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Organisationale Handlungsansätze und individuelle Strategien zur Optimierung

Im Dokument Pfl ege-Report 2019 (Seite 121-131)

8.2 Barrieren der betrieblichen Gesundheitsförderung im Pflege- und

8.2.3 Organisationale Handlungsansätze und individuelle Strategien zur Optimierung

8.3 Fazit 120 Literatur 121

© Der/die Autor(en) 2020

K. Jacobs et al. (Hrsg.),Pflege-Report 2019,https://doi.org/10.1007/978-3-662-58935-9_8

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2Zusammenfassung

Trotz guter Konzepte und Handlungsempfeh-lungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) geht deren Umsetzung in Krankenhäu-sern sowie in ambulanten und stationären Pfle-geeinrichtungen nur sehr schleppend voran. Das Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (iso) e. V. in Saarbrücken hat in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungs-projekt nach hemmenden und fördernden Fakto-ren für die Umsetzung von BGF gesucht. Vor al-lem die angespannte Arbeitsmarktsituation und die Notwendigkeiten, die aus sozialpolitischem Versorgungsauftrag und aus der Fürsorgebezie-hung in der Pflege resultieren, erweisen sich als Hemmschuh für wirksame Entlastungsstrategi-en in der Branche. Für Führungskräfte in der Pflege ist es eine besondere Herausforderung, betriebliche Gesundheitsförderung überzeugend und glaubwürdig umzusetzen.

Despite good concepts and recommendations for action on workplace health promotion, their im-plementation in hospitals, long-term and home care facilities is progressing very slowly. The In-stitute for Social Research and Social Economy (iso) in Saarbrücken has searched for inhibiting and promoting factors for the implementation of workplace health promotion in a research project funded by the Hans Böckler Foundation. Above all, the tense situation on the labour market and the necessities resulting from the socio-political supply mandate as well as from the care rela-tionship in the nursing sector are proving to be obstacles to effective relief strategies in the sec-tor. It is a particular challenge for managers in nursing care to implement workplace health pro-motion convincingly and credibly.

8.1 Einleitung

Seit mittlerweile rund zwei Jahrzehnten wird in Wissenschaft und Politik über den Stellen-wert von Strategien zur betrieblichen Gesund-heitsförderung und zum Gesundheitsmanage-ment diskutiert. Dennoch werden diese

Ansät-ze in den verschiedenen Wirtschaftsbranchen sehr unterschiedlich umgesetzt. So ist der Ge-sundheitssektor durch hohe Arbeitsbelastun-gen und zunehmenden Fachkräftemangel ge-prägt. Die krankheitsbedingten Fehlzeiten lie-gen im Branchenvergleich erheblich über dem Durchschnitt. Insbesondere die Krankschrei-bungen wegen psychischer Beschwerden sind im Gesundheits- und Sozialwesen seit dem Jahr 2000 um rund 50 % angestiegen (Badura et al.

2015). Rund drei Viertel der Gesundheits- und Krankenpflegenden sowie der Altenpflegenden gehen davon aus, dass sie unter den jetzigen Bedingungen ihren Beruf nicht ohne gesund-heitliche Einschränkungen bis zur Rente aus-üben können (Institut DGB-Index Gute Ar-beit und ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerk-schaft 2018). Außerdem werden Anstrengun-gen zur betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) weitaus häufiger in großen Betrieben als in kleinen und mittelständischen Unterneh-men unternomUnterneh-men (Beck und Lenhardt2016);

der Gesundheits- und Pflegesektor hinkt zu-dem der Industrie deutlich hinterher.

Bereits vor mehr als 30 Jahren begannen erste Unternehmen mit der Entwicklung von Konzepten der betrieblichen Gesundheitsför-derung (BGF) (Kuhn2017). Die BGF wurde im Jahr 2015 im Gesetz zur Stärkung der Gesund-heitsförderung und der Prävention (PrävG) im Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) als Kran-kenversicherungsleistung verankert (Bundes-gesetzblatt 2015). Im Jahr 2018 wurden mit dem Pflegepersonalstärkungsgesetz zudem die Präventionsleistungen nach § 20 SGB V spezi-ell für die Beschäftigten des Gesundheitssektors erhöht.

