenen ist.

Selbstwirksamkeit - der Glaube an die eigenen Fähigkeiten - ist eine dieser persönlichen Ressourcen, erfolgreich spezifische Situationen zu bewältigen (Schwarzer & Renner, 2000).

Präventives Coping ist eine Art Risikomanagement und bezieht sich auf potentiell kritische Lebensereignisse in der fernen Zukunft, die nicht zwangsläufig eintreten müssen. Beispiele hierfür sind Überlegungen, eine schwere Krankheit zu erleiden, ein Opfer von Kriminalität zu werden oder durch eine Naturkatastrophe in seiner Existenz bedroht zu sein. Die Langzeitperspektive derartiger Risiken motiviert Menschen, ganz allgemeine oder auch spezifische Ressourcen aufzubauen, um für die unvorhersehbaren Geschicke des Lebens vorbereitet zu

sein. Dazu zählen der Aufbau und die Pflege eines sozialen Netzwerkes oder das Abschließen einer Lebensversicherung.

Proaktives Coping ist der Prototyp positiver Stressbewältigung, da es keinerlei negative Bewertungen wie Schaden/Verlust oder Bedrohungen enthält.

Menschen, die sich proaktiv verhalten, bauen allgemeine Ressourcen auf, die ihnen bei der erfolgreichen Lebensbewältigung helfen und ihr persönliches Wachstum fördern. Sie haben eine Vision. Charakteristisch für Proaktives Coping ist die positive kognitive Einschätzung über das Leben als Herausforderung durch selbstgesetzte Lebensziele. Stress wird interpretiert als „Eustress“ und führt zu erhöhter Produktivität und Vitalität. Eine solch autonome Lebensbewältigung ist in diesem Sinne zu verstehen als ein Zielmanagement und kein Risikomanagement.

Das Setzen hoher Ziele und deren hartnäckige Verfolgung, das Entwerfen der dafür erforderlichen konstruktiven Handlungspläne sowie die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen, sind Bestandteil selbstregulativer Zielerreichungsprozesse. Diese erklären, was Menschen motiviert, beharrlich nach ehrgeizigen Zielen zu streben (Schwarzer, 1998, 1999a). Proaktive Menschen sind motiviert, die Risiken und Gefahren, die das Leben bereit hält, als Herausforderungen anzunehmen und verpflichten sich dabei einem persönlichen Qualitätsmanagement. Allgemein wird proaktives Coping begünstigt durch eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung - der optimistischen Überzeugung, selbst in der Lage zu sein, schwierige Ziele in Angriff zu nehmen und sie gegen mögliche Widerstände zu verteidigen. Die Rolle optimistischer Überzeugungen in der Selbstregulation während des Zielverfolgungsprozesses wird detaillierter beschrieben in dem theoretischen Ansatz zur Erklärung des Gesundheitsverhaltens „Health Action Process Approach“ von Schwarzer (1992, 1999b; Schwarzer & Renner, 2000).