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Peter Kropotkin, Gustav Landauer und Martin Buber

Im Dokument Die Utopiesteht links! (Seite 74-89)

Eine der entscheidendsten Entwicklungen der sozialistischen Ideen vollzog sich freilich nicht innerhalb der marxistischen Dogmatik. Vielmehr gibt es eine gewichtige Tradition »linker« Literatur, die bis auf Pierre-Joseph Proudhon zurückgeht. Gerade die Angriffe von Marx, Engels und ihren Apologeten auf ihn zeigen, dass seine sozialistischen Ansätze ernst genommen wurden – an-ders ist die Radikalität der Polemik kaum zu erklären: Es galt, den Gegner im eigenen Lager zu vernichten bzw. die angemaßte hegemoniale Vormachtstel-lung zu verteidigen. Die VorstelVormachtstel-lung eines Sozialismus, der den mittleren Weg zwischen Staatssozialismus einerseits und der reinen Anarchie a la Max Stir-ner andererseits sucht und in der genossenschaftlichen Idee der Assoziationen zu finden glaubt, ist, über Proudhon hinaus, mit den Konzeptionen Peter Kro-potkins, Gustav Landauers und Martin Bubers verbunden. Dabei ist auch de-ren kritisches Potential eindeutig: Sie richteten sich direkt gegen den Marxis-mus und gegen den StaatssozialisMarxis-mus sowjetrussischer Prägung. Ein Weiteres tritt hinzu: Diese Vorstellungen genossenschaftlichen und solidarischen Mit-einanders entscheiden nicht nur das Verhältnis von Staat (Überbau) und Indi-viduum trotz sozialistischer Ausrichtung zu Gunsten des Letztgenannten.

Darüber hinaus erscheinen sie heute als jene sozialistische Alternativen, die nicht moralisch diskreditiert sind. Denn ihre Autoren hatten immer auch seis-mographisch und frühzeitig vor den Problemen des Staatssozialismus ge-warnt und, wie vor allem das Werk Martin Bubers aufzeigt, die marxistische Dogmatik sowie die reale Praxis der Sowjetunion hart kritisiert. Daher bietet es sich an, wenn wir uns in der Folge vor allem auf Bubers Werk Der utopische Sozialismus, zuerst 1946 unter dem Titel Pfade in Utopiaerschienen, stützen, um die Positionen der drei genannten sozialistischen Autoren zu rekonstruieren.66 Kropotkin sei – so Martin Buber – mit seinen Werken in kaum zu überschät-zendem Maße den Ansätzen Proudhons verpflichtet. Seine Unterscheidung zwischen zentralistischem und föderalistischem Sozialismus gehe direkt auf diesen zurück. »Proudhons Bedenken richteten sich wie gesagt gegen eine neue ›Staatsräson‹, also gegen die Uniformität, gegen die Ausschließlichkeit, gegen den Zwang. Die Genossenschaftsform schien ihm für die Industrie eher in Betracht zu kommen als für die Landwirtschaft, wo es ihm um die Erhal-tung des Bauerntums ging (bei allen Wandlungen seiner Gedanken und Vor-schläge hielt er hier an dem einen Prinzip fest, dass den Boden rechtmäßig der