Prävention ist ein zentraler Bestandteil der Gesundheitsförderung. Eine wichtige Grund-lage dafür ist das Modell der Salutogenese des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1997), das primär auf die Entstehung von Gesund-heit abhebt und im Zusammenhang mit BGF eine gesundheitsfördernde Gestaltung der Ar-beit in den Fokus rückt. Der Begriff der Ge-sundheitsförderung wurde erstmals in der Ot-tawa Charta von der WHO (1986) definiert.

Die WHO rief die Industriestaaten dazu auf,

8.1Einleitung

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die Gesundheitsförderung auch in Unterneh-men umzusetzen (Kuhn 2017). Eine weitere Stärkung der BGF wurde Jahre später mit der Luxemburger Deklaration (2007) durch die Eu-ropäische Kommission angestrebt. Dort wird hervorgehoben, dass BGF sowohl verhalten-spräventive, also auf das Gesundheitsverhal-ten der Mitarbeiter bezogene, als auch verhält-nispräventive, auf die Gestaltung der Arbeits-bedingungen bezogene Aspekte zu berücksich-tigen hat. Nachhaltige Effekte seien nur in ei-ner Kombination folgender Elemente zu erzie-len:

4 „Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen“

4 „Förderung einer aktiven Mitarbeiterbetei-ligung“

4 „Stärkung persönlicher Kompetenzen“ (Eu-ropean Network For Workplace Health Pro-motion2007)

Es handelt sich um ein Konzept, das alle Ebe-nen im Betrieb umfasst und als Faktoren für ein Gelingen „Projektmanagement, Ganzheit-lichkeit, Partizipation und Integration“ benennt (Faller2017, S. 27). Der Fokus der BGF wur-de auf die gesundheitsförwur-derliche Gestaltung der Arbeit und erst nachgeordnet auf gesund-heitsfördernde Verhaltensweisen gelegt (eben-da). Maßnahmen der BGF richten sich an in-terne und exin-terne Akteure und die Umset-zung beruht – im Unterschied zum Arbeits-schutz – auf der Freiwilligkeit des jeweiligen Betriebs.

In die professionelle Pflege fand der Be-griff der Gesundheitsförderung mit der Ein-führung der Berufsbezeichnung „Gesundheits-und Krankenpflege“ im Pflegeberufsgesetz seit 2003 einen tiefergehenden Eingang. Dadurch eröffneten sich neue Tätigkeitsfelder für die Pflegenden und es wurde deutlich, dass Prä-vention und Gesundheitsförderung in allen Phasen von Gesundheit und Krankheit wich-tig sind (Bartholomeyczik2006). Doch trotz der professionellen Verankerung und trotz be-reits vorliegender elaborierter Konzepte und Handlungsempfehlungen gelingt es in den Ein-richtungen der Gesundheitswirtschaft nur sehr

schleppend, mehr für die Gesunderhaltung der Beschäftigten zu tun. Die Ergebnisse einer bun-desweiten Befragung von Leitungskräften in teil- und vollstationären Pflegeeinrichtungen deuten auf mehrere Gründe hierfür hin. Ei-nerseits gaben nur 43 % der Befragten an, dass sie aus einem vielfältigen Angebot zur betrieb-lichen Gesundheitsförderung auswählen kön-nen. Andererseits bestätigten mehr als die Hälf-te der befragHälf-ten LeitungskräfHälf-te, dass die vor-gehaltenen Maßnahmen zur BGF von den Be-schäftigten entweder gar nicht oder in vielen Fällen vor allem von gesunden Mitarbeitenden in Anspruch genommen werden (Isfort et al.

2018).

Woran hapert es also mit der betriebli-chen Gesundheitsförderung im Gesundheits-wesen? An dieser Frage setzt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte und vom Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (iso) durchgeführte Studie an. Es geht um die Grün-de für UmsetzungsGrün-defizite und -erfolge von gesundheitsfördernden Maßnahmen in Kran-kenhäusern, ambulanten und stationären Pfle-geeinrichtungen. Folgende Forschungsfragen standen dabei im Mittelpunkt:

4 Welche Handlungsspielräume sehen die Akteure für die Umsetzung von Maßnah-men zur Gesundheitsförderung?

4 Welche förderlichen und hinderlichen Rah-menbedingungen lassen sich für solche Maßnahmen identifizieren?

4 Welche betrieblichen Strategien und Ak-teurskonstellationen haben die Umsetzung von Präventions- und Inklusionsstrategien vorangetrieben?

