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Permanente Interessenvertretungsorganisationen von Betroffenen (Modell 4.1)

17 Modell 4: Partizipation am öffentlichen und politischen Diskurs/Lobbying

17.1 Permanente Interessenvertretungsorganisationen von Betroffenen (Modell 4.1)

von armutsbetroffenen oder -gefährdeten Personen. In der Schweiz gehören dazu zum Beispiel ATD Vierte Welt, die Liste 13 gegen Armut und Ausgrenzung, das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (KABBA), die IG Sozialhilfe, Avenir 50plus oder – in der Romandie –

Modelle der Partizipation Modelle in der Praxis

53 die ALCIP.164 Die meisten dieser Organisationen agieren auf regionaler und/oder nationaler Ebene, sie können jedoch auch in internationale Strukturen eingebettet sein, wie dies bei ATD Vierte Welt der Fall ist.

Die Organisationen setzen sich generell dafür ein, den Stimmen von armutsgefährdeten oder -betroffenen Personen in der öffentlichen Diskussion Gewicht zu verleihen. Sie treten in Dialog mit der Gesellschaft bzw. der Politik, gehen gegen Vorurteile vor und zeigen auf, wie sich all-fällige politische Entscheide auf betroffene Personen auswirken können. Um solche Entscheide zu beeinflussen, erarbeiten die Organisationen zum Beispiel schriftliche Stellungnahmen oder Petitionen und beteiligen sich an Vernehmlassungen.

Verschiedene dieser Organisationen setzen auch andere Modelle um oder beteiligen sich an deren Umsetzung (zum Beispiel ist ATD Vierte Welt in permanenten oder befristeten Gremien vertreten, in denen verschiedene Organisationen und Institutionen zusammenarbeiten) (vgl.

Kapitel 17.2 und 17.3). Teilweise erwachsen aus den Interessenvertretungsorganisationen auch neue Strukturen oder werden spezifische Projekte lanciert – zum Beispiel führen KABBA oder die IG Sozialhilfe Cafés mit Computerstationen und Internetzugang (Café Power-Point und Kafi Klick) und fördern damit die Selbsthilfe (Modell 5).165

Ähnliche Organisationen, welche die Interessen von armutsbetroffenen Personen in politischen Diskursen vertreten, finden sich auch in anderen Ländern. Dazu gehört zum Beispiel die Orga-nisation CAPMO in Kanada,166 die aus einer sozialen Bewegung in Québec entstanden ist.

Wirkungspotenziale, Herausforderungen und Voraussetzungen für die Umsetzung des Modells Die nachfolgenden Abschnitte beschreiben spezifische Wirkungspotenziale, Herausforde-rungen und Voraussetzungen im Hinblick auf den Aufbau und die Aufrechterhaltung von permanenten Interessenvertretungsorganisationen von Betroffenen (weitere, generell zu berücksichtigende Faktoren vgl. auch Kapitel III).

Wirkungspotenziale der Umsetzung von Modell 4.1

Individuelle Ebene von armutsbetroffenen/-gefährdeten Personen (vgl. auch Kapitel 9.1):

- Schärfung des Bewusstseins für die eigenen Handlungsmöglichkeiten167

- Schärfung des Bewusstseins dafür, dass die eigenen Ideen und Meinungen für andere von Interesse sein können168

- Konstruktive Nutzung der Erfahrungen von Armut/Arbeitslosigkeit innerhalb der Organisation oder Bewegung169(Erfahrung von Selbstwirksamkeit/Nützlichkeit).

164 Vgl. ALCIP Association de Lutte contre les Injustices sociales et la Précarité (o.J.).

165 Vgl. ALCIP (o.J.); Avenir 50plus (o.J.); IG Sozialhilfe (o.J.); KABBA Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (o.J.);

Liste13 gegen Armut und Ausgrenzung (o.J.).

166 CAPMO Carrefour d'animation et de participation à un monde ouvert (o.J.).

167 Couillard-De Smedt (2004). (Monique Couillard-De Smedt ist ständige Volontärin bei der Bewegung ATD Vierte Welt in Belgien).

168 Couillard-De Smedt (2004).

169 Cohen (2014).

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- Erfahrung von sozialer Unterstützung170 im Hinblick auf die gesellschaftliche bzw. arbeits-marktliche Integration171 (zum Beispiel wenn die Tätigkeit im Kollektiv zu einem gestärkten Selbstvertrauen in Bezug auf die Stellensuche führt, bei dieser Tätigkeit Kompetenzen aufgebaut werden können, die für die (Arbeitsmarkt-)Integration benötigt werden und die Mitglieder der Organisation sich gegenseitig in ihren diesbezüglichen Bemühungen unter-stützen können)

- Mehr Möglichkeiten, gleichwertige, partnerschaftliche Beziehungen zu Personen in anderen Verhältnissen aufzubauen (und so nicht mehr systematisch in einem Abhängigkeitsverhältnis zu stehen, in dem Forderungen und Bedürfnisse die Beziehung zwischen Armutsbetroffenen und anderen Personen bestimmen172).