66 Verwendet wird die Ausgabe: Buber 1967, zitiert wird als US.

besitzt, der ihn bebaut); und auch für die Industrie nur in den Zweigen, deren Art sie entsprach, und für bestimmte Funktionen. Er weigerte sich, eine Neu-ordnung der Gesellschaft mit ihrer Uniformität gleichzusetzen; Ordnung hieß für ihn gerechte Ordnung der Mannigfaltigkeiten.« (US 65f.) Von diesem Punkt der Proudhonschen Konzeption, dass die Vielfältigkeit aller Dinge und allen Seins einer Normierung und Regelung immer vorzuziehen sei, gehe Kro-potkins Ansatz aus. Ja, seine Arbeiten könnten als Vereinfachung bzw. Popu-larisierung von »Proudhons Vermächtnis« interpretiert werden. »Dabei sim-plifiziert er es, aber zum Teil auf eine fruchtbare und der Sache förderliche Weise. Er simplifiziert Proudhon, indem er die Schau der Widersprüche mil-dert, und das ist ein Verlust, aber zugleich indem er ihn ins Geschichtliche überträgt, und das ist ein Gewinn. Kropotkin ist kein Historiker, er ist, auch wenn er geschichtlich denkt, Sozialgeograph, ein Beschreiber von Zuständen auf der Erde; aber er denkt geschichtlich.« (US 68) Kropotkin unterscheide zwischen einem überflüssigen bzw. übermäßigen Staat auf der einen Seite und einem notwendigen sowie rechtmäßigen auf der andern. Zu bekämpfen und zurückzudrängen sei jener Staat, der als Mehrstaat schlicht keine Funktion habe und, wie Herbert Marcuse formulierte, rein repressive Funktionen aus-übe. Aber es gebe bei Kropotkin dennoch die Anerkennung der Notwendig-keit von Regierung in dem Sinne der Koordination und übergeordneten Ver-waltung der einzelnen Assoziationen.67Einige Jahre nach Kropotkin griff dann Tschajanow, wie wir bereits gesehen haben, dieses Element als konstitutives Merkmal seines bäuerlichen Utopias wieder auf. Daher überrascht es kaum, dass Kropotkin auf der Basis des »Prinzips der gegenseitigen Hilfe« Gesell-schaften imaginierte, deren Gemeinsamkeiten mit dem utopischen Denken of-fensichtlich sind. Buber schrieb mit Blick auf Kropotkins Werk Fields, Factories and Workshopsin diesem Sinne: »Er stellt hier der fortschreitenden Überspan-nung des Prinzips der Arbeitsteilung, der übermäßigen Spezialisierung das Prinzip einer Integration der Arbeit, der Verknüpfung einer intensiven Land-wirtschaft mit einer dezentralisierten Industrie gegenüber; er entwirft das Bild eines auf Feld und Fabrik zugleich aufgebauten Dorfes, in dem dieselben Menschen abwechselnd dort und hier arbeiten, ohne dass dies irgendwie ei-nen Rückschritt der Technik zu bedeuten brauchte, vielmehr im engen Zu-sammenhang mit der technischen Entwicklung, und doch so, dass der Mensch als Mensch zu seinem Recht kommt.« (US 80) Kleine dezentrale Einheiten, as-soziierte Gemeinschaften, Solidarität als Wert an sich – mit diesen Punkten ist Kropotkins Programm zutreffend charakterisiert. Wichtig dabei ist, dass eine solche Form der Organisation nicht nur deren Notwendigkeit anerkennt, wenn auch auf einer qualitativ hochwertigen und quantitativ reduzierten

67 »Wir sehen hier besonders deutlich, dass Kropotkin letztlich nicht die Staatsordnung an sich, sondern nur die gegenwärtige in allen ihren Formen bekämpft, dass seine ›Anarchie‹, wie die Proudhons, in Wahrheit Akratie ist, nicht Regierungslosigkeit, sondern Herrschaftslosigkeit.« (US 77).

Ebene. Darüber hinaus werden die Unterschiede zwischen den Individuen als nach »vorn« treibende und geschichtliche Dynamik garantierende anthropo-logisch bedingte Konfliktstrukturen in das alternative System transportiert.

Dieserart sind Kropotkins Ausführungen nicht nur als Kritik holistischer Herrschaft, sondern auch der archistischen Spielart der politischen Utopie zu lesen. »Was an Zwangsordnung darin noch fortbestehen wird, wird nur noch Exponent des jeweiligen Entwicklungsstadiums des Menschen sein, nicht mehr Ausnutzung der menschlichen Unreife und der menschlichen Ge-gensätze. Gegensätze zwischen Individuen und zwischen Gruppen werden wohl nie aufhören und sollen es auch nicht; sie müssen ausgetragen werden;