4 Wie sehen die Beschäftigten die Bedarfe und die Umsetzungsbedingungen für sol-che Maßnahmen?

Im Rahmen der Studie wurden in einer ers-ten Phase 14 Expertinnen und Experers-ten von Kostenträgern, Berufsgenossenschaften, Reha-bilitationsträgern, Arbeitsschutzbehörden, Ge-werkschaften und Berufsverbänden aus Pflege und Medizin befragt. Eine zweite Studienpha-se umfasste die standardisierte Befragung von 744 Beschäftigten und leitfadengestützte

Inter-8

views mit 55 Beschäftigten aus Kliniken sowie ambulanten und stationären Einrichtungen der Langzeitpflege1.

8.2 Barrieren der betrieblichen Gesundheitsförderung im Pflege- und

Gesundheitssektor

Die Barrieren für die Umsetzung von BGF lassen sich auf der Ebene der gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen, der be-trieblichen Prozesse und der Einstellungen der Fachkräfte beschreiben. Im Folgenden wird ei-ne Auswahl von Ergebnissen der Studie dar-gestellt. Dabei liegt der Fokus insbesondere darauf, Umsetzungsbarrieren zu veranschauli-chen sowie Handlungsansätze und Herausfor-derungen, die für Führungskräfte daraus resul-tieren, zu beschreiben.

1 In der standardisierten Befragung wurden die Teil-nehmenden neben der Angabe von soziodemogra-fischen Daten aufgefordert, eine Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands, ihre aktuelle Bewälti-gung von Belastung, ihre Erfahrungen mit Maßnah-men der betrieblichen Gesundheitsförderung und die eigene Inanspruchnahme von einrichtungsspe-zifischen Angeboten zu bewerten. Dazu wurde ei-ne vierstufige Likertskala mit den Antwortformaten von „trifft voll und ganz zu“ bis hin zu „trifft gar nicht zu“ vorgegeben. Der Rücklauf betrug 38 % und der Altersdurchschnitt der antwortenden Per-sonen lag bei 46,5 Jahren. 565 (76 %) der Befrag-ten waren weiblichen Geschlechts. Die Auswahl der 55 Beschäftigten zur Durchführung der leitfadenge-stützten Interviews fand in enger Abstimmung mit den Einrichtungsleitungen statt. Hierfür wurden pro Einrichtung fünf bis sieben Fach- und Führungskräf-te aus den Bereichen der Geschäftsführung, dem Betriebsrat/der Mitarbeitervertretung, der Pflegedi-rektion und der operativen Pflege, der Betreuung und der Hauswirtschaft und dem Bereich der BGF und dem Arbeitsschutz kontaktiert. In den Inter-views wurden Themen des betrieblichen Gesund-heitsmanagements, der betrieblichen Gesundheits-förderung und des Arbeitsschutzes in den Blick ge-nommen. Die Studie wurde von September 2016 bis März 2019 durchgeführt.

8.2.1 Einfluss

der Arbeitsmarktsituation auf die betriebliche

Belastungsregulierung

Strategien zur betrieblichen Gesundheitsförde-rung richten sich naturgemäß primär an der

„Arena“ der betrieblichen Organisation aus.

Sie beziehen sich mit ihren Prozessen und Maßnahmen sowie mit den eingesetzten Res-sourcen in der Regel auf die jeweils örtliche Organisation, also den „Betrieb“, in dem die Dienstleistungen tatsächlich erbracht werden.

Damit Gesundheitsstrategien wirksam werden können, müssen sie einerseits an die subjekti-ven Dispositionen und Motivationen der Be-schäftigten anschließen können. Andererseits sind sie durch die betrieblichen Gegebenheiten wie auch durch übergeordnete Rahmenbedin-gungen definiert. Im Gesundheitswesen zählen hierzu an erster Stelle die finanziellen Ressour-cen für das Personal, die im Krankenhaus, in der stationären und ambulanten Pflege auf un-terschiedlichen Wegen organisiert werden.

