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KANN MAN ZWEI PHASEN IN BEZUG AUF DIE BEDEUTUNG DER RELIGION IN KANTS

C. DIE BEDEUTUNG DER RELIGION FÜR KANTS MORAL IN DEN MORALISCHEN

3. KANN MAN ZWEI PHASEN IN BEZUG AUF DIE BEDEUTUNG DER RELIGION IN KANTS

Die Gesetzgebung des moralischen Gesetzes

Für Kant war Gott weder in den Vorlesungen noch in den moralischen Schriften der Gesetzgeber des moralischen Gesetzes. Das moralische Gesetz wird allein von der Vernunft gegeben, d.h. von der Diiudicatio in den Vorlesungen und von der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch in den moralischen Druckschriften. Nachdem Kant in seiner Dissertation die entscheidende Rolle der Vernunft in der Moral festgelegt hat, ist diese Lehre in den Texten immer vorhanden. Die moralische Pflicht stammt für Kant immer und nur aus der Vernunft.

Es stellt sich die Frage, ob die Tatsache, daß Kant in den Vorlesungen die Möglichkeit der Gesetzgebung der reinen Vernunft nicht zeigen kann, nicht bedeutet, daß in diesen Texten ein göttlicher Gesetzgeber angenommen werden muß. Es ist klar, daß Kants Moral in den Vorlesungsnachschriften aufgrund dieses Mangels unvollständig ist. Man kann aber nicht behaupten, daß sie deshalb auch theonom in Bezug auf die Gesetzgebung ist, weil die reine Vernunft für Kant immer der alleinige Gesetzgeber des moralischen Gesetzes ist, obwohl er in den Vorlesungen nicht zeigen kann, wie diese Gesetzgebung möglich ist.

Sogar die Beziehung der Gesetzgebung der Vernunft zur Gesetzgebung Gottes wird in den Vorlesungen und den moralischen Druckschriften gleich konzipiert. In den Vorlesungen verwendet Kant die Unterscheidung zwischen

“Urheber” und “Gesetzgeber” des moralischen Gesetzes, um zu zeigen, daß Gott, obwohl er das moralische Gesetz nicht setzt, weil es nur aus der reinen Vernunft stammt, doch gebietet, diesem Gesetz zu folgen, weil es gut ist und daher seinem Willen entspricht545. In den moralischen Druckschriften ist die Unterscheidung zwischen “Urheber” und “Gesetzgeber” nicht zu finden. Die Art und Weise, wie Kant in der “Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft” die Beziehung zwischen moralischem Gesetz und Gebot Gottes erklärt, läuft aber in dieselbe

545 Powalski XXVII.136, 145, 146-7, 169, Collins XXVII.277, 283, Mrongovius XXVII.1433 und R.6769 XIX.156, R.7089 XIX.246.

Richtung. In diesem Text erklärt Kant, daß, obwohl die moralische Pflicht aus der reinen Vernunft stammt, sie auch ein göttliches Gebot sei546.

Es ist nicht möglich, von einer Änderung der Funktion der Religion bei der Gesetzgebung des moralischen Gesetzes zu reden, da die Religion bei Kant nie eine Funktion in Hinsicht auf die Gesetzgebung des moralischen Gesetzes hatte.

Die Entwicklung der Funktion der Religion in Kants Moralkonzeption muß im Bereich der Motivation zur moralischen Handlung stattfinden, weil die Religion in diesem Bereich eine Funktion hat.

Die Motivation zur moralischen Handlung

Die Religion hat eine Funktion bei der Motivation zur moralischen Handlung, dadurch daß das summum bonum nur unter Voraussetzung eines Gottes möglich ist. Sowohl in den Vorlesungen als auch in den moralischen Schriften befindet sich die Idee der praktischen Notwendigkeit eines Gottes. Die Hoffnung auf Glückseligkeit setzt immer die Annahme eines gerechten Gottes voraus, weil nur er garantiert, daß die Tugendhaften tatsächlich die Glückseligkeit erlangen. Die Verknüpfung der Religion mit dem summum bonum verändert sich nicht von den Vorlesungen zu den moralischen Druckschriften. In dieser Hinsicht ist die Religion immer ein zentrales Element für Kants Begriff des summum bonum.

Wenn die Bedeutung der Religion in Kants Vorlesungen sich von ihrer Bedeutung in den moralischen Druckschriften unterscheidet, kann dies nur infolge einer entsprechend unterschiedlichen Funktion des summum bonum der Fall sein.