aber anstreben können und müssen wir einen Zustand, wo sich die Einzel-konflikte weder auf unbeteiligte große Gesamtheiten ausdehnen, noch zur Be-gründung zentralistisch-unbedingter Herrschaft verwenden lassen.« (US 72) Neben diesen positiven Annäherungen Bubers an Kropotkin steht gleichrechtigt seine kritische Auseinandersetzung mit dessen Konzeption. Dabei be-zog sich Buber vor allem auf Kropotkins Anerkennung der Revolution. Er sei immer davon ausgegangen, dass die Veränderung der gegenwärtigen Gesell-schaft nicht im Rahmen der bestehenden Systeme erfolgen könne bzw. diese zwangsläufig sprengen müsse. »Dass eine entscheidende Wandlung der Ge-samtordnung nicht ohne Revolution erfolgen kann, ist für Kropotkin selbst-verständlich. ... Aber er ahnte die Tragödie der Revolutionen, er bekam sie im Lauf der enttäuschenden Erfahrungen immer tiefer zu ahnen. Die Tragödie der Revolution: dass sie, auf das positive Ziel hin betrachtet, das Gegenteil des gerade von den ehrlichsten und leidenschaftlichsten Revolutionären Herbei-gesehnten zur Folge haben wird, wenn und weil das Angestrebte nicht schon vorrevolutionär so weit vorgebildet war, dass die revolutionäre Aktion ihm nur noch den vollen Entfaltungsraum zu erringen hat.« (US 78f.) Es sei Kro-potkins Fehler, dass er der Revolution eine positive, d. h. eine schaffende Rolle zuschreibe. Denn die Revolution habe letztlich einen primär zerstörenden Charakter. So könne sie zwar politische Zustände ändern, nicht jedoch soziale.

»Kropotkin verkennt, wie Bakunin, die grundlegende Tatsache, dass im sozia-len Bereich, im Gegensatz zum politischen, die Revolution keine schaffende, sondern eine lediglich auslösende, freimachende und machtverleihende Kraft hat, d. h. dass sie nur das vollenden, nur das frei, mächtig und vollständig ma-chen kann, was sich bereits im Schoße der vorrevolutionären Gesellschaft vor-gebildet hat, dass, auf das soziale Werden betrachtet, die Stunde der Revolu-tion nicht eine Stunde der Zeugung, sondern eine der Geburt ist, – wenn eine Zeugung voranging.« (US 79) Angesichts dieser Interpretation bleibt zu fra-gen, inwieweit Bubers Kritik mit den Intentionen Kropotkins konvergiert. In seinen 1899 verfassten Memoiren eines Revolutionärsführte Kropotkin aus, dass er von dem weiteren Fortschritt der sozialistischen Idee überzeugt sei.68Sein

68 Verwendet wird die Ausgabe: Kropotkin 2002, zitiert wird als MR.

Blick zurück ist damit – zumindest in der Außendarstellung – eindeutig posi-tiv: »Ihrer mönchischen Form entkleidete kommunistische Ideen haben sich in den siebenundzwanzig Jahren, die ich nun an der sozialistischen Bewegung aktiv teilnehme und ihr Wachstum beobachte, in ungeheurem Maß in Europa und Amerika Eingang verschafft. Wenn ich daran denke, wie vage, konfus, schüchtern noch die Ideen waren, die Arbeiter auf den ersten Kongressen der Internationalen Arbeiterassoziation zum Ausdruck brachten, oder die in Paris während des Kommuneaufstandes selbst bei den nachdenklichsten Führern vorherrschten, und sie mit den heute von einer großen Zahl von Arbeitern ge-hegten Anschauungen vergleiche, so muss ich gestehen, dass sie mir zu zwei ganz verschiedenen Welten zu gehören scheinen.« (MR Bd. 2, 533f.) Es könne kein Zweifel daran bestehen, so Kropotkin emphatisch, dass die nächste große soziale Revolution vor der Tür stehe. »Es gibt keine Epoche in der Geschichte – mit Ausnahme vielleicht der Zeit der Aufstände im zwölften und dreizehn-ten Jahrhundert, die zum Entstehen der mittelalterlichen Stadtgemeinden führte – , in der die herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen sich ver-gleichbar stark geändert hätten. Und jetzt, in meinem siebenundfünfzigsten Lebensjahr, bin ich noch mehr als vor einem Vierteljahrhundert davon über-zeugt, dass ein glückliches Zusammentreffen von zufälligen Ereignissen und Umständen in Europa eine Revolution herbeiführen wird, die der von 1848 an Ausmaß nicht nachstehen und die weit tiefgreifender sein wird: nicht im Sinne ausschließlich eines Kampfes zwischen den Anhängern verschiedener sozialer Anschauungen, sondern in dem einer tiefgreifenden und schnell ablaufenden gesellschaftlichen Neugestaltung. Und ich bin auch davon überzeugt, dass ganz unabhängig davon, welchen Charakter diese Bewegung in den einzelnen Ländern annehmen wird, sich überall ein weit tieferes Verständnis für die not-wendigen Änderungen zeigen wird, als es je während der letzten sechs Jahr-hunderte der Fall war, während auf der anderen Seite der Widerstand der herrschenden Klassen gegen diese Bewegung kaum durch die gleiche sinnlose Halsstarrigkeit sich auszeichnen wird, welche die Revolutionen vergangener Zeiten so gewaltig gestaltete. Dieses große Ergebnis zu erreichen, ist all die An-strengung wert, die so viele Tausende Männer und Frauen aller Nationen und aller Klassen in den letzten dreißig Jahren gemacht haben.« (MR Bd. 2, 534) Die Biographie Kropotkins ist mit der Gustav Landauers eng verbunden.