Seit langer Zeit wird die strukturelle Un-terfinanzierung der Pflege berufspolitisch und gesellschaftlich diskutiert. Die häufig enge Per-sonalausstattung gilt für alle Felder, in denen Pflegekräfte beschäftigt sind. In der aktuellen Arbeitsmarktsituation tritt jedoch ein ande-rer Aspekt in den Vordergrund: Die tatsächli-cheVerfügbarkeitvon Personal. Der ausgepräg-te Mangel an Arbeitskräfausgepräg-ten unausgepräg-terschiedlicher Qualifikationsstufen wird in den Unterneh-men in allen drei betrachteten Sektoren als das größte Problem dargestellt. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für die Rekrutierungs-anstrengungen des Managements in Diensten, Heimen und Kliniken. Der Arbeitsmarkt er-weist sich als eine ebenso wichtige Rahmen-bedingung für die Umsetzung von Gesund-heitsstrategien wie die differierenden Finanzie-rungsmöglichkeiten in den einzelnen Sektoren.

Im Alltag der Unternehmen zeigt sich dies daran, dass Gesundheits- und Pflegedienstleis-ter sich gezwungen sehen, die Arbeitskraft ih-rer Beschäftigten deutlich über das vertraglich

8.2Barrieren der betrieblichen Gesundheitsförderung

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vereinbarte Maß zu beanspruchen. Permanente Mehrarbeit wird zunehmend zur Alltagsrea-lität. So hat der Anteil der Überstunden im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, der Erziehung und des Gesundheitswesens 2017 einen Höchststand erreicht (Deutscher Bun-destag2018). Für die Beschäftigten in der Pfle-ge stellt die Instabilität von Erholungszeiten, also der Druck, aus dem Dienstfrei für er-krankte Kolleginnen und Kollegen einzusprin-gen, mittlerweile eine der größten Belastungen dar. Zum anderen ist die Arbeitsmarktsituati-on geeignet, bereits bestehende Mechanismen zur Belastungsregulierung im Betrieb auszuhe-beln. Dies zeigt sich praktisch am Beispiel so genannter „Ampelkonten“. Diese Zeitkonten-systeme verbinden die Arbeitszeiterfassung mit der Vorgabe, dass der Betrieb bei Überschrei-ten bestimmter Arbeitszeitguthaben in der Be-legschaft zusätzliches Personal einstellen muss.

Solche organisatorischen Regeln greifen immer weniger: Weil schlichtweg kein Personal mehr gefunden wird, können die Beschäftigten nicht auf ihre Zeitguthaben zugreifen und Freizeit entnehmen. Durch die allgegenwärtige Mehr-arbeit laufen Zeitkonten – soweit vorhanden – weiter voll oder Überstunden verfallen im un-günstigen Fall ungeregelt.

De facto können die Einrichtungen ange-sichts der Arbeitsmarktsituation ihren Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern kaum noch über-zeugende Angebote machen, um die Personal-knappheit und damit die Arbeitszeitbelastung zu verringern. Dies hat auch Folgen für verhal-tenspräventive und gesundheitsunterstützende Angebote der betrieblichen Gesundheitsförde-rung: Zum einen verfügen die Beschäftigten durch die Mehrarbeitsbelastung nur über ein-geschränkte Zeitressourcen, um solche Aktivi-täten überhaupt wahrnehmen zu können. Zum anderen leidet die Glaubwürdigkeit der BGF-Angebote. Aus Sicht vieler Pflegekräfte ist es nicht konsistent oder „ehrlich gemeint“, wenn der Arbeitgeber Anti-Stress-Maßnahmen oder Offerten zur gesunden Ernährung darbietet, zugleich aber nicht in der Lage ist, die Belas-tungsschraube im Arbeitsalltag zurückzudre-hen. Unter diesen Vorzeichen drohen auch gut

gemeinte Ansätze in der betrieblichen Gesund-heitsförderung als symbolische Aktionen dis-kreditiert zu werden.

Die Führungskräfte auf der „mittleren“

Ebene, also Stations-, Wohnbereichs- oder Pfle-gedienstleitungen, stehen vor der paradoxen Si-tuation, zum einen im Alltagsgeschäft widrige Bedingungen und hohe Belastungen organisie-ren zu müssen und andererseits die Beschäftig-ten zur regelmäßigen Nutzung von Hilfsmitteln oder zur Teilnahme an Maßnahmen der Ge-sundheitsförderung anzuhalten. Diese Wider-sprüchlichkeit kann zu Rolleninkonsistenzen und zu Akzeptanzverlusten in der Belegschaft führen.

