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Photographie: Das Festhalten des Neuen

Der Wandel der Ortschaften Saint-Imier und Sonvilier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nicht nur in den Registern der Einwohnerkontrolle, sondern auch photogra-phisch festgehalten. Die ältesten erhaltenen Photographien aus Saint-Imier und Sonvilier wurden zwischen 1866 und 1873 geschossen. Hinter der Kamera stand mit größter Wahrscheinlichkeit Sylvain Clément, der in Saint-Imier ein Photographieatelier führte.37 Osterhammel spricht der Ein-führung der Photographie „kolossale Folgen“ für die histo-rische Erinnerung zu. Erstmals konnte mit diesem Medium des visuellen Gedächtnisses die äußere Realität authentisch festgehalten werden.38

Das visuelle Gedächtnis war abhängig davon, was Menschen erinnern wollten, das heißt welche Sujets sie dem Photogra-phen zur Ablichtung in Auftrag gaben. Für Saint-Imier und Sonvilier lassen sich zwei Kategorien von Sujets differenzie-ren. Die erste Kategorie bildeten Menschen. Aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind insbesondere Portrait- und Gruppenbilder von Menschen erhalten. Mittels Photographie konnte man bestimmte Lebensabschnitte wie Hochzeiten, Eintritte in die Studentenverbindung, Beförderung zum Of-fizier usw. festhalten und die Erinnerung an Menschen auch über deren Tod hinaus lebendig erhalten.

Nicht nur die reiche Oberschicht, auch gewöhnliche Arbeiter konnten es sich leisten, Portraits anfertigen zu lassen. Ursa-che für diese Demokratisierung des visuellen Gedächtnisses war eine Photographietechnik mit der Bezeichnung „carte de visite“. Dieses auf die Erfindung des Franzosen André Disdéri im Jahre 1854 zurückgehende Photoformat avancierte in den 1860er-Jahren in Westeuropa zu einem Massenphä-nomen. Dabei handelte es sich um kleinformatige Bilderpor-traits auf Papier, die als Serie von zwölf Bildern kostengünstig hergestellt werden konnten.39

Eine zweite Kategorie von Photosujets bildeten im Tal von Saint-Imier Bauten. Aus diesem Grunde dienen die

Photogra-phien als Quelle für den damals sichtbaren räumlichen Wan-del im Tale. Zu den ältesten Photographien von Saint-Imier und Sonvilier gehören Teil- oder Gesamtansichten der Dörfer, die zwischen 1866 und 1880 aufgenommen wurden.

Diese Bilder, wie auch diejenigen von Saint-Imier (wohl ent-standen im Zeitraum von 1866 bis 1873), erscheinen zum bis-her beschriebenen rasanten Wandel des Raumes im Wider-spruch zu stehen. Denn sie wirken sehr statisch, Bewegung und schon gar Beschleunigung lassen sich in ihnen nicht erkennen. Erst anhand des Vergleichs mit früheren oder spä-teren Photographien lässt sich in diesen Momentaufnahmen ein räumlicher Wandel ausmachen. Von den auf der Saint-Imier-Ansicht abgebildeten Gebäuden hatte zwei Jahrzehnte vor der Aufnahme nur ein Bruchteil bestanden. Ein paar Jahre später wiederum hätte dieselbe Aufnahme nicht gemacht wer-den können, wer-denn von der Grünfläche war wenige Zeit später

Cartes-de-Visite aus dem Tal von Saint-Imier (Von links nach rechts: AEN, FJG, 41; Mdl Franre005;

Mdl Franre MdI Franre- 007; MdI Franre020; MdI Franre002)

nicht mehr viel übrig geblieben. Der Photograph hatte zudem seine Kamera genau dort aufgebaut, wo schon ein paar Jahre später der Zug vorbeirauschen sollte.