So waren beide in England Nachbarn und wurden zu Freunden. Landauer übernahm dann die Aufgabe der Propagierung der Schriften Kropotkins in Deutschland – er veranstaltete mehrere Editionen und nahm verschiedene Übersetzungen vor. Und auch bei ihm ist der genossenschaftliche Sozialismus als eine der Quellen des Denkens auszumachen. Sein eigentliches Profil ge-winnt er in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus, dessen Staatsbezo-genheit ebenso intensiv kritisiert wird wie sein dogmatischer

Wahrheitsan-spruch. Gleichzeitig aber kommt der Revolution als Konzeption bei Landau-ers (analog zu Kropotkin) eine entscheidende Rolle zu. Denn sie führte Lan-dauer nicht nur dazu, den Willen und die Möglichkeit zur Utopie in die In-tention des Menschen zu verlegen – und so als erster einen inIn-tentionalen Utopiebegriff69zu propagieren, der sich über ihn hinaus auch bei Karl Mann-heim, Ernst Bloch und Martin Buber nachweisen lässt – , sondern bestimmte gleichzeitig seine aktive Rolle in der deutschen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg sowie in der Münchener Räterepublik. Hier wurde er dann am 2. Mai 1919 während der Konterrevolution ermordet. Erich Mühsam hat seine Rolle in dieser Zeit beschrieben.70»In geordneter Freiheit – ›Anarchie ist Ord-nung durch Bünde der Freiwilligkeit‹ hieß seine eigene Definition – revolu-tionär sein und revolurevolu-tionär wirken, das mag den Menschen Gustav Landauer in allen seinen Absichten, Beziehungen und Unternehmungen am ehesten charakterisieren. So bedeutet der Versuch, das Bild Landauers festzuhalten nichts anderes als das Bild des revolutionären Menschen unserer Zeit zu zeich-nen. Der revolutionäre Mensch ist der, der seiner Zeit vorausstrebt, voraus-denkt, vorauslebt. Vor zehn Jahren endete das leibliche Leben Gustav Lan-dauers in gräulichem Mord; die Vergangenheit wehrte sich gegen die Zukunft und massakrierte ihren besten Herold. Dessen Zeit ist noch nicht gekommen.

Wir sind weiter von ihr entfernt als vor zehn Jahren. Es ist noch ganz und gar die Zeit der Verrottung der Gesellschaft im Ungeistigen, im Eintönigen, im Buchstabenkram, im Doktrinären, im Programmatischen und im Beziehungs-losen. Landauer hat das Wesen dieser Zeit und das Mittel, ihren Wahnwitz zu bekämpfen in allen seinen Arbeiten, in allen seinen persönlichen Äußerungen aufgezeigt und man mag seine Bücher aufschlagen, wo man will, so findet man Anklage und Erfüllung in der Beurteilung des Bevorstehenden und glühende Werbung zu Erneuerung, Aufbau, Verwirklichung, Revolution und Sozialismus.« (MGL 121) Es ist bezeichnend für die Situation der »Linken« in der Bundesrepublik, dass 2004 der 85. Todestag Landauers, der eigentlich ein Symbol für einen menschlichen Sozialismus sein sollte, so gut wie gar nicht thematisiert oder in irgendeiner Form erinnernd-vergegenwärtigend began-gen wurde. Aber warum auch, man drückt seine Sympathien ja mittlerweile fast ausschließlich im Rahmen folkloristisch anmutender Märsche zu gegebe-nen und »demokratisch einsichtigen« Anlässen aus. Warum denken, warum anecken – dem Christen reicht doch auch der Gang in die Kirche, an Weih-nachten und zu Familienfesten. Gerade auf die beiden wichtigsten Werke Lan-dauers, den 1911 und 1919 erschienenen Aufruf zum Sozialismus71und die 1907 veröffentlichte Schrift Die Revolution72 kann eine selbstreflexive »Linke« nur