8.2.2 Erfüllen

des Versorgungsauftrags unter den Bedingungen von Personalknappheit Die pflegerische Versorgung von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen aller Altersstu-fen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (GKV-Spitzenverband 2015). Für die Zulas-sung zur pflegerischen Leistungserbringung müssen ambulante und stationäre Pflegeein-richtungen nach § 72 SGB XI bestimmte Kri-terien erfüllen, um einen Versorgungvertrag mit den Kostenträgern abschließen zu können.

Sie sind dabei im Rahmen ihres Versorgungs-auftrags zur pflegerischen Versorgung der Ver-sicherten verpflichtet. Analog dazu sind nach

§ 109 SGB V zugelassene Krankenhäuser im Rahmen ihres Versorgungsauftrags zur Kran-kenhausbehandlung der Versicherten aufgefor-dert. Insofern stehen Pflegeeinrichtungen und Kliniken in besonderer vertraglicher Verant-wortung, die Erfüllung des Versorgungsauf-trags sicherzustellen. Hierdurch sind die An-bieter von Pflegeleistungen nicht so frei wie Unternehmen in anderen Branchen, Anfragen von Hilfebedürftigen aus Kapazitätsgründen schlichtweg abzulehnen.

Vor diesem gesellschaftlich und sozialrecht-lich gesetzten Kontext bewegen sich die

Leis-8

tungsanbieter darüber hinaus in einem seit Jahren expandierenden Markt. Während die Nachfrage nach Pflege- und Unterstützungs-leistungen kontinuierlich ansteigt, wird es an-gesichts der knappen personellen Ressourcen zunehmend schwieriger, den Versorgungsauf-trag zuverlässig zu erfüllen. Erschwerend kom-men die grundlegenden Bedingungen hinzu, unter denen personenbezogene Dienstleistun-gen erbracht werden: Sie können nicht im Vo-raus erstellt oder gelagert werden und deren Er-bringung und Konsumption finden meist zeit-gleich statt – Pflegedienstleister müssen also genau dann vor Ort verfügbar sein, wenn die Hilfeleistung benötigt wird. Vor diesem Hinter-grund hat das kurzfristige Funktionieren der je-weiligen Einrichtung für die verantwortlichen Leitungskräfte immer Priorität. Das Ziel der Erfüllung des Versorgungsauftrags besitzt ei-ne strukturelle Dominanz gegenüber langfris-tig angelegten anderen Zielen, etwa dem Erhalt der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Be-schäftigten.

Doch auch auf der individuellen Ebene schildern Pflegekräfte ein Spannungsverhält-nis zwischen ihren individuellen Ressourcen, dem Arbeitgeber bzw. den Kollegen und den Pflegebedürftigen. Sie können sich dem Fürsor-gebedarf des pflegebedürftigen Menschen, der sich aus seiner Abhängigkeit von fremder Hil-fe ergibt, kaum entziehen. Den Pflegenden sind die Risiken und unerwünschten Folgen sehr genau bewusst, die entstehen, wenn ein pfle-gerischer Versorgungsbedarf nicht abgedeckt wird. Pflegende verfügen meist über eine hohe intrinsische Motivation und über ein empa-thisches professionelles Selbstverständnis. An-ders als im Krankenhausbereich begleiten sie in der Langzeitpflege die hilfebedürftigen Men-schen über einen langen Zeitraum und entwi-ckeln intensive professionelle Beziehungen zu den Pflegebedürftigen. Ihr Berufsethos und ihr Verständnis von Fürsorge und Pflege als Be-ziehungsarbeit stürzt sie aufgrund der realen Personalsituation in ein schwieriges Dilemma.

Einem Menschen auch in einer hohen Belas-tungssituation Hilfe und Pflege zu verweigern, stellt für die Befragten zunächst keine Option

dar. Die meisten befragten Pflegekräfte äußern, im Interesse des pflegebedürftigen Menschen regelmäßig über ihre zeitlichen und körperli-chen Grenzen hinweg zu gehen. Gesundheits-fördernde Maßnahmen werden unter den be-schriebenen Arbeitsbedingungen eher als zu-sätzliche Belastung und nicht als Option zur Stärkung der eigenen Gesundheit empfunden.

Die Abgrenzung gegenüber den Anforderun-gen und die Achtsamkeit geAnforderun-genüber der ei-genen Person werden dadurch erschwert. Der Konflikt um die Dosierung des eigenen Ar-beitskrafteinsatzes ist systematisch in der Sor-gearbeit angelegt und wird durch den Personal-mangel dramatisch verschärft.