Der Bau der Eisenbahntrasse bildete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als bauliches Großereignis auch die ein-schneidendste und damit sichtbarste Form landschaftlichen Wandels. Für die Wahrnehmung eines Zäsurcharakters durch die Bevölkerung spricht, dass der Bau der Eisenbahnlinie das erste Ereignis im Tal darstellte, das ausführlich bildlich do-kumentiert wurde. Dies lenkt den Blick auf ein

Charakteris-tikum der Photographie in Saint-Imier und Sonvilier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Photographiert und da-mit für die „Ewigkeit“ festgehalten wurde nicht das Alte und Vergängliche, sondern das Neue. Im Gegensatz zu Naturland-schaften oder zu den verbliebenen Gebäuden aus vergange-nen Jahrhunderten fanden fast exklusiv die neuen Gebäude das Interesse des Photographen bzw. seiner Auftraggeber. Da-hinter steht eine dem Wandel gegenüber sehr aufgeschlosse-ne Haltung, wie auch Stolz auf das aufgeschlosse-neue „moderaufgeschlosse-ne“ Dorf, das mit seinen repräsentativen Bauten und breiten Straßenzügen zunehmend städtischen Charakter annahm. Diese Mentalität lässt sich deutlich anhand von Photo- und Postkartensujets am Ende des 19. Jahrhunderts ablesen, die das Musée de

Saint-Fotografische Ansicht von Saint- Imier, erstellt vom Atelier Sylvain Clément &

Fils, Saint-Imier, ca. 1866-1873, Kopie von Elisée Reclus (BNF, SG WC-80) und fotografische Doku-mentation des Baus der Eisenbahnlinie im Tal von Saint-Imier, 1873-1874 (MdI, Chemer56, Chemer47).

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Vgl. Schüler, Der bernische Jura, S. 150.

Imier in hoher Zahl aufbewahrt. Die beliebtesten Sujets wa-ren die neue Hauptgasse, gefolgt vom neuen Markplatz und von den Fabriken mit ihren rauchenden Schloten. Dies war das Bild, das die Erbauer des neuen Saint-Imier ihren Besu-chern vermitteln wollten und das diese anhand der Postkar-ten möglichst um die ganze Welt verschicken sollPostkar-ten.

Das äußere Erscheinungsbild der beiden Gemeinden Saint-Imier und Sonvilier hatte sich also innerhalb von ein bis zwei Generationen radikal verändert, deren Ortsbild hatte um die Jahrhundertmitte nur noch wenig gemein mit demjenigen der vorangegangenen Jahrhundertwende. Insbesondere Saint-Imier hatte einen Urbanisierungsprozess durchlaufen, der mit etlichen europäischen Groß- und Kleinstädten ver-gleichbar war. Ernst Schüler pries diesen Wandel in seinem Reiseführer an und sprach dem aus der „Asche entstande-nen“ und „verjüngten“ Saint-Imier ein „grossstädtisches Wesen“ zu.40 Inwiefern die Bewohner von Sonvilier und Saint-Imier die Radikalität und die Geschwindigkeit des Wandels ihrer Ortschaften wahrnehmen konnten, ist schwer zu rekonstruieren. Die kurze Aufenthaltsdauer vieler macht wohl eine solche Analyse der Veränderung unmöglich. Wie gehört bewegten sich die Migrationsströme weitaus schneller als die Bautätigkeit, die den wachsenden Bedürfnissen nach Wohnraum nur schleppend nachkommen konnte oder woll-te. Insbesondere für die unteren sozialen Schichten waren dadurch die Wohnverhältnisse prekär.

Die einheimische Bevölkerung hingegen konnte den Wandel nachvollziehen und sie schien diesen mehrheitlich zu be-grüßen. Jedenfalls lassen sich keine Textquellen finden, die Wehmut über den Untergang des Alten und die Nostalgie nach dem alten Dorfe bekunden. Die Wahl der Sujets auf den Photographien und den Postkarten weisen im Gegenteil auf Stolz über das neue und, wahrscheinlich in den Augen der meisten, moderne Saint-Imier hin.

Der Wandel des Ortsbildes lässt sich nicht isoliert von globa-len Prozessen nachvollziehen, was in diesem Kapitel anhand von Städtebaumodellen und der Architektursprache sichtbar wurde. Die Übernahme von globalen städtebaulichen und architektonischen Trends löste jedoch wohl bei den allerwe-nigsten ein Globalitätsbewusstsein aus. Im nächsten Kapitel wird deshalb zu zeigen sein, dass der Wandel auch in ande-ren Bereichen mit globalen Prozessen und Verflechtungen zusammenhing, und dass diese noch viel mehr dazu geneigt

waren, ein Bewusstsein von Globalität auszulösen. Postkarten aus Saint-Imier um 1900. (MSI, ohne Signatur)

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Schüler, Der bernische Jura, S. 156.

Markt: Globaler Markt