69 Vgl.: Landauer 1974.

70 Verwendet wird die Ausgabe: Mühsam 1974, zitiert wird als MGL.

71 Verwendet wird die zweite, überarbeitete, ergänzte und vor allem aktualisierte Ausgabe: Landauer 1919, zitiert wird als AS.

72 Verwendet wird die Ausgabe: Landauer 1974, zitiert wird als R.

schwer verzichten. Doch kommen wir zurück zum Begriff der Revolution bei Landauer. Der gleichfalls der Vergessenheit anheim gefallene Erich Mühsam schrieb: »Es gibt Anarchisten, die von politischer Revolution nicht nur, die ins-gesamt von politischer Betätigung nichts hören mögen. Schon Bakunin hat sich gegen die Unterstellung des Marxklüngels gewehrt, dass Ablehnung der Beteiligung an staatlichen Einrichtungsverschönerungen Ablehnung von Poli-tik überhaupt bedeute. Landauers letzte Monate wären ja eine Verleugnung al-ler seiner Grundsätze gewesen, hätte er je eine ähnliche Meinung von den Pflichtgrenzen des Anarchisten gehabt, wie sie die Marxisten den Anarchisten unterstellen und wovon sie manchen Anarchisten selber schon überzeugt ha-ben.« (MGL 126) Und weiter heißt es dann: »Gustav Landauer war himmel-weit von einem Realpolitiker solcher Prägung entfernt; in ihm saß die Idee, der er lebte, mit mächtiger Härte fest: die Idee der Freiheit und des Sozialis-mus, die Idee der Vergeistigung und Verwirklichung. Ihr diente er, indem er sich mit den Gegebenheiten der Zeit befasste, an sie anschloss, in sie eingriff.

Wer den revolutionären Menschen so erkannt hat, wird die unbefangene Poli-tik, die Landauer während des Krieges um der Idee willen trieb, seinen Brief an Wilson und anderes, was zuerst befremdend scheint, wird vor allem seine Haltung in der Revolutionszeit verstehen, dies Zugreifen, wo sich ein Anhalt bot, dies Fördern der Eisnerschen Politik, wo immer sie Möglichkeiten zu auf-bauender Arbeit zeigte. Hier ist Kritik im Einzelnen berechtigt und geboten, nicht aber Zweifel erlaubt, der Landauers revolutionäre Grundstellung zu er-schüttern versuchte.« (MGL 126) Der Begriff der Revolution ist noch aus ei-nem weiteren Grund eine der zentralen Denkkategorien Landauers: Denn er verweist auf die Definition und Stellung der Utopie, die bei ihm als Gegenpart der Topie erscheint.73 Letztere liegt vor, wenn ein geschichtlich stabiler Zu-stand erreicht ist. »Dies allgemeine und umfassende Gemenge des Mitlebens im Zustand relativer Stabilität nennen wir: die Topie. Die Topie schafft allen Wohlstand, alle Sättigung und allen Hunger, alle Behausung und alle Ob-dachlosigkeit; die Topie ordnet alle Angelegenheiten des Miteinanderlebens der Menschen, führt Kriege nach Außen, exportiert und importiert, ver-schließt oder öffnet die Grenzen; die Topie bildet den Geist und die Dummheit aus, gewöhnt an Anstand und Lasterhaftigkeit, schafft Glück und Unglück, Zufriedenheit und Unzufriedenheit; die Topie greift auch mit starker Hand in die Gebiete ein, die ihr nicht angehören: das Privatleben des Individuums und die Familie. Die Grenzen zwischen Individualleben und Familiendasein einer-seits, der Topie andererseits sind schwankend. Die relative Stabilität der Topie ändert sich graduell, bis der Punkt des labilen Gleichgewichts erreicht ist.«