Trotz der Limitierungen des Arbeitsmarktes und trotz der Anforderungen, die sich aus der besonderen Versorgungs- und Fürsorgesi-tuation in Medizin und Pflege ergeben, hatte das Thema Mitarbeitergesundheit einen hohen Stellenwert bei den befragten Führungskräften.

Die Sensibilität für Gesundheitsthemen war ge-tragen durch das Interesse, krankheitsbeding-te Ausfälle der kostbaren Arbeitskraftressour-cen zu begrenzen. Zudem sind angesichts der knappen Personaldecke Ausfälle kaum von der anwesenden Belegschaft zu puffern und füh-ren zu einem aufwändigen Krisenmanagement, um Springer-, Aushilfs- oder Leiharbeitskräfte zu organisieren, damit die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Organisationseinheit sicherge-stellt bleibt.

Doch in einer paradoxen Weise könnte der belastende Personalmangel möglicherweise auch zu einem Motor für die Entwicklung in-novativer Strategien der Gesundheitsförderung werden. Denn eine Reihe von Leitungskräften formulierte die Anforderung, dass die Unter-nehmen sich im Wettbewerb um die knappen

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Fachkräfte als attraktive Arbeitgeber behaupten müssen. Hierfür spielt das Thema Mitarbeiter-gesundheit und Arbeitszufriedenheit eine be-deutsame Rolle. Zumeist wurde dabei der Zu-sammenhang von Motivation, Wertschätzung und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten be-tont und darauf verwiesen, dass Pflegekräften die Arbeitsbedingungen und die Möglichkeit,

„gute Arbeit“ für ihre Klienten und Patienten leisten zu können, häufig wichtiger sei als die Höhe des Gehalts. Damit rücken die qualita-tiven Aspekte der Arbeit, unter anderem auch BGF, für das Personalmanagement stärker in den Vordergrund. Auf den Webseiten vieler Organisationen wird mittlerweile mit Gesund-heitsangeboten oder Maßnahmen zur Verein-barkeit von Familie und Beruf geworben.

Wie die Studie gezeigt hat, weisen die be-trieblichen Maßnahmen in ihrem Anspruch und in ihrer Reichweite eine große Varianz auf: Auf der einen Seite stehen eher symboli-sche Aktivitäten, mit denen das Unternehmen auf das Thema Gesundheit aufmerksam ma-chen möchte, beispielsweise frische Äpfel an den Arbeitsplätzen, Smoothies für die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter oder gelegentliche Freistellungsangebote für die Teilnahme an ei-nem Firmen- oder Stadtlauf im regionalen Um-feld. Weiter gehen solche Unternehmen, die ihren Beschäftigten regelmäßige verhaltensprä-ventive Angebote zur Verfügung stellen, z. B.

Rückenschule, Massagen, Nutzung von Fitness-Studios, betriebliche Sportgruppen etc. In den meisten Fällen finden diese Angebote außer-halb der Arbeitszeit statt. Bei manchen der größeren Organisationen wurden zudem um-fassendere Supportstrukturen geschaffen, um den Erhalt der Arbeitsfähigkeit zu stützen, etwa Hilfe durch Möglichkeiten der Kinderbetreu-ung oder durch Angebote zur BeratKinderbetreu-ung in psy-chosozialen Krisensituationen.

Einige der Anstrengungen richten sich da-rauf, im Rahmen der Arbeitsorganisation und -teilung Entlastungen zu schaffen. Dazu ge-hören z. B. Versuche, Betreuungskräfte mit pflegerischen Grundqualifikationen auszustat-ten, damit sie in der Lage sind, mit be-stimmten Klienten Toilettengänge

durchzufüh-ren oder Essen anzureichen. Doch hier set-zen enge Verantwortungs- und Haftungsrege-lungen Grenzen für eine wirksame Entlastung der Pflegekräfte. Andere Modelle zielen auf ei-ne Balancierung von Belastungen durch eiei-nen Arbeitszeitausgleich ab. Ein Beispiel dafür ist

durchzufüh-ren oder Essen anzureichen. Doch hier set-zen enge Verantwortungs- und Haftungsrege-lungen Grenzen für eine wirksame Entlastung der Pflegekräfte. Andere Modelle zielen auf ei-ne Balancierung von Belastungen durch eiei-nen Arbeitszeitausgleich ab. Ein Beispiel dafür ist

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