Ebene der Organisationen:

- Prägung/inhaltliche Beeinflussung des öffentlichen Diskurses zur Armutsthematik

Mögliche Herausforderungen bei der Umsetzung von Modell 4.1

Individuelle Ebene von armutsbetroffenen/-gefährdeten Personen (vgl. auch Kapitel 10.1):

- Verhinderung einer Mobilisierung durch gesellschaftliche Stigmatisierung und damit verbunde-ne Schamgefühle, die in die soziale Isolation führen173 bzw. dazu, dass eine Identifikation mit dem Status "armutsbetroffen" oder "sozialhilfebeziehend" schwerfällt

- Verhinderung einer Mobilisierung aufgrund der Schwierigkeit, gemeinsame Interessen zu erkennen174

- Zu hohe finanzielle Kosten der Partizipation

- Alltägliche Schwierigkeiten, die ein längerfristiges Engagement verhindern können (andere Prioritäten)

- Fehlende Vereinbarkeit der Mitwirkung im Kollektiv mit einer Stellensuche/der Überwindung der Armut175

Ebene der Organisationen:

- Gefahr der Reproduktion von gesellschaftlichen Ungleichheiten und Machtverhältnissen (die Mitglieder von Interessengruppen unterscheiden sich häufig relativ stark hinsichtlich ihres Hintergrunds und ihrer politischer Sozialisierung, was dazu führen kann, dass bei der Ver-teilung von Aufgaben soziale Machtverhältnisse reaktiviert werden und Personen mit gerin-gerer politischer Sozialisierung von den wichtigsten Aufgaben ausgeschlossen werden176) - Fehlende Wahrnehmung der Interessengruppen in der Öffentlichkeit

• da sie zu weit von den traditionellen kollektiven Interessen- und Partizipationsstrukturen (Lobbys, Gewerkschaften, Verbände) entfernt sind;

170 Castel und Haroche (2001).

171 Cohen (2014).

172 Couillard-De Smedt (2014).

173 Couillard-De Smedt (2004); Cohen (2014) ; Carrefour d’animation et de participation à un monde LE CAPMO, Kanada.

174 Duvoux (2011).

175 Cohen (2014).

176 Dunezat (2011).

Modelle der Partizipation Modelle in der Praxis

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da Armutsbetroffene die Gepflogenheiten des politischen Engagements oft nicht beherr-schen und sich somit nicht sichtbar machen können oder – falls sie sich sichtbar machen können – da Fragen zur soziologischen Identität der mobilisierten Personen aufkommen:

Sind sie tatsächlich von Armut betroffen oder nicht? Inwieweit werden sie von anderen instrumentalisiert?177

Voraussetzungen für die Umsetzung von Modell 4.1 Ebene der Organisationen:

- (Erleichterung der) Mobilisierung/des Engagements und der Integration der betroffenen Per-sonen, indem finanzielle Kosten für die Teilnahme übernommen werden, auf die betroffenen Personen zugegangen wird (zum Beispiel durch Anruf von Abwesenden),178 verschiedene Gefässe bereitgestellt werden (Kommissionen, Workshops etc.), für jede Person eine spezifi-sche Aufgabe in der Organisation gesucht wird (dies kann Personen, die sich erstmalig ver-bandlich und/oder politisch engagieren, helfen, ihren Platz zu finden),179 die Betroffenen bei ihren Tätigkeiten unterstützt werden, auf ein freundschaftliches Klima geachtet wird, Zeit und Raum für Diskussionen geschaffen werden und persönliche Erfahrungen ausreichend berück-sichtigt und anerkannt werden.

- Neutralisierung von Ungleichheiten und Machtverhältnissen in der Funktionsweise von Organi-sationen soweit möglich zum Beispiel durch folgende Massnahmen:180

Einsatz von horizontalen Organisationsformen (zum Beispiel Verzicht auf Aufgabendele-gation), die nicht institutionalisiert werden, sondern möglichst informell bleiben sollen

Einsatz von horizontalen Kommunikationsformen, bei denen alle auf Augenhöhe kommu-nizieren und Entscheidungen im Konsens getroffen werden, so dass alle Beteiligten ihre Meinung äussern können und merken, dass diese von der Organisation berücksichtigt wird.

- Förderung von flexiblen Formen des Engagements, da ein konstantes Engagement oftmals schwierig aufrechtzuerhalten ist (die Möglichkeit vorsehen, aus- und wieder einzusteigen)