(R 12) Der Zustand einer Topie ist damit ein allumfassender und über das nötige Maß hinaus regelnder. In seinem Rahmen sind Entwicklungen möglich,

73 Grundlegend: Braun 1991.

ohne dass die gesetzten Grenzen ihr Profil verlieren. Er erzeugt dadurch aber über kurz oder lang den Widerspruch des Individuums, im Sinne dieser In-terpretation Träger der Utopie, d. h. des fundamental-radikalen Widerstandes gegen die Topie. »Diese Änderungen der Bestandsicherheit der Topie werden erzeugt durch die Utopie. Die Utopie gehört von Haus aus nicht dem Bereich des Mitlebens, sondern des Individuallebens an. Unter Utopie verstehen wir ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren: zu der Tendenz nämlich, eine ta-dellos funktionierende Topie zu gestalten, die keinerlei Schädlichkeiten und Ungerechtigkeiten mehr in sich schließt.« (R 12f.) Die Utopie organisiert die Kritik an der Topie, d. h. an der jeweiligen Gegenwart. In dem Moment jedoch, wo ihr Wirken in der Wirklichkeit Erfolg hat, wird sie selbst zur Topie. Diese Konstruktion sichert vor allem ein theoretisches Konzept Landauers ab: die Offenheit der Geschichte. »Anders ausgedrückt heißt das, dass die Vergan-genheit nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg, nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserm Wei-terschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist.« (R 26) Direkt gegen den Marxismus gerichtet, ist deutlich, dass die Beziehung zwischen Topie und Utopie als »ewige Wiederkehr« (als permanent neu beginnender und immer weitere Ebenen erklimmender Kreislauf) keine finalistische Deutung der Ge-schichte zulässt. Dies nicht zuletzt, da zwischen beiden eine Epoche liege, die dadurch zu kennzeichnen sei, dass die alte Topie bereits zerstört, die Utopie aber noch nicht zur neuen Topie geworden ist. In solchen Phasen tritt ein

»Machtvakuum« – als Fehlen von Stabilität – auf. Es ist, und damit sind wir beim Ausgangspunkt unserer Betrachtungen angelangt, die Revolution, die nach Landauer die Utopie zur Topie transformiert und solchermaßen das

»Machtvakuum« bedingt. Allerdings überführt in diesem Zustand die Revo-lution bestimmte Gegebenheiten von der alten in die neue Topie. Und dane-ben prägen immer auch die praktischen Erfordernisse der Revolution die Uto-pie. Kurz: Ihr kommen entscheidende Funktionen bei der Ausgestaltung der Utopie zur Topie zu. Ergänzend muss noch hinzugefügt werden, dass Lan-dauer davon ausging, dass die ganze neuzeitliche Geschichte als Epoche einer einzigen Revolution zu interpretieren sei: Die letzte stabile Topie sei das ge-nossenschaftlich geprägte Mittelalter gewesen. In diesem Sinne schloss sich Landauer auch dem Optimismus Kropotkins an. Denn wenn die komplette

»Machtvakuum« bedingt. Allerdings überführt in diesem Zustand die Revo-lution bestimmte Gegebenheiten von der alten in die neue Topie. Und dane-ben prägen immer auch die praktischen Erfordernisse der Revolution die Uto-pie. Kurz: Ihr kommen entscheidende Funktionen bei der Ausgestaltung der Utopie zur Topie zu. Ergänzend muss noch hinzugefügt werden, dass Lan-dauer davon ausging, dass die ganze neuzeitliche Geschichte als Epoche einer einzigen Revolution zu interpretieren sei: Die letzte stabile Topie sei das ge-nossenschaftlich geprägte Mittelalter gewesen. In diesem Sinne schloss sich Landauer auch dem Optimismus Kropotkins an. Denn wenn die komplette

Im Dokument Die Utopiesteht links! (Seite 74-89)