Da wir bereits gezeigt haben, daß diese Funktion sich verändert, ist klar, daß auch von zwei unterschiedlichen Phasen bezüglich der Rolle der Religion in Kants Moral die Rede sein muß.

Die Religion ist nach Kants ausdrücklicher Meinung in den Vorlesungen mit der Moral eng verbunden. Die Religion gibt der Moral “Realität”, “Gewichte”, d.h. die Triebfeder547. Die Religion “komplettiert” die Moral548, indem sie es ermöglicht, daß Tugend und Glückseligkeit verbunden sind. Die Religion ist in

546 Religion VI.99f.

547 Mrongovius XXVII.1453 und Collins XXVII.307.

diesen Texten zentral für die Motivation zur moralischen Handlung, weil sie den notwendigen Zweck ermöglicht.

Daß Kant in der “Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”

sagt, daß die Moral keiner Religion bedarf, kann nur im Rahmen der Änderung der Funktion des summum bonum verstanden werden. Die Religion hat keine Bedeutung für die Gesetzgebung, weil die Vernunft allein das Gesetz gibt. Sie hat auch keine Funktion als Triebfeder, weil das moralische Gesetz die einzige Triebfeder der Moral ist, dadurch daß es das Gefühl der Achtung weckt. Die Religion hat aber trotzdem in den moralischen Schriften eine notwendige Funktion, weil sie das summum bonum möglich macht und das summum bonum das Objekt des reinen Willens ist. In diesem Sinn muß Kants Feststellung, daß die Moral durch den Begriff des summum bonum zur Religion führt, verstanden werden549.

Von einer von der Religion abhängigen Moral

zu einer Moral, die von der Religion nicht ganz abhängig ist.

Die Religion spielt sowohl in den Vorlesungen als auch in den moralischen Druckschriften eine Rolle bei der Motivation zur moralischen Handlung, weil sie das summum bonum möglich macht. Ihre Funktion hat sich aber von den Vorlesungen zu den moralischen Schriften verändert, weil sich die Rolle des summum bonum verändert hat. Am Ende des ersten Kapitels haben wir in Bezug auf die Vorlesungen von einer “von der Religion abhängigen Moral” und am Ende des zweiten Kapitel in Bezug auf die moralischen Schriften von einer Moral, die

“von der Religion nicht ganz unabhängig ist”, gesprochen. Die Religion war immer das entscheidende Element des summum bonum. Das summum bonum war aber in den Vorlesungen der höchste Zweck des Willen und in den moralischen Druckschriften war es der von der Vernunft abhängige Zweck des reinen Willens.

Die Frage, ob von zwei unterschiedlichen Phasen in Bezug auf die Bedeutung der Religion in Kants Moral die Rede sein kann, muß also positiv beantwortet werden.

548 Powalski XXVII.164

549 KpV.V.129 und Religion VI.6.

In der ersten Phase meint Kant, daß die Religion eine entscheidende Rolle in seiner Moral spielt, weil sie dadurch zentral für die Motivation zur moralischen Handlung ist, daß sie das summum bonum ermöglicht. Diese Konzeption findet sich sowohl in den sogenannten Menzer-Collins Vorlesungsnachschriften (von 1775 bis 1784)550 als auch in den “Reflexionen über Moralphilosophie”, die in diesem Zeitraum datiert sind. Die “Kritik der reinen Vernunft”551 gehört auch zu dieser Phase.

In einer zweiten Phase war Kant der Auffassung, daß die Religion weder für die Gesetzgebung noch als Triebfeder eine Bedeutung hat. Sie hat aber immer noch eine Bedeutung, weil sie das notwendige Objekt des Willens, das summum bonum, möglich macht. Der Unterschied zu den Vorlesungen liegt darin, daß in dieser zweiten Phase das summum bonum ein vom moralischen Gesetz abhängiges Objekt ist. Diese Idee ist sowohl in den moralischen Druckschriften der 80er Jahre, d.h. der “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” und der “Kritik der praktischen Vernunft” (1784-1788)552, als auch in den Vorlesungsnachschriften, die nach 1784 datiert sind, nämlich “Mrongovius II”

und “Vigilantius”, vorhanden. Die “Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft” gehört auch in diese Phase553.

550 Vgl.: Collins XXVII.307, 278; Mrongovius XXVII.1453 und Powalski XXVII.137, 164, 185.

551 Vgl.: KrV B.832-848/A.804-820.

552 Vgl.: KpV.V.129.

553 Vgl.: Religion VI.